Liveblog - Für die Aktion "Erster Europäischer Mauerfall" vom Zentrum für politische Schönheit fahren zwei Busse von Berlin an die europäische Außengrenze, um dort die Grenzanlagen abzureißen
An die Grenzen Europas
von Sophie Diesselhorst und anderen
Ab 7. November 2014. Anfang dieser Woche informierte die Künstlergruppe Zentrum für politische Schönheit über den Verbleib von 14 Kreuzen aus der Maueropfer-Gedenkinstallation "Weiße Kreuze" neben dem Reichstag. Diese hätten die "Flucht aus dem Regierungsviertel vor den Gedenkfeierlichkeiten zu '25 Jahre Mauerfall' ergriffen" und seien "in einem Akt der Solidarität" über die EU-Außengrenzen zu den "zukünftigen Mauertoten" geflüchtet. Die Polizei ermittelt inzwischen wegen schweren Diebstahls.
Parallel machte das ZPS, geleitet von dem Theatermacher und Regisseur Philipp Ruch, seine Pläne für einen "Europäischen Mauerfall" publik: Am heutigen Freitag brechen zwei Busse mit "friedlichen Revolutionären" von Berlin an die europäische Außengrenze in Bulgarien auf, um dort am 9. November die Grenzanlagen abzureißen. nachtkritik.de-Redakteurin Sophie Diesselhorst hat sich als "revolutionäre Journalistin" casten lassen und berichtet von unterwegs – über den Twitteraccount von nachtkritik.de, Hashtag #EUwall.
Wir protokollieren die Ereignisse sukzessive von Berlin aus mit Hilfe folgender Quellen: Sophie Diesselhorst (nachtkritik.de), Facebook-Seite des Zentrums für politische Schönheit, Berichte von den Mitreisenden Ines Kappert in der taz (8.11.2014 und 9.11.2014), Björn Kietzmann (Fotoserie 9.11.2014) und Nancy Fischer von Radio Eins (10.11.2014) und auf Spiegel online (9.11.2014), Tweets von Mitreisenden und Augenzeugen, siehe Storify-Sammlung unten.
Erster Tag
7. November 2014. Die Abfahrt der Busse vor dem Gorki Theater, geplant für 13 Uhr, verschiebt sich: Rund 100 Polizisten von Staatsschutz, Bundespolizei und Bundesgrenzschutz durchsuchen die Busse und Mitfahrenden nach "Waffen und Werkzeug". Die Begründung: "Sie rufen zu schweren Straftaten auf. Wir müssen gefahrenabwehrende Maßnahmen einleiten." Auf die Feststellung aller Personalien wird verzichtet. Die Bolzenschneider mussten vorher an der Garderobe des Theaters abgegeben werden. Auf einem großen Schild prangt die zentrale Handlungsanweisung: "Verhalten Sie sich beim Abbau der EU-Außengrenzen friedlich, aber bestimmt." Vor dem Gorki gibt es eine kleine Kundgebung und Musik, Intendantin Shermin Langhoff gibt in einer Rede Rückenstärkung: "Die Geschichte ist kein ruhiger Ort – Gedenken kommt schließlich von Denken". Sprechchöre skandieren "Die Mauer muss weg", während die Motoren laufen.
Um kurz vor 15 Uhr fahren zwei Busse mit rund 120 Personen an Bord ab, es gibt Käsebrötchen, die Stimmung ist gut. Die Regisseure des Zentrums für politische Schönheit sitzen nicht mit im Bus, sondern reisen auf anderem Weg nach Bulgarien. Angekündigte Dauer der Fahrt: 30 Stunden. Im Bus gibt es keinen Strom.
Zur Mauerfall-Gedenkfeier im Deutschen Bundestag kritisiert Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die Entwendung der Mauerkreuze im Rahmen der Aktion des Zentrums für politische Schönheit: Die Mauerkreuze seien "vor einigen Tagen gestohlen worden mit einer heldenhaften Attitüde und einer pseudohumanitären Begründung, die man für blanken Zynismus halten muss."
Zweiter Tag
8. November 2014. Die Reisenden haben die Nacht im Bus verbracht. An der ungarisch-serbischen Grenze am Übergang Rösk werden ihre Pässe eingezogen und untersucht. Grenzbeamte, offensichtlich informiert über die ZPS-Aktion, finden eine Sporttasche mit Bolzenschneidern. Es wird verhandelt. Schließlich bekommen alle ihre Pässe zurück, nach drei Stunden Grenzkontrolle geht die Fahrt weiter. Allerdings werden vier der Mitfahrer wegen Beanstandung ihrer Papiere aus den Bussen geholt und dürfen nicht nach Serbien einreisen. Die Bolzenschneider sind noch mit an Bord, sie wurden lediglich inventarisiert.
Die Busse werden von mehreren Einsatzfahrzeugen der serbischen Polizei bis nach Bulgarien eskortiert, in Novi Sad soll die bulgarische Polizei übernehmen. Ines Kappert kommentiert in der taz: "Die europäischen Außengrenzen infrage zu stellen, ist kein Kavaliersakt. Die Grenzstellen sind informiert. Man nimmt das hier ernst." Zunächst wird des den ZPS-Bussen nicht gestattet, anzuhalten, um zu tanken oder zu rasten. Angeblich hat die Polizei angenommen, im Bus befänden sich Fußball-Hooligans. Um kurz vor 14 Uhr machen die friedlichen Revolutionäre Halt auf einer Raststätte, in Anwesenheit der Polizei. Der Handy-Akku unserer Korrespondentin geht zu Ende.
Kurz vor 21 Uhr erreichen die Busse den Grenzübergang nach Bulgarien. Auf der anderen Seite warten Repräsentanten des bulgarischen Innenministeriums. Ein Vertreter des Ministeriums besteigt den Bus und klärt die Reisenden über rechtliche Folgen der Aktion auf: Illegaler Grenzübertritt kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe von bis zu 150 Euro geahndet werden, bei Wiederholung drohen sechs Jahre Gefängnis oder 150 Euro. Auf die Vorbereitung solcher Straftat stehen bis zu zwei Jahre Gefängnis. Proteste darf es nur innerhalb von Gemeinden geben und nur, wenn sie genehmigt sind. Aktionen im Grenzbereich müssen mit lokalen Grenzstationen abgestimmt werden, Fotos sind in einem Umkreis von 30km verboten. Außerdem informiert der Ministeriumsvertreter über gewaltbereite bulgarische Nationalisten, die Maßnahmen gegen die Aktion "Europäischer Mauerfall" planen, und bittet, sich von diesen auf keinen Fall provozieren zu lassen. Die bulgarische Polizei wird die Aktivisten schützen. Der Vertreter des Innenministeriums erwähnt überdies auch die gute und enge Kooperation mit den deutschen Behörden. Er hinterlässt eine Informationsbroschüre und seine Telefonnummer, im Bus wird applaudiert. Um 22.40 Uhr wird der komplette Bus kontrolliert, Frauen zuerst, alle müssen aussteigen.
Nach drei Stunden an der Grenze setzen die Busse ihre Fahrt auf bulgarischem Territorium fort. Sie werden weiter eskortiert bis zu den Hotels, wo man wohl erst am nächsten Morgen ankommen wird. Nachtkritikerin Sophie Diesselhorst hat Strom getankt und kann wieder twittern. Die Stimmung: "erstaunlich Klassenfahrt". Hinsichtlich der für morgen geplanten Aktion wissen die #EUwall-Darsteller noch nichts Genaueres, Bolzenschneider sind aber noch mit dabei.
Dritter Tag
9. November 2014. "Wir sind angekommen im Nebel von Jambol. Vor der Hoteltür lungern bulgarische Journalisten", twittert um 8.30 Uhr Sophie Diesselhorst. Jambol ist eine Stadt in Ostbulgarien. Zehn Kilometer entfernt befindet sich einer der wichtigsten Stützpunkte der US-Luftwaffe außerhalb der USA. 50 Kilometer hinter Jambol verläuft die Grenze zur Türkei. Der Bus ist also fast am Ziel: der Außengrenze der EU. Die Aktivisten sind in Bulgarien als Gedenkgruppe angemeldet, die deutsche Botschaft ist eingeschaltet. Laut Ines Kappert bekundet der bulgarische Innenminister im Staatsfernsehen, er würde sein politisches Schicksal daran knüpfen, dass die EU-Außengrenze zur Türkei von den Aktionsteilnehmern unangetastet bleibt. Im Berliner Tagesspiegel greift der Berliner Innensenator Frank Henkel das Gorki Theater wegen der Mauerkreuzentwendung scharf an.
Nach dem Frühstück im Hotel werden die Teilnehmer von Philipp Ruch für die Aktion gebrieft: "Wir wollen absolut gewaltfrei bleiben." Und: "Wir wollen unsere Zeremonie machen, wir haben das Recht dazu, wir sind eine Künstlergruppe – graviert euch das ein." Ein Livestream zur Aktion wird in Aussicht gestellt, wird jedoch bis zum Ende nicht funktionieren.
Gegen 12 Uhr geht es in den in 30 Kilometer Abstand verlaufenden Grenzstreifen hinein, den Bussen folgt weiter eine "Kolonne unauffälliger Begleiter". Am Übergang zum kleinen Grenzstreifen empfängt die Polizei die Busse. Die Aktivisten fordern, zumindest in Sichtweite des Zauns gelassen zu werden: "We will not leave until we can see the fence." Wie Kappert schreibt, hält das ZPS daran fest, mindestens eine "Denkveranstaltung zum Fall der europäischen Mauer" abzuhalten, und verweist darauf, bereits vor Wochen eine entsprechende Veranstaltung angemeldet zu haben. Es geht zu Fuß weiter, in Begleitung zweier Polizeiautos. "Die Mauer muss weg"-Rufe. Um 13.30 Uhr wird eine Schweigeminute für alle Menschen abgehalten, die "jemals auf der Flucht umgekommen sein werden" (Philipp Ruch). Zwei Mannschaftswagen der Polizei und ein Schäferhund wollen den Aktivisten den Weg abschneiden, sie befänden sich schon auf verbotenem Gebiet. Angeblich sind 1000 bulgarische Beamte im Einsatz. Bulgarische Medien begleiten das Ganze.
Etwa 300 Meter vor der EU-Grenze bei Lessowo liegt immer wieder Eskalation in der Luft, zum Zaun werden die Aktivisten nicht vorgelassen. Man verhandelt. Es wird gesungen: "Say it loud, say it clear, refugees are welcome here". Philipp Ruch beendet die Kunstaktion vor den Grenzpolizisten. Um 17.30 Uhr kann man den Europäischen Mauerfall als verschoben betrachten. Sophie Diesselhorst twittert um 18.22 Uhr: "die Aktion ist an 'Grenze 2' friedlich zuende gegangen". Aktivisten zerschneiden mit den Bolzenschneidern Teile eines alten Stacheldrahtzauns. Das ZPS schreibt auf seiner Facebook-Seite: "Die Mauerschützer kommen von allen Seiten, selbst die Unterkünfte der Revolutionäre wurden von der bulgarischen Polizei ausgebucht, um den Ersten Europäischen Mauerfall zu stoppen."
Es geht zurück zu den Bussen, die wiederum von der bulgarischen Polizei eskortiert werden, diesmal in Richtung griechische Grenze. Um 19.30 Uhr empfängt die griechische Polizei die zurückreisenden Aktionskünstler mit vier Bussen voller Polizisten in Kampfmontur und durchsucht die Busse. Um 21.30 Uhr vermeldet das ZPS auf Facebook, dass die Busse mittlerweile durchgekommen seien und mit großer Polizeieskorte zur Unterkunft gebracht würden. Auf Spiegel online ist die Rede davon, dass die Aktion wiederholt werden soll.
Um 22.30 Uhr, nach Ende der offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten zum Mauerfall, bringen vier Personen die entwendeten Mauergedenkkreuze wieder zurück an den Ort ihrer Installation am Reichstagsufer. Ihre Personalien werden von der Polizei, die wegen schweren Diebstahls ermittelt, festgestellt.
#euwall die Aktion ist an "Grenze 2" friedlich zuende gegangen, hier ein schlussbild von vorhin. Resümee in Bälde. pic.twitter.com/gl6U05TslE
— nachtkritik.de (@nachtkritik) 9. November 2014
Vierter Tag
10. November 2014. nachtkritik.de-Korrespondentin Sophie Diesselhorst hat wie andere Mitreisende auch die Rückreise per Flugzeug von Sofia aus angetreten und kommt am Abend in Berlin an. Die Busse fahren weiter nach Griechenland, damit die Aktivisten vor der Rückreise ausspannen können, wie die taz berichtet. Linken-Politiker Andrej Hunko stellt im Bundestag eine Schriftliche Frage "zur vorauseilenden Repression der Performance 'Europäischer Mauerfall' durch das Bundesinnenministerium". Am Abend gibt das Berliner Gorki Theater eine Stellungnahme zum Diebstahl der Gedenkkreuze für die innerdeutschen Maueropfer und gegen die Vorwürfe des Berliner Innensenators Frank Henkel heraus: Man habe von diesem Bestandteil der Aktion nichts gewusst und entschuldige bei den Angehörigen.
Fünfter Tag
11. November 2014. Die Aktion "Erster Europäischer Mauerfall" heizt das Debattenfeuilleton an. Die Rezension von Nachtkritikerin Sophie Diesselhorst erscheint, Printmedien berichten ebenfalls (siehe Presseschau). Derweil sind die Busse auf der Heimreise von Alexandroupoli aus über Thessaloniki nach Mazedonien, wobei sie laut Facebook-Nachricht auf neue Grenzkontrollen stoßen. Das Gorki Theater erhält im Streit mit dem Berliner Innensenator Frank Henkel Rückendeckung vom Berliner Rat für die Künste. Das Zentrum für politische Schönheit stellt laut eigener Pressemitteilung Strafantrag gegen den Innensenator Henkel wegen "übler Nachrede und aller anderen infrage kommenden Delikte" bei der Polizei in Potsdam.
Sechster Tag
12. November 2014. Der Rückreisebus ist in Ungarn und damit im Schengen-Raum angekommen. "Die 6. und letzte Grenzkontrolle ging sehr schnell. Vor uns liegen noch 1.000 km Klassenfahrt durch die freie Welt", schreibt der Mitreisende Tim Lehmann auf Facebook. Übers Mikrofon werden Pressestimmen vorgelesen. Gegen 23 Uhr sind die Busse kurz vor Dresden, letzte Pause am Elbepark. Wie Tim Lehmann weiter berichtet, haben die Aktivisten eine Erklärung zum Thema Flüchtlingspolitik vorbereitet, die dem ZPS vorgelegt werden soll.
Siebter Tag
13. November 2014. Gegen 2 Uhr nachts kommen die Busse in Berlin am Gorki-Theater an und werden von der ZPS-Leitung mit heißer Suppe empfangen. In einer Mail an seine Unterstützer schreibt das Zentrum: "Wir sind überglücklich, sie endlich aus den Klauen der Staatsmacht befreit zu haben. Die Anfragen zu den massiven Repressionen auf unserer Reise laufen und beschäftigen derzeit den Bundestag." In derselben Mail gibt es bekannt, dass die eigentlich für heute Abend im Gorki geplante "Rückkehrer-Party" auf den 20. November verschoben wird, aufgrund der massiven Verspätung und der Repressionen.
14. November 2014. Berliner Landespolitiker*innen der Grünen und der CDU kritisieren die Aktion des Zentrums für politische Schönheit und diskutieren, laut Bild-Zeitung, die Berechtigung der Senatsförderung in Höhe von 10.000 Euro für das Projekt. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) verteidigte die Zahlung: "Diese Entscheidung ist aus Sicht der Freiheit von Kunst und Kultur nicht zu beanstanden."
17. November 2014. Aktivist*innen aus den Reisebussen veröffentlichen im Internet ein Statement zur Aktion. Darin heißt es: "Wir waren Statist*innen in einem Kunstprojekt, das sich vornehmlich als Medienspiel an eine deutsche Öffentlichkeit richtete. Aus einer privilegierten Position heraus agierten wir ohne Beteiligung von lokalen Akteur*innen und Betroffenen. Als Menschen und Aktivist*innen aber, trafen wir auf die sozialen Realitäten in den Grenzregionen Europas. In diesem Spannungsfeld schärften wir unseren Blick für den politischen Kampf, den wir weiter führen werden." Und weiter: "Die Kunst hat die Richtung gewiesen. Jetzt braucht der Europäische Mauerfall eine Basis. (...) Eines Tages wird sich eine kritische Masse zu den europäischen Außengrenzen aufmachen und die Zäune werden fallen. Dazu braucht es vielfältige Praktiken des Widerstands. Kontinuierlich und nachhaltig. Unter unser aller Beteiligung."
21. November 2014. Mittlerweile hat das Zentrum für politische Schönheit auf seiner Webseite eine ausführliche Sammlung mit Links zu Medienberichten über den Ersten Europäischen Mauerfall veröffentlicht. Der Bericht unserer Korrespondentin Sophie Diesselhorst ist in dieser Liste nicht enthalten.
Gesammelte Tweets zur Busfahrt
(Oben stehen die neuesten Nachrichten, unten die ältesten.)
Hier lesen Sie den Behind-the-scenes-Reisebericht von Sophie Diesselhorst vom 11. November 2014. Im Juli 2014 stellte Sophie Diesselhorst das Zentrum für Politische Schönheit in einem Porträt auf nachtkritk.de vor.
Die Aktion Erster Europäischer Mauerfall des Zentrums für Politische Schönheit ist Teil des November-Festivals Voicing Resistance im Maxim Gorki Theater Berlin. Gorki-Intendantin Shermin Langhoff hat sich zu der Aktion auch persönlich zu Wort gemeldet, ebenso wie etwa Aktionskunst-Veteran Bazon Brock – siehe die Presseschau vom 4./5. November.
Und hier steht geschrieben, wie die Aktion #EUwall schließlich auch die Gründung eines Zentralkommitees für nachtkritische Schönheit nach sich zog ...
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Es ist einfach nur peinlich, irgendwelche Thesen in die Welt zu schmieren, ohne irgendeine Kenntnis von den Dingen zu haben. Das Gorki ist immer noch ein Theater und keine Regierungspartei. Was die auf politischer Ebene leisten ist bemerkenswert und einzigartig, kein Theater kann von sich behaupten, auch nur annähernd ähnlich engagiert mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auf unterschiedlichste politischste Zustände hinzuweisen. (Ich zähle das alles nicht auf, der Output alleine des Studios ist unglaublich).
Ihre seltsame Meinung hat Kommentar 2 in einem Satz pulverisiert!
(1) haben wir es bei den EU-Toten mit Verrückten zu tun, die glauben, sich durch Flucht den Ausbeutungsverhältnissen ihrer Heimatländer entziehen zu können.
(2) handelt es sich bei den Kreuzen für die Mauertoten um ein persönliches Erinnern, was politisch instrumentalisert ist im Sinne der Freiheitslehre westdeutscher Gesellschaftsordnungen (die ja wiederum für die Fluchtbedingungen in den Herkunftsländern der EU-Toten sorgen), aus Sicht der DDR ist das natürlich lustig, wie hier gesalbt wird, zynisch wird es, wenn den Feiglingen (und Flüchtlinge sind zuallererst feige), dieses lustige Interpretationschema angedient wird - Herr Ruch, sie haben ja sowas von gar keine Ahnung vom DDR-Blick auf den antifaschistischen Schutzwall, das ist schon sehr banal.
(3) ist absolut unlogisch, warum man Bolzenschneider mitnimmt, wenn man eine Mauer einreißen will. Wäre da nicht ein Verlängerungskabel sinnvoller, zusammen mit einer elektronischen Steinsäge?
Wenn diese Aktion nur ein Opfer verhindern kann, dann war sie ein voller Erfolg.
da ich hier im Forum aus nebenberuflichen Gründen schreiben muss, mit der Beschimpfung also professionell umgehen kann, freue ich mich, dass Ihre Begabung über ein bloßes Minus5-geklicke und sogar in Worte gefasst Ausdruck erlangt! Dieser freundlichen Begegnung kann ich mich da gar nicht entziehen und möchte meine Pause nutzen und Ihnen gerne antworten:
(1) Da ich nicht moralisch, sondern analytisch bewerte, entwerte ich mein Argument nicht. (PS: Die Sache mit dem "ich" behagt mir dabei nicht, denn es geht ja um generelle Einsicht, schreiben Sie besser: Ihre Position.) Mit Polemik hat das nichts zu tun. Lektüreempfehlung, wie jedes Jahr zum Mauerfall: Germania 3, Gespenser am toten Mann, Eingangsszene, Ulbricht und Thälmann auf Posten. Frage: "Was haben wir falsch gemacht?" - Eine Frage, die wir uns hier auf der Arbeit bis heute stellen. Deshalb nun zu
(2) Wer flüchtet ist feige. Stalins Sohn hat sich gefangen nehmen lassen und saß in Buchenwald ein. Da ist er in den Zaun gerannt. Wir fanden das damals feige. Na ja, und wir mussten ja in der DDR auch den Ostfeldzug der Nazis bezahlen. Darauf weist Rolf Hochuth dankenswerterweise in seinem heutigen Interview hin*. Wir hier auf der Arbeit sind uns einig, dass Verrat war, wer diese Rechnung, diese historische Schuld, nicht begleichen wollte. Na ja, und damals gabs die Devise, dass Verräter erschossen werden. Das geht ja seit 25 Jahren nicht mehr. Persönlich war ich damit nie einverstanden. Angesichts der 27 Millionen Kriegstoten in der Sowjetunion kann ich mir diese historische Geisel aber zumindest erklären.
(3) Und dieses "Zentrum für politische Schönheit": Die Zahl der Toten, die die westliche Welt außerhalb ihrer Grenzen produziert, mit den paar abgeknallten Verrätern gleichzusetzen, ist wirklich grober Unfug. Erst wenn die Afrikaner von ihren eigenen Leuten abgeknallt werden, wenn sie den Kontinent verlassen, dann kann man eventuell einen Vergleich anstellen. Das AUsmaß der Toten läuft in der Größenordnung eher auf das Ausmaß Ostfeldzug zu.
Nein, liebe Inga, meine Sicht der Dinge ist da sehr klar geordnet. Dieses Gorki hat viel good will und auch anständige Künstlerinnen und Künstler unter Vertrag. (Was bekommt Herr Ruch für die Aktion?)
Was aber wirklich aufstößt: Sie denken nicht mehr. Mag sein, dass nach dem Ende der geschichte auch das Denken abhanden gekommen ist. Theaterfamilien sollten sich da auch am Adel im Untergang orientieren. Inzest führt zu Debelität. Versaut wurde ja schon Brauns Übergangsgesellschaft. 2013 ist einfach in 1989.
Und der antifaschistische Schutzwall ist nicht die EU-Außengrenze. Dies gilt erst, wenn die Einreise in den Rest der Welt nach unserem Vorbild strukturiert wird! Grenzschutz und wir, Schild und Schwert der Partei!
Na ja, liebe Inga, da bin ich doch sehr deutsch, wenns politisch wird und ins militärische kommt, werd ich melancholisch und gerate ins Pathetische. Deswegen finde ich die Gorki-Performance auch sympathisch. Der Staatsschutz musste ausrücken, polizei durchsucht busse - da ist viel Schauspiel aktiviert. Und ja, die Jungs und Mädels kommen so auch mal ins Theater. Bei Erich war das für uns Pflicht. Diese jungen Krawallos in Uniform haben bloß noch facebook und Twitter, um sich weiterzubilden.
Sehr bedauerlich.
Seien sie herzlich zum Morgen gegrüßt,
Ihr Lustig
*http://www.heise.de/tp/artikel/43/43275/1.html
Ich bin und war schon immer gerne im Gorki...und das schon auch vor der Langhoff Intendanz. Es gab - und das gilt wohl ausnahmslos für jedes Theater- neben einigen weniger guten Inszenierungen viele gute bis herausragende. Dazu zähle ich den Kirschgarten, Schwimmen lernen, Small Town Boy, Der Russe ist einer der Birken liebt, Fallen, Erotic Crisis. Ich verstehe diesen Schwiegermutterton gegenüber diesem Theater nicht. Es wird auf unterschiedlichste Weisen Theater geboten, wie auch an anderen, nur lese ich hier und auch desöfteren in der Presse eine bei weitem übertrieben zur Schau gestellte Skepsis gegenüber dem Gorki...warum eigentlich?
Für mich stellt sich die Unvergleichbarkeit der Kontexte bzw. Situationen folgendermaßen dar, wenn auch etwas vereinfacht: Die DDR hat sich nach innen abgeschottet, tatsächlich eine Folge der Nazi-Zeit (siehe auch der Begriff "antifaschistischer Schutzwall"), die EU schottet sich nach aussen ab. Und zudem hat die Öffnung der innereuropäischen Grenzen zu einer Verschärfung der Grenzpolitik an den Aussengrenzen Europas geführt. Da liegt für mich das ganze Paradox.
(...)
(Sehr geehrte Inga, sehr geehrte/r IM Lustig, das gleitet jetzt ins Privatscharmützel ab und bringt die Diskussion an dieser Stelle nicht weiter. Daher die Auslassung. Mit Bitte um Verständnis und besten Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Wir lassen sie verhungern.
Danke!
PS: Redaktion, ging das jetzt so?
Oder besser zu Hause bleiben?
Man kann jedem, der sich engagiert, Profilierungssucht unterstellen.
Oh mein Gott, wir wollten uns doch im Gedenken der Toten alle nur gut fühlen und jetzt stören die unsere heile Gedenkwelt!
"Die Zahl der Toten, die die westliche Welt außerhalb ihrer Grenzen produziert, mit den paar abgeknallten Verrätern gleichzusetzen, ist wirklich grober Unfug".
IM Lustig können Sie mir bitte nochmal erklären, wen sie mit den "paar abgeknallten Verrätern" meinen?
So wie ich ihren mit "analytischem" Herzblut geschriebenen Text verstehe, würde er mich fassungslos machen.
Mich interessiert für den Moment nur, ob sie in ihrem Koordinatensystem mit "den paar abgeknallten Verrätern" die Opfer an der Mauer meinen.
Philipp Ruch: [...] Nicht ausgeschlossen ist natürlich, dass aus Selbsterkenntnis Handlungen folgen, die in ihrer politischen Wirkung mit dem Kniefall von Willy Brandt vergleichbar sind. Aber auch der gehört mehr in den Bereich guter Kunst. Die höchste Form aller Künste ist: schöne Politik.
ART: Würden sie eine Dokumentation ihrer Aktion auch in einer kommerziellen Galerie ausstellen?
Philipp Ruch: Christoph Schlingensief hat sich in dem Moment verdorben, als er aus der Sphäre des Theaters in die Sphäre des Kunsthandels übertrat. Vor dieser Schwelle haben wir wirkliche Angst. Wir haben auch schon Angebote ausgeschlagen. Sammler wollen immer wieder Reliquien von uns haben, weil sie schon ahnen, welche Werte hier gerade entstehen könnten. Aber Schlingensief ist in dem Moment künstlerisch gestorben, als er seine Werke aus der Volksbühne, dem Pfauen oder den Wiener Festwochen in die Galerieszene gestellt hat. Wir wollen noch nicht sterben.
(http://www.art-magazin.de/szene/77359/zentrum_fuer_politische_schoenheit_interview)
das wäre in der Tat eine Opfer-Täter-Umkehr, die Sie etwas näher erläutern sollten. Wie Sie da auf Heiner Müller kommen, erschließt sich mir auch nicht ganz. Wer hat Ihrer Meinung nach wen verraten? Verrat im Kontext Heiner Müllers bezieht sich in erster Linie auf linke Ideale. Das geht von SPD-Bluthund-Noske, dem Luxemburg-Mord über Stalin und den Hitlerpakt bis zu Ulbrichts Mauer. Das kann man in Germania 3 nachlesen. Da spricht Müller vom "Mausoleum des deutschen Sozialismus". Auch in "Hamletmaschine" gibt es so eine Mausoleumsmauer, nämlich das Grab Stalins. Ich glaube Sie müssen sich doch die Zwangsjacke anziehen, auch wenn es keine moralische ist. Aber wie deuten Sie bitte Verrat in Hinsicht auf die Mauertoten genau? Das bliebe immer noch die Frage. Aber das ist wohl auch eine prinzipielle, aus welcher Sicht man den Mauerbau begründen will. Und auch über die Rolle des Antifaschismus der deutschen Kommunisten in der DDR hat Müller etwas geschrieben, nämlich in „Wolokolamsker Chaussee V: Der Findling“. Die Leistungen des kommunistischen Widerstands in Nazideutschland werden dadurch ja nicht geschmälert. Allerdings sollten Sie, wenn Sie schon von den Moorsoldaten und Theater sprechen, nicht Wolfgang Langhoff und seine Erfahrungen mit der DDR-Führung vergessen. Bei Müller geht es immer irgendwie um eine Totenbeschwörung. Und genau dagegen, dass die Sieger die Geschichte machen, hat Heiner Müller angeschrieben. Aber er kann sich nun auch schlecht dagegen wehren, uminterpretiert zu werden.
Für wen sonst schreiben wir
Als für die Toten allwissend im Staub
(…) Das Vergessen ist ein Privileg der Toten.
Und um einen Punkt aus ihren Einlassungen aufzunehmen: Reparationsleistungen sind generell nicht sinnvoll, wie man beispielsweise gerade an der DDR schön sehen konnte.
(Sehr geehrte/r IM Lustig, ich habe Ihren Kommentar gekürzt, weil die Beschimpfung anderer Kommentatorinnen und rabiate Unterstellungen vom Thema wegführen. nachtkritik.de ist nicht der Ort grundsätzliche Weltanschauungsfragen zu klären. So schön es wäre. Außerdem verdächtige ich Sie, die Diskussion zu kapern und in eine vom Thema weit entfernte Richtung zu lenken.
jnm)
*http://www.youtube.com/watch?v=B1XstCH4Ft8
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Opfer
Lieber IM, das liest sich jetzt so, als hätten die Westmächte die Mauer gebaut, um den Osten auszuhungern. Das haben die doch eigentlich auch ohne Mauer geschafft. Lustige Vorstellung. Gefällt mir Ihr Humor. Jetzt lassen Sie uns nicht dumm sterben. Was haben die Reparationszahlungen an die Russen mit den Mauertoten und den Toten am europäischen Grenzzaun zu tun? Übrigens danke für die hilfreiche Erläuterung des Opferbegriffs. Es gibt neben der Moral noch einen weiteren Verhinderer von inhaltlichen Debatten, die Diskussion über Begrifflichkeiten. Das moralische Verdammen, wie auch das Zerreden des Inhalts führen in jedem Fall in die Grundsatzdebatte. Sie übersehen dabei aber schon, dass das ZPS nie von Opfern gesprochen hat, sondern von Mauertoten (tot sind sie ja nun mal). Ziel war es ja gerade die Kreuze und somit die Toten aus dem, ich zitiere: „Oktoberfest-Gedenken" mit „nostalgisch-sedierenden Reden" herauszulösen. Der Blick sollte an die heutigen europäischen Grenzen mit ihren Toten gelenkt werden. Dazu hat man die Mauertoten aus dem gebräuchlichen Opferstatus herausgeholt. Man muss manchmal Sachen aus ihrem gewohnten Kontext herausholen. Sie sprachen von veränderter Perspektive, glaube ich. Dass das für Aufsehen und Proteste sorgt, war durchaus kalkuliert. Was natürlich nicht ausreichend stattfindet, da nicht vorrangig Ziel dieser Aktion, ist die Bewertung der Mauer im Kontext ihrer Errichtung. Der Grund der Errichtung der Berliner Mauer war tatsächlich ein anderer als der des europäischen Grenzzauns. Es findet lediglich ein Vergleich, keine Gleichsetzung der Mauertoten mit den toten Flüchtlingen am Grenzzaun statt. Das es da auch Unterschiede gibt, dürfte klar sein. Daran scheiden sich nun die Geister, am Unterschied, und die Sieger schreiben in beiden Fällen die Geschichte. Es ist richtig, einen Unterschied zu machen zwischen freiwilligem Opfertum (Martyrium) und/oder zum Opfer gemacht bzw. geopfert zu werden. Dem haftet allem ein gewisses (meinetwegen auch rituelles) Pathos an. „Ebenso wie der Sieger die Geschichte schreibt, das heißt, sich seinen Mythos schafft, bestimmt er, was als Kunst zu gelten hat.“ (Ernst Jünger)
Insoweit stimmen auch Sie in das Geschrei der Sieger ein, obwohl Sie sich selbst als „Opfer“ (oder Geschädigter) der Geschichte bezeichnen. Verarmt in Folge des kalten Krieges (alleinige Reparationszahlungen - Ihre Ausführungen, die übrigens die These vom wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR stützt) und nichts dazubekommen nach der Vereinigung. Dieses Problem nach der Wende kennen viele, und sei es auch nur in der Abwertung der eigenen Biografie. Im Grunde hat Honecker in Nachfolge des Mauerbauherrn Ulbricht (Schutzwall nach außen) erst die Mauer totsicher gemacht und dann wie ein kleiner Mauerspecht („Vorwärts immer, rückwärts nimmer!") an deren Beseitigung gearbeitet. Das hätte selbst der Westen nicht besser hinbekommen, was Honecker für die deutsche Einheit getan hat. Erst Überholen ohne Einzuholen, der andere Weg auf Filzlatschen gegen das Yea, Yea, Yea des Westens, und danach die Aufführung der Spießbürger von Wandlitz. „Die Hauptmisere der DDR war das Verschwinden der Erotik aus der Politik.“ (Heiner Müller)
Die hat der Osten nun bekommen. Nur macht das allein den Kohl nicht fett. Dieser Art von Erotik fehlt leider jegliche Schönheit. Dem Müller blieb die Merkel erspart. Da kann man nur froh sein, dass mal jemand kommt und wenigstens so tut, als wäre eine Schönheit in der Politik noch möglich. Was meint, vielleicht noch eine Vision zu haben. Aber damit wird man dann wahrscheinlich von Helmut Schmidt zum Arzt geschickt. Wenn das jetzt zu flach war, entschuldige ich mich vorsorglich bei allen, die sich dabei auf den Schlips getreten fühlen.