Theatertreffen, Mieten und Günther aus Hallealt

4. Mai 2012. Der Berliner Tagesspiegel widmet heute vier Seiten seines Kulturteils dem Theatertreffen; man merkt schon, woher das Festival stammt und wem es frommen sollte seinerzeit. Anyway.

Kommentar

Andreas Schäfer fragt in einem Kommentar: "Ist das klassische Regietheater, das die tausendste Interpretation eines klassischen Stückes versucht, noch zeitgemäß? Erfassen dokumentarische Stücke, von Regiekollektiven entwickelt, nicht viel mehr von der viel beschworenen Gegenwart? Andererseits: Sind diese Dokumentarabende dann noch das, was wir meinen, wenn wir von Theater sprechen?" Antworten weiß auch er keine. Das Programm werde "interdisziplinärer, internationaler (Autoren des Stückemarkts müssen nicht mehr Deutsch schreiben), vernetzter". Das Theatertreffen werde damit "selbstreflexiver", "insiderischer und, aus Versehen, elitärer". Weil die meisten Kollektiv-Abende nur "für ein kleines Publikum konzipiert" seien, gebe es so gut wie keine Karten auf dem Markt, finde also der "Anschluss an die Gegenwart" manchmal hinter "verschlossenen Türen" statt.

 

Interview mit Matthias Lilienthal

In einem langen Interview wird der Leiter des Berliner Hebbel am Ufer Matthias Lilienthal von Rüdiger Schaper und Patrick Wildermann als "einer der Sieger des Theatertreffens" vorgestellt. Die Konkurrenzlogik der Presse ist wirklich unerbittlich. Lilienthal gibt in Sachen Theatertreffen zu Protokoll: Durch die "Umstellung des Kartenbestellwesens aufs Internet" sei im vergangenen Jahr "die Hälfte des Publikums ausgetauscht" worden. Und die neue Leitung mit Festspiele-Intendant Thomas Oberender und Theatertreffen-Chefin Yvonne Büdenhölzer bringe eine "prinzipielle Offenheit gegenüber Formaten mit, die nicht aus dem Stadttheater stammen" mit. Eine Arbeit wie "Before your very eyes" von Gob Squad mit zwei Jahre langer Vorbereitung, der Arbeit mit Kindern und Laien, sei an einem Stadttheater eigentlich nicht vorstellbar, mindestens aber "immer etwas problematisch".

Lilienthal differenziert die These von Matthias Hartz, die freie Szene sei für 90 Prozent der Innovationen im deutschen Theater verantwortlich, so:" Die Nullerjahre im Theater waren in meinen Augen wesentlich von drei Regie-Positionen geprägt, Stefan Pucher, Nicolas Stemann und Rimini Protokoll. Wenn man Rimini Protokoll zum Großteil der freien Szene zurechnet, käme ihr ein Drittel der Bedeutung zu."

Grundsätzlich helfe die Anerkennung durch Einladungen zum Theatertreffen "auf kulturpolitischer Ebene" viel. Auch der Publikumszuspruch habe seit Bekanntwerden der Einladungen merklich zugenommen. Vielleicht, überlegt Lilienthal, bedeute die Einladung freier Arbeiten, die es ja schon früher gegeben habe, jetzt den Beginn einer Öffnung. Vielleicht bekämen die internationalen Produktionen über diese Aufwertung auch "bessere Produktionsmöglichkeiten", sprich mehr Geld.

Ohnehin habe sich der "Kunstbetrieb" wenigstens in Berlin, von wo noch immer "wesentliche Impulse für das deutschsprachige Theater" ausgingen, durch die Förderungen durch de Kulturstiftung des Bundes und den Hauptstadtkulturfonds "demokratisiert". Es gebe einen "Ideenwettbewerb", wenn auch bei fortgehender Unterfinanzierung der freien Szene.

Auf den Vorwurf, das HAU selbst sei ein neoliberales Modell mit wenig festen Jobs und Künstlern, die für ihre Gagen selbst verantwortlich sind, antwortet der Lilienthal: "Das Hebbel am Ufer ist ein neoliberales Modell, rein strukturell gesehen". Beantrage man 70.000 Euro beim Hauptstadtkulturfonds, bekomme man 50.000. Die Differenz werde durch die Senkung der Gagen ausgeglichen, wenn die Gruppe entscheide, die Produktion trotzdem zu realisieren. "Aber für mich war es erstmal wichtig, der Szene eine Bedeutung zu geben, bevor man Lobbyarbeit betreiben und andere finanzielle Wünsche äußern kann."

Über die Zukunft Berlins, sagt der, wie die Zeitung titelt, "Mann an der Spitze": Es sei das Verdienst der Kulturpolitik von Klaus Wowereit und André Schmitz, dass sie im kulturellen Bereich immer wieder vorsichtig Gelder aufgestockt hätten. Doch das große Thema der Gegenwart und nahen Zukunft seien die rasant steigenden Mieten und dass Berlin wird mit dem neuen Flughafen ab dem 3. Juni eine andere Art von Globalisierung erleben werde. Berlin hätte es auch deshalb "bitter nötig, über kulturelle Institutionen der Zukunft nachzudenken". Bei steigenden Mieten werde der Stadt nicht mehr wie bisher "vieles in den Schoß fallen". Da sei es sinnvoll "neue Räume zu schaffen, die sich nicht mehr klar den einzelnen Kunstgenres zuordnen lassen." Auf dem alten Flughafen in Tempelhof etwa ließe sich ein Performance-Zentrum "hinsetzen".

 

Außerdem

... berichtet die dauerreisende Jurorin Christine Wahl von der "nahezu aristotelischen Dramaturgie", der Zugfahrten mit der Deutschen Bahn folgen, von Ruhebereichs-Insassen, die lauter tönen als Margit Bendokat, vom üblichen Terror des Smartphone-Abusus, von Kölner Zuschauerinnen und Kölner Theaterwein, vom DDR-Expertentum im Rheinland, von der unanständigen Lust am Mitmachtheater in Dresden und dem rettungsengelhaften Taxifahrer Günther in Halle.

Der große Humorist unter den Theaterkritikern, Peter Laudenbach, feiert Herbert Fritschs "vom Sinnzwang befreites" Theater. Christine Lemke-Matwey schreibt über Nicolas Stemanns Faust I + II und Patrick Wildermann über die Stücke von Sarah Kane. Peter von Becker gratuliert der Verlegerin Maria Sommer vom Gustav Kiepenheuer-Bühnenvertrieb zum 90. Geburtstag.

(jnm)

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