Abschlussball - Brecht-Schüler Achim Freyer verbreitet zum Auftakt der finalen Spielzeit von Intendant Claus Peymann am Berliner Ensemble Weltenendstimmung
Als ob der liebe Gott gestorben wäre
von Esther Slevogt
Berlin, 15. September 2016. Einmal, da kommt in diesem endlosen Totentanz der Überkostümierten die Schauspielerin Ursula Höpfner-Tabori in einem Monstrum von weißem Tüllkleid auf die Bühne, aus dem gerade mal ihr Kopf herausguckt: "Es ist ein Weinen in der Welt / Als ob der liebe Gott gestorben wäre", deklamiert sie mit gramverzerrter Mine und hohem Tragödienton Else Lasker-Schülers berühmtes Gedicht "Weltende". Da hat man schon eine Weile diesem Defilee der Toten zugeschaut, Prozessionen von Zombies aus dem Avantgardemuseum des 20. Jahrhunderts, von denen man gelegentlich befürchten musste, dass sie in Wirklichkeit niemals lebten.
Lamento bei bester Gesundheit
Es ist die erste große Premiere der letzten Peymann-Spielzeit am Berliner Ensemble und mit dem 1934 geborenen Maler, Bühnenbildner und Regisseur Achim Freyer wurde zünftig zum Abschied noch mal ein veritabler Meisterschüler Bertolt Brechts an den Start geschickt. Als hätte Claus Peymann hier jemals wirklich Brechts Erbe verwaltet und nicht immer nur sein eigenes. "Abschlussball" hat Freyer sein Unternehmen überschrieben, "ein Lamento in Bildern". Und lamentiert wird dann einigermaßen ausdauernd.
Dabei ist Gott noch gar nicht tot. Im Gegenteil, vor der Premiere konnte man Claus Peymann auf dem Hof des BE noch bei bester Gesundheit erleben. Aber auf der Bühne wurde dann das Ende seiner Intendanz beschworen, als jagten bereits die apokalyptischen Reiter durch Berlin. Es fehlte eigentlich nur, dass auf einem weißen Pferd einmal Tim Renner über die Bühne geritten wäre.
Dort wimmelt es vor grotesk kostümierten Figuren aus dem Achim-Freyer-Museum: mal tragen sie Tiermasken, mal Riesenköpfe aus Pappmaschee. Sie haben schlabbernde Gummibrüste oder überdimensionierte Penisse. Sie treten auf, kommen kurz an die Rampe, sagen einen Satzfetzen aus irgendeinem berühmten Text, in dem möglichst viel Tod und Unglück vorkommt und treten wieder ab. In regelmäßigen Abständen sinkt die Dutzendschaft der Untoten aus der Theatergeschichte dann kollektiv sterbend danieder. Eine große Glasschreibe über der Bühne verdoppelt das Elend in seiner Spiegelung. In einer Loge macht ein unheimlicher Clown seine Faxen. Zwei tüllgewandete kleine Mädchen rufen mit ihren Kinderstimmen immer mal wieder: "Das Spiel beginnt!" Aber dann beginnt eigentlich nichts. Alles ist immer schon zu Ende.
Unter Apokalyptikern
Die verwendeten Texte stammen vom biblischen Apokalyptiker Johannes über Jean Paul ("Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei") bis zu Heiner Müller, dessen "Engel der Verzweiflung" einmal als etwas lachhaft zerzauste Figur über die Bühne geschickt wird. Mörderische Frauenfiguren von Medea bis Pentesilea geben mit großer theatralischer Geste kurz ihr Verzweiflungspotenzial zum Besten.
Auch Ödipus sticht sich in diesem wirren Bilderreigen kurz die Augen aus und zieht lange rote Stoffwürste (or whatever) aus den blutenden Augenhöhlen hervor. Manchmal schrillt auch eine Sopranistin (Esther Lee-Freyer) kurz durch die Szene. Die italienische Komponistin Lucia Ronchetti hat alles mit einem avantgardistisch-dräuenden Sound unterlegt, der kräftig in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts wildert. Man schaut und guckt auf diesem Abend, der mit so großer Geste antritt und dann sehr schnell an der Rampe verpufft.
Abschlussball. Ein Lamento in Bildern
von Achim Freyer
Regie, Bühne, Kostüme, Licht- und Videokonzept: Achim Freyer, Musikalische Komposition: Lucia Ronchetti, Licht: Ulrich Eh, Video: Jakob Klaffs, Hugo Reis, Mitarbeit Regie: Sebastian Sommer.
Mit: Anke Engelsmann, Manuela Gutsmann, Ursula Höpfner-Tabori, Boris Jacoby, Claudia Lahmann, Esther Lee-Freyer, Peter Luppa, Uli Pleßmann, Hugo Reis, Celina Rongen, Norbertt Stöß, Felix Strobel, Fabian Stromberger, Jörg Thieme, Emilia Nietiedt, Lotta Rosa Hegenscheidt.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Mehr über Achim Freyer am Berliner Ensemble? Zuletzt verantwortete der Künstler dort das Bühnenbild von Leander Haußmanns Inszenierung Die Räuber von Friedrich Schiller.
"Kein Glanzlicht zur Eröffnung der letzten BE-Spielzeit unter Intendant Claus Peymann. Nicht mal eine Petitesse. Nichts." So urteilt Peter Claus für Deutschlandradio Kultur (16.9.2016) über diesen "zwischen Kitsch und Kunstgewerbe wabernden Abend".
Am "Berliner Ensemble ist nicht mal der Abglanz eines Zaubers zu sehen. Das mal schwülstige, mal klamaukige, total überfrachtete Lamento in Bildern ermüdet schon nach wenigen der insgesamt 90 Minuten.“ So sagt es Ute Büsing im Inforadio des rbb (16.9.2016).
"Egal, egal“, das ist das Leitmotiv der Besprechung von Peter von Becker im Tagesspiegel (17.9.2016). "Unentwegt wird in wechselnden Satzfetzen und einem sanft elegisch sein wollenden, aber nuancenfreien, bedeutungsvoll säuselnden Dauerton irgendwas und irgendwer zitiert: Homer und Humbug (...)." Weder eine "Groteske", noch eine "wahre Elegie" hat der Kritiker erlebt, nur einen "Ball", der "einer bleischweren Seifenblase gleich".
"An diesem Abend hingegen rührt sich nichts, wird niemand berührt: ein Mummenschanz der toten Theaterzeichen. Traurig.“ So schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung – online auch in der Frankfurter Rundschau (17.9.2016).
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.9.2016) lobt Irene Bazinger einen Abend, der "mit altmeisterlicher Grandezza" gefertigt sei: "Alles ist hier aus den Fugen, sieht dabei freilich auf trügerische Weise meist zirzensisch hübsch und artistisch geglückt aus. Es ist hochkomplexer, raffiniert komponierter Theatertand, den Achim Freyer zu einer abstrakten, abgründig schillernden Collage verdichtet hat, die sich auf keinerlei Gewissheiten verlassen will und nur aus Assoziationen und Ahnungen gewoben ist. Nach den mythologischen Anspielungen und den frei flottierenden Bildern rücken Bezüge zur Gegenwart in den Vordergrund."
Peter Kümmel von der Zeit (22.9.2016) ahnt, dass die gesamte letzte Spielzeit des Intendanten Peymann, Spielzeit im Zeichen des traurigen, aber auch triumphal-sarkastischen Runterzählens stehen werde: "Seht her, all das haben wir geschaffen, all das kommt nicht wieder!" Die Aufführung gefalle sich so sehr in der "posthumanen Reibungslosigkeit ihrer Szenen", dass ihr im Sturz die Seele abhandenkomme. "Und der Geist leider auch."
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ich meinte das gar nicht so böse, wie Sie es offenbar verstanden haben. Außerdem finde ich nicht, dass sich Verwaltung und Pflege eines Erbes an der Zahl von Inszenierungen des betreffenden Autors ablesen lassen, sondern auch daran, wie es weiterentwickelt wird. Da hat zum Beispiel jemand wie René Polllesch sicher größere Meriten als Claus Peymann erworben. Auch ist ja grundsätzlich nichts verkehrt an Peymanns Erbe, das er am BE verwaltet hat. Dieses Erbe kann sich ja sehen lassen und viele, die jetzt noch über Peymann lästern, werden ihn bald vermissen.
Freundliche Grüsse
Esther Slevogt
Ach wenn es doch nur tatsächlich beginnen würde! Stattdessen schleppt sich der Abend 90 Minuten lang dahin.
Zwischen den Textschnipseln und Soundbites schleppt sich der Einheitsbrei zäh dahin. Die Wirkung des Lamentos verpufft zu früh, dahinter bleibt nur gähnende Leere.
Einer der wenigen Lichtblicke ist Felix Strobel, der mit seinen Ernst Busch-Kommilitonen in „Zwei Herren aus Verona“ im Pavillon brillierte. Er darf dem Abend in einigen Soli und im Kampf des Achill mit der Penthesilea einige Spurenelemente von Energie einhauchen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/16/abschlussball-achim-freyer-laeutet-das-ende-der-aera-claus-peymann-am-berliner-ensemble-ein/
Die Künstler müssen sich auch selbst feiern können, wenn es dem Publikum gefällt,gut - wenn nicht, auch gut!
Warum denn nicht?
Ich denke an Stan Tracey, den inzwischen verstorbenen "Godfather of British Jazz" - der hat sein Ding gemacht und dem Publikum immer nur sein Hinterteil gezeigt, das ging auch nicht anders, denn er war damit beschäftigt, seinen Musikern zu danken und sich vor diesen zu verbeugen.
Ja - so kann man eben auch denken - das Theater muss und sollte nicht nur von dem "erklärten Willen" des Publikums her gemacht werden.
Besonders leid tut es mir um die an sich so tollen BE-Schauspieler: Wie Puppen werden sie hier hin- und hergeschoben, ohne jede Individualität, ohne lebendiges Miteinander. Es wirkt, als ob Achim Freyer hier nicht "Schauspiel" inszeniert, sondern ein lebendes Bild bzw. Bilder auf die Bühne wirft. Angesichts ihrer prekären arbeitsrechtlichen Lage hätten sie in ihrer letzten Spielzeit mehr Empathie ihrer Herren verdient!
Der Kommentar von Ottomaxx vermischt unglücklich die arbeitsrechtliche mit der Seite des künstlerischen Anspruchs. Es ist nun einmal so, dass mitunter schlimme Ausgangslagen entweder gute oder weniger gute Kunst hervorbringen, einen direkten Zusammenhang gibt es nicht. Nun mögen einem prekär bezahlte Schauspieler leid tun - und die tun auch mir leid. Ich hätte auch gewollt, wie wären besser bezahlt. Dennoch: Mit dem Stück, damit ob es gefällt oder nicht gefällt, hat das Wohlbefinden der Macher nicht wirklich zu tun. Der Verbindung dieser beiden Aspekte passt nicht.
Kunst ist nie "sozialpolitisch sauber gewesen", sie entzieht sich solchen Kategorien. Arbeitsrechtliche Ansprüche sind völlig richtig und berechtigt- mit dem was Kunst letztlich zu sagen oder nicht zu sagen vermag, hat es aber nicht zu tun.
Die Verquickung macht keinen Sinn.