Revolution der Freaks

9. Dezember 2023. Kasimir und Karoline im Partyrausch: Ödön von Horváths Klassiker wird in Hannover zur Musical-Glam-Rock-Oper über den kaputten Zustand der Welt. Ein Abend, der schlau unterhält – inklusive Griff in die Trickkiste des epischen Theaters.

Von Jan Fischer

"Kasimir und Karoline" in der Regie von Martin G. Berger an der Staatsoper Hannover © Tim Müller

9. Dezember 2023. Nachts, wenn die Beats der Elektro-Paläste glänzende Fluchtpunkt aus dem Alltag bilden, leuchten die Menschen heller, mit all ihren Fehlern und all ihren guten Seiten. So ist es auch in Ödon von Horvaths "Kasimir und Karoline", das eigentlich auf dem Münchner Oktoberfest irgendwann Anfang der 1930er Jahre spielt, vom Autor allerdings mit der Regieanweisung versehen wurde, dass es "in unserer Zeit" spiele. 

In einer weggedrogten Disconacht

An der Staatsoper Hannover versteht Regisseur Martin G. Berger "unsere Zeit" als eine versoffene und weggedrogte Disconacht der Gegenwart, an deren Anfang sich Kasimir und Karoline trennen, nachdem Kasimir (Dejan Bućin) seinen Job in der Autowerkstatt verloren hat und ihm, dem Geflüchteten, wegen seiner Arbeitslosigkeit auch die Abschiebung droht. Die beiden lassen sich durch die Clubs treiben: Die Friseurin Karoline (Sophia Euskirchen) trifft in vollem Adidas-Ornat auf den Studenten Eugen (Philipp Kapeller), mit dem sie sich eine bessere Zukunft erhofft, später dann auf den Universitätsdekan Speer (Daniel Eggert) und den reichen Geschäftsmann Rauch (Frank Schneiders), der ihr eine noch bessere Zukunft bietet. Kasimir wiederum lässt sich mit dem Kleinkriminellen Franz (Yannick Spanier) ein, der am Ende erschossen wird. Die beiden treffen sich auf ihren Abenteuern immer wieder flüchtig: Aber Kasimir und Karoline schaffen es trotz ihrer Liebe zueinander nicht, sich zu versöhnen.

Ein Autoscooter aus dem Bühnenhimmel

Berger inszeniert von Horvaths "Volksstück" als buntes Musicalspektakel mit Musik von Jherek Bischoff. Durch die Geschichte führt als burlesque Conférencière Drew Sarich als Juanita, die sich, mal knapp bekleidet mit pinkem Cowboyhut, mal in glänzendem Hosenanzug, als singende Erklärbärin betätigt, teilweise mit Gitarre im Anschlag. Die Bühne von Sarah-Katharina Karl dreht sich dazu: Ein großes Haus, außen mit Glühbirnen bestückt, steht auf der Drehbühne, zunächst geschlossen, später klappt es auch auf, und irgendwann fährt auch ein Autoscooter aus dem Bühnenhimmel, mit dem Rauch und Karoline in den nächsten Club abdampfen wollen. Kurz gesagt also: "Kasimir und Karoline" ist ein quietschbuntes, trashiges, queeres und campy Spektakel, bevölkert von, wie Juanita sie liebevoll nennt, "Freaks", in dem ständig die nächste Ohrwurmmelodie ums Ecke kommt.

KASIMIR UND KAROLINE 2 C Tim MuellerEin großes, campy Spektakel: Das Ensemble im Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl © Tim Müller

Aber dieses bunte, überbordend-plakative Musicalpathos geht es hier eigentlich nicht. Selbstverständlich, das macht viel Spaß, beispielsweise ist Eugens Song in der Exposition ein Feuerwerk clever-kaputter Reime. Es geht aber um mehr: Denn Stück für Stück schält sich heraus, dass auch die Nacht mit ihren Beats kein Safe Space ist, egal, wie sehr man sich das wünscht: Wer reich ist, hat die Macht, wer arm ist, hat sie nicht; wer eine Frau ist, klemmt sich – wie Karoline – an einen Mann, um es irgendwann mal besser zu haben; wem es schlecht geht, der wird – wie Kasimir – kriminell. Die toxische Gesellschaft des Tages kriecht auch in die Nacht, die eigentlich zum Vergnügen da sein sollte. "An sowas zerbricht man halt dann", kommentiert Juanita gegen Ende, und ja: An sowas zerbrechen Kasimir und Karoline. Nicht an fehlender Liebe, sondern an den Hindernissen, die diese toxische Gesellschaft ihnen in den Weg wirft. Versöhnlich wird es dann aber doch noch: Franz' Freundin Erna (Ketevan Chuntishvili) darf am Ende von der Revolution singen, und all die "Freaks" stehen im Chor hinter ihr.

Nur der Schein ist leicht

"Kasimir und Karoline" ist auf jeder Ebene eine wirklich clevere Inszenierung: Unterhaltend, vorausgesetzt, man mag Musicals, aber durch die Hintertür eben auch eine herbe Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, die es sogar schaffen, eine Liebe zu zerstören. Gleichzeitig geht die Musik – mal sehr beatlastig mit Streichersatz, mal schlicht Gitarre, mal pumpende Bläser – sofort ins Ohr. Dann wiederum sind die Songs – textlich nur teilweise bei von Horvarth entlehnt – oft spannende Reim- und Sprachrhythmuswerke, die sich motivisch immer wieder fortsetzen. Das alles fließt zu einem fluffigen Abend zusammen, dem man seine über zweieinhalb Stunden nicht anmerkt – der aber durchaus, auch mit Griff in die Trickkiste des epischen Theaters, etwas zu sagen hat. Beispielsweise wenn Caroline davon singt, dass es mehr Vorstände mit dem Namen Christian gäbe als Frauen in Vorständen, wenn Juanita von ihrer Transformation von Johannes zu Juanita singt, oder wenn Kasimir von seiner Flucht erzählt. Martin G. Berger schafft mit "Kasimir und Karoline" ein stil- und handwerksicheres Stück wuchtiger Unterhaltung, das nur zum Schein ganz leicht und bunt daherkommt.

 

Kasimir und Karoline
nach Ödön von Horvath
Regie: Martin G. Berger, Text: Martin G. Berger und Martin Mutschler, Musik: Jherek Bischoff, Musikalische Leitung: Maxim Böckelmann Bühne: Sarah-Katharina Karl Kostüme: Esther Bialas, Licht: Fabian Grohmann, Live-Video: Anna-Sophia Leist, Ton: Christoph Schütz, Chor: Lorenzo Da Rio, Dramaturgie: Daniel Menne / Martin Mutschler, XChange: Kirsten Corbett.
Mit: Drew Sarich, Dejan Bućin, Sophia Euskirchen, Philipp Kapeller, Ketevan Chuntishvili, Yannick Spanier, Frank Schneiders, Daniel Eggert, Barbara Carta, Başak Ceber, Tamar Sharon Hufschmidt, Clarissa Reif, Chor der Staatsoper Hannover, Statisterie der Staatsoper Hannover, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover.
Premiere am 8. Dezember 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

"Es gibt einige Songs mit Hitpotenzial und vor allem sehr starke Ensembleszenen mit Chor: Allein die erste Viertelstunde lohnt unbedingt den Besuch. Manchmal läuft die Musik allerdings auch etwas lustlos ins Leere. Die Gesamtdramaturgie des gut zweieinhalbstündigen Abends erscheint so noch etwas beliebig", schreibt Stefan Arnd von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (11.12.2023). Die Figuren seien oft nur Zuschauer:innen in ihren eigenen Leben. "Vielleicht kommen sie einem deswegen besonders nah."

 

Kommentar schreiben