Tod auf Bewährung

von Lena Schneider

Avignon, 18. Juli 2015. Ein Gespenst schwebt überm diesjährigen Festival in Avignon, das Gespenst des Verschwindens. Es hat verschiedene Gestalten. Eine davon hat sich das Festival zum Programm gemacht. "Ich bin der Andere" heißt die Saison 2015. Es ist ein Echo auf "Je suis Charlie", die weltweite Solidaritätsbekundung nach der Ermordung der 12 Mitarbeiter von "Charlie Hebdo". Doch der 7. Januar scheint vom südfranzösischen Sommer aus fern. Die Menschen drängen sich bis spät in die Nacht auf Plätzen, in Sälen und Warteschlangen zusammen wie jedes Jahr. Die halbherzigen Taschenkontrollen (noch gilt in Frankreich das Terrorschutzprogramm "Vigipirate") nehmen sie gelassen hin. Business as usual. Der erste Schock nach dem Attentat ist längst verklungen, und wenn da so etwas wie eine Angst vor der plötzlichen Auslöschung geblieben ist, wird sie mit dem Fächer, dem wichtigsten Utensil im Avignoner Hochsommer, beiseite gewedelt.

Europäische Schreckgespenster: "Soudain la nuit" von Saccomano/Garraud

Es gibt Ausnahmen. Es gibt Stücke, wo das Beiseitewedeln nicht funktioniert. "Soudain la nuit" (Plötzlich die Nacht) von Olivier Saccomano in der Regie von Nathalie Garraud ist so eins. Eine Gruppe von Europäern sitzt hierin am Flughafen in einer namenlosen Großstadt fest. In Sicherheitsgewahrsam, Untersuchungshaft oder Quarantäne? Man weiß es nicht genau. Was man weiß: Sie haben Angst und sind ihr ausgeliefert. Nackt sitzen die fünf zu Anfang da, mit den Rücken zum Saal, in einem Bühnenbild, das eine Verlängerung der Zuschauerreihen ist. Nur einer schaut ins Publikum und raucht, das ist Docteur Chahine (Cédric Michel). Er sagt, dass die hier Festgehaltenen krank sind.

Soudain 560 ChristopheRaynauddeLage u "Soudain la nuit" © Christophe Raynaud de Lage

Aber Chahine, die Arztkluft fleckig, will nicht heilen. Nicht im herkömmlichen Sinn. Eine Frau, hysterisch, jammert über Kopfschmerzen. Sie bekommt vom Pfleger, der sich ansonsten auf Drogenfahndung im Analbereich spezialisiert hat, einen Keks. Docteur Chahine, taumelt vom einen zum anderen, will reden: "Wir sind alle Tote auf Bewährung." Er ist Marokkaner. Er genießt es, diesen Vielflieger-Europäern zu sagen: "Willkommen in Europa." Es klingt wie: Willkommen in meiner Hölle. Das Stück ist der Abschluss einer Trilogie mit dem Titel "Spectres de l'Europe". "Spectres", das heißt auch Schreckgespenster. Und "Soudain la nuit" untersucht auf zarte, poetische und am Ende sogar mnouchkinsch-hoffnungsfrohe Weise ein Lieblingsschreckgespenst der Europäer: die Angst vorm schwarzen Mann (es genügt auch ein schwarzer Bart). Ein Gespenst, das krank macht, und nicht erst seit gestern. Begonnen hat die Trilogie der Kompanie du Zieu 2013 mit einer Arbeit zu Othello.

Avignon vor Front National gerettet, Frankreich trotzdem in Kulturkrise geschlittert

In diesem Sommer 2015 aber hat das Gespenst des Verschwindens in Frankreich noch eine konkretere Gestalt. Im Zuge der Sparmaßnahmen der Regierung Hollande seit 2012 wurde auch dem Kulturetat ein Spardiktat verpasst, dessen konkrete Folgen seit einiger Zeit unmittelbar spürbar sind. Kommunen kürzen ihren Theatern die Subventionen, Bibliotheken werden geschlossen, Festivals fallen aus. Dass das so ist, dass die kulturelle Landschaft Frankreichs in der Krise ist, war lange ein eher diffuses Gefühl, seit Anfang 2015 sorgt eine Userin dafür, dass dieses Verschwinden sichtbar wird. Sie hat eine Karte Frankreichs ins Netz gestellt, übersät von unzähligen bunten Markierungen. Jeder Punkt ein Phantom: ein Festival, ein Theater, ein Kino, das es nicht mehr gibt. Im Januar diesen Jahres waren da 45, Ende Juni fast fünfmal so viel Phantome. "Kultur Frankreichs, du bringst dich um", hat die Betreiberin unter die Karte geschrieben. Die "cartocrise" ist in aller Munde, die Politik zunehmend unter Druck. Premierminister Manuel Valls, der harte Mann neben Hollande, hat kürzlich eingeräumt, dass die Budgetkürzungen im kulturellen Bereich ein Fehler waren.

Cartocrise 560Die Karte der Krise © Screenshot

Natürlich: Avignon ist nicht auf der "cartocrise" und wird es so schnell nicht sein. Es musste zwar minimal abspecken (5 Prozent weniger Zuschüsse, eine Dauer von 22 statt 24 Tagen), aber mager ist es trotzdem noch lange nicht. Vielleicht gerade deswegen stellte Festivalleiter Olivier Py die "cartocrise" an den Anfang seiner Pariser Pressekonferenz im Frühjahr. Solidarität ist Py wichtig. Er will nicht der gemästete Gigant sein (über 13 Millionen Euro Etat), der die im Schatten nicht wahrnimmt. Py inszeniert sich als Stachel im Fleisch der Mächtigen, begleitet von einer gewissen Exorbitanz. Erinnern wir uns an 2014: Als sich nach der ersten Runde der Kommunalwahlen damals die Möglichkeit auftat, dass der rechtsnationale Front National in Avignon den Bürgermeister stellt, verkündete Py mit absolutistischer Geste, im Falle eines FN-Wahlsieges das Festival aus Avignon abzuziehen. Eine streitbare Haltung, so radikal wie eskapistisch. Hohle Worte? Zum Wirklichkeitstest kam es nicht, es gewann die Kandidatin der Sozialisten. Dennoch bleibt das Département Vaucluse, der hübsche Landstrich um die rote Hochburg Avignon, beängstigend weit rechts: Bei den jüngsten Regionalwahlen erreichten Front National und andere Rechtsextreme gemeinsam mehr Sitze als der Wahlsieger UMP.

"König Lear" und seine Ballerinas: Wie Olivier Py gegen die Mauern des Papstpalasts springt

Olivier Py also möchte sein Festival als politisch verstanden wissen. Dem Wort "Politik" selbst, schreibt er im Editorial zum Festivalprogramm 2015, gelte es, wieder einen Geschmack von Zukunft geben. Indessen: Seine eigene Inszenierung kann er damit nicht gemeint haben. Im Hof des Papstpalastes, unterm Sternenhimmel, war seine neue Übertragung des "König Lear" zu sehen. (hier bei "Libération" nachzuholen). Ein Knallbonbon, der einen diesen Palast verfluchen lässt, dessen Wucht Py offenbar zu so viel inszenatorischer Kraftmeierei verführt hat.

Lear 560 ChristopheRaynauddeLage u"Roi Lear" © Christophe Raynaud de Lage

Man spürt den Autor-Regisseur gewissermaßen gegen die alten Mauern anrennen, um die eigene Geschichte gegen diese Kulisse zu behaupten. In den ersten Minuten stürmen unter live am Flügel dahingeschmolzener Chopinbegleitung auf die Bühne: eine Ballerina in Weiß (Laura Ruiz Tamaro als Cordelia), in Pink, mit schwarzen Strapsen und blonden Perücken, die Schwestern Regan und Goneril (Céline Chéenne und Amira Casar), sodann, durch die Publikumstribüne herabschreitend, Kent (Eddy Chignara) und Gloucester (Jean-Marie Winling) sowie der Narr (Jean-Damien Barbin) und als Höhepunkt, in schwarzer Kluft und mit gehörntem Helm, auf einem (ja! echten!) Motorrad, Edmond (Nâzim Boudjenah). So aufgeregt geht das weiter.

Sterben üben: "Monument O" von Eszter Salamon

"Ton silence est une machine de guerre" ist in Neonbuchstaben auf der Palastwand zu sehen, als Ballerinatochter Cordelia, in hilfloser Unschuld ihren Vater antanzt, anstatt ihre Liebe zu beteuern. Anders als bei Shakespeare ist sie tatsächlich stumm wie ein Fisch. "Dein Schweigen ist eine Kriegsmaschine": ein schöner Satz, der aber kein Anfang für diesen "Lear" ist, sondern ein Endpunkt. Cordelia, die einzig Reine, ist der Sündenbock für die Gier der anderen. Naja. Und nun? Die Inszenierung ist keine 15 Minuten alt. Bleiben noch zwei Stunden, in denen muss Lear (ein wenig überzeugender Philippe Gerard ) sich quälen und winden, muss der Narr ständig in einen Schrank und wieder hinausstürmen und seine Narrenmütze kneten, bevor am Ende endlich alle, alle durch ein Loch im Bühnenboden in den Bühnentod rutschen dürfen. Unter viel Getön sowie Licht- und Soundeffekten, denn gegen so viel moderne Technik stehen die alten Mauern nun wirklich dumm da.

MO 560 ChristopheRaynauddeLage u"Monument O" © Christophe Raynaud de Lage

Glücklicherweise ist Olivier Py nicht nur Regisseur, sondern auch Kurator des Festivals. Als solcher hat er zum Beispiel Avignoner Bürgern ermöglicht, gemeinsam mit Schauspielern Alain Badious Übertragung von Platons "Staat" zu lesen. Draußen und kostenlos. Und er hat eine Inszenierung eingeladen, die ein bisschen genauer als "Lear" hinschaut, wie das mit dem Verschwinden funktioniert. Das Verschwinden ist nämlich, so hat die Berliner Choreografin Eszter Salamon bei ihrer Recherche nach Kriegs- und Todesritualen herausgefunden, eine ziemlich stille  Angelegenheit. In ihrer Arbeit "Monument O" zeigt sie in kurzen Sequenzen schwarz-grau kostümierte Tänzer in Masken, die aus dem Schwarz kommen, ein paar rhythmische Bewegungen machen und dann wieder ins Schwarz abgehen. Auftritt, Atmen, Schritte, Atmen, Abtritt. Es ist eine sehr einfache, sehr bedrückende Sache. Manchmal winken die Tänzer auch. Ein Gruß an die, die auf Bewährung hier drüben sitzen.

Soudain la nuit
von Olivier Saccomano
Regie: Nathalie Garraud.

Roi Lear
von William Shakespeare
Übersetzung und Regie: Olivier Py.

Monument O
Konzeption und Choreographie: Eszter Salamon.

www.festival-avignon.com

 

Lena Schneider, geboren 1981, studierte Englische Literatur und Geschichte in Edinburgh. Sie war von 2008 bis 2012 Redakteurin bei "Theater der Zeit" und lebt heute als freie Autorin und Lektorin in Paris.

 

Kritikenrundschau

Joseph Hanimann scheibt in der Süddeutschen Zeitung (6.7.2015): Für die "politische Dimension" des Festivals stehe Olivier Py mit "seinem gesamten bisherigen Werk" ein, Politik werde bei ihm nicht nur "szenisch illustriert, reflektiert, abstrahiert, sondern soll poetisch vertieft werden". "Ein Verstummen des Sinns in der politischen Welt", wie Py es aus Shakespeares "Lear" lese, setze allerdings "zumindest den Nachhall von zuvor ausgesprochenen Worten voraus". Die stumme Cordelia, die hier "aus dem romantischen Licht der in Worten nicht fassbaren Sinnfülle" in die "grausige Leere der Gegenwart" geholt werde, wo "statt der Worte die Maschinengewehre das Sagen" haben, sei "in ihrer anmutigen Sprachlosigkeit eine bloße Hypothese, eine Ahnung, vielleicht ein Gerücht". Warum der von Philippe Girard mit "himmelwärts fuchtelnder Jenseits-Gestik gespielte König wegen ihres Schweigens in solche Rage verfällt und sein Reich auf dem Papier in Stücke zerreißt, bleibe "unverständlich". "Konzept und Bühnenhandlung, Philosophie und Grand Guignol" kämen in diesem "apokalyptischen Ritt durch den zugleich brachial und dramaturgisch genial übersetzten Text" nicht zusammen.

"Pys 'Inszenierung' von 'King Lear' im Ehrenhof des Papstpalasts verdient (...) kein anderes Epithet als unsäglich", schreibt Marc Zitzmann in seinem Rundumschlag über das diesjährige Festival d'Avignon in der Neuen Zürcher Zeitung (18.7.2015). Insgesamt hat Zitzmann "Standardisiertes von unterschiedlicher Güte" gesehen: "ein typisch flämisch nonchalantes Objekttheater-Stück ('Notallwhowanderarelost' von Benjamin Verdonck), ein typisch britisch hochenergetisches Tanzstück (' Barbarians' von Hofesh Shechter), die obligate kryptische Multimedia-Performance ('No World / FPLL' von Winter Family), die ebenso unvermeidliche verkrampfte Anprangerung der Zustände im Einwanderungswesen ('Soudain la nuit' von Olivier Saccomano und Nathalie Garraud) . . ."

Für den Deutschlandfunk berichtet Eberhard Spreng laufend aus Avignon. In seinem ersten Bericht schreibt er (6.7.2015) schreibt er, Oliver Py sehe "Lear" als "prophetischen Vorgriff auf das mörderische 20. Jahrhundert", das von "einem Zweifel an der Sprache als der weltschöpfenden Kraft gekennzeichnet war und einem ungeheuren Siegeszug einer Technologie, die als Kriegmaschine alles zunichte macht." Das Spiel beginne fast als "Grand Guignol", ende aber nach dem Tod von Gott und dem Engel Cordelia, wie üblich beim inszenierenden "Fundamental-Katholik" Olivier Py, als "christliches Weihespiel". Aus der von Alain Badiou angeleitete Lesung von Platon zieht Spreng die Lehre: "Sind Gläubiger und Schuldner Freunde und fügt die Rückzahlung dem Schuldner Schaden zu, dann sollte darauf verzichtet werden." Ein "schöner Beitrag" Avignons zu den "großen aktuellen Fragen". Inn seinem zweiten Bericht (19.7.2015) schreibt Eberhard Spreng  über "The last Supper", ein Stück von Ahmet Al-Attar, das sich mit der ägyptischen Revolution auseinandersetzt, und über "Retour à Berratham", ein Text von Laurent Mauvignier, inszeniert von "Starchoreograf" Angelin Preljocaj. 

 

 

 

 

Kommentare  
Festival d'Avignon: Ergänzung
Frau Schneider hat etwas vergessen:
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"Die Herrscher der Welt mögen die Veränderung der Welt nicht. Wenn Menschen also gegen alle Widerstände und die herrschende Meinung behaupten, dass eine Veränderung möglich ist, dann wird man ihnen mit allen Mitteln klar machen, dass das nicht wahr ist, dass genau das nicht geht. Und, um auf etwas Aktuelles zu kommen, genau dieses Problem hat Griechenland derzeit. "
Alain Badiou lernte als Sohn eines Résistance-Kämpfers sehr früh das Vertrauen in die grundsätzliche Veränderbarkeit der Welt, und setzt es hier gegen eine ökonomisch strukturierte und als feststehend behauptete Ordnung der Dinge. Sie korrumpiere unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit von ihren Maskierungen zu unterscheiden und ihren Kern in den Blick zu bekommen. Gemeint ist damit ein Moment der Erkenntnis, die allein die Erfahrung des Glücks ermögliche. Badiou prangert die "subjektive Unterwerfung unter eine Realität an, von der die Ökonomie prahlt, die letzte Weisheit zu sein".
"Das Problem entsteht dadurch, dass das griechische Volk sagt: Wir wollen die Sparpolitik nicht und die anderen Europäer sagen: Die müsst ihr aber wollen. Und wenn ihr mit eurem Nein weitermacht, dann werdet ihr schon sehen, was passiert. Es wird gedroht. Was passiert mit Menschen, die die freiwillige Unterwerfung ablehnen? Keiner kann das derzeit besser beantworten als die Griechen."
Während Alain Badiou versucht, seine Philosophie mit konkreter Zeitgeschichte zu synchronisieren, geht Festivaldirektor Olivier Py einen Schritt weiter. Er opponiert offen gegen den immer wieder als Option gehandelten Grexit. "Wenn Europa nur ein profitorientiertes Arrangement zwischen Banken ist, von dem die Völker nichts haben, was hat Europa dann für einen Sinn? Wenn wir Griechenland aufgeben, warum sollten wir dann noch für Europa kämpfen."
Olivier Py, geboren als Kind von Algerienfranzosen im südfranzösischen Grasse, kann sich persönlich eine Identität als Europäer in einem Europa ohne Griechenland nicht vorstellen. "Meine Vorfahren waren Spanier, Katalanen, Neapolitaner. Wenn Europa nicht mehr meinem Anspruch gerecht wird, ich meine: kulturell und poetisch, dann habe ich eine andere Idee: Ich werde dann sagen: Ich bin Mediterran."
Uneiniger in der Frage, was ist Europa und was ist ein Europäer, können Regierungen und Bevölkerungen derzeit kaum sein. Und Avignon ist, seinem Anspruch und seiner Tradition gemäß, ein Austragungsort dieser Debatte. Es gelte, so Alain Badiou, der Wirklichkeit die Maske abzureißen und sich entgegen der opportunistischen Selbstzufriedenheit ins Wagnis der Glücksuche zu stürzen. So habe das griechische Volk die Frechheit besessen, entgegen herrschender europäischer Regeln, etwas entscheiden zu wollen.
"Viele absolut konservative Ökonomen haben gesagt, dass man die griechischen Schulden einfach streichen kann, ohne dass viel passiert. Sogar Strauss-Kahn. Das geht also. Was aber nicht zu gehen scheint, ist dass man in dieser Frage ein Volk entscheiden lässt. Es geht hier also um eine politische Bestrafung. Es ist keine rationale ökonomische Strafe. In meine Begriffe übersetzt ist dies die Bestrafung für den Wunsch nach Glück im Namen der Zufriedenheit."

(Vor ein paar Tagen im ’deutschlandfunk’.)
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