Yes, we can't

von Esther Boldt

11. März 2009. Die Theaterwissenschaft ist eine große Erfinderin. Die Begriffsschöpfung hat hier Tradition, das Umkreisen ihres Gegenstandes aus immer neuen Richtungen und Blickwinkeln, unter der Ausprägung von stets neuen Begrifflichkeiten. "Performanzen des Nichttuns" heißt ein Sammelband, der wieder einmal eine neue Sichtweise begründen soll und von Barbara Gronau und Alice Lagaay, Mitarbeiterinnen des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Performativen" an der Freien Universität Berlin, herausgegeben wurde.

Sie möchten den 'umbrella term' der Performanz kritisch reflektieren und erweitern, der, von John L. Austin 1961 in die Welt gesetzt, eine beachtliche Karriere in den Geisteswissenschaften hinlegte. Als Performanz bezeichnete der Linguist die Realitäts-erzeugende Wirkung der Sprache, gerade in Form gesellschaftlicher Rituale und Konventionen.

Die Rückseite des Tuns

In der Theaterwissenschaft fiel diese Rückbindung von Ritual und Aufführung, Sprache und Verkörperung auf fruchtbaren Boden. Barbara Gronau und Alice Lagaay haben das "Denken des Performativen" jedoch im Verdacht, einseitig zu sein, auf die "Tätigkeiten des Produzierens, Herstellens und Erzeugens konzentriert". Sie möchten es um einen grundlegenden Aspekt erweitern, denn nicht nur das Handeln, sondern auch das Unterlassen von Handlungen könne performativ wirksam sein, Folgen zeitigen und Realität herstellen.

Diese These nun mutet banal an, denn mit jeder Handlung – auch und gerade auf der Bühne! – geht das Unterlassen einer ganzen Summe alternativer Handlungsmöglichkeiten einher. Gronau und Lagaay möchten den ihrer Meinung nach aktionistisch und positivistisch geprägten Begriff der "Performanz" um seine Rückseite erweitern, der Präsenz die Absenz hinzufügen, dem Tun das Nichttun, dem Vollzug den Entzug, dem Gelingen die Kapitulation.

Somit begreifen sie den Begriff der Performanz jedoch einfacher, als er angelegt ist – schon Austin hat auch Unglücksfälle berücksichtigt, in denen der Handlungsvollzug im Sprechen scheitert, etwa indem Fehler gemacht werden. Zudem lassen sie leider unter den Tisch fallen, dass diese Dialektik der Performativität bereits in zahlreichen Facetten aufgegriffen und reflektiert wurde, etwa in dem Begriff der "Abwesenheit" oder "Absenz", sowie in Forschungen über Leerstellen, Lücken und Spuren.

Alles andere als neu

Viele der Kriterien und Mittel, die die Herausgeberinnen für die "Performanzen des Nichttuns" anbringen, sind alles andere als neu: "Setzung von Leerstellen, (… das) Spiel mit Absenzen und der theatralen Aufführung bis hin zur endlosen Wiederholung und Überlagerung von Gesten, Zeichen und Formeln, sodass eine semantische Überdeterminierung erzeugt wird." Dies alles hat auch schon beispielsweise Hans-Thies Lehmann vor zehn Jahren unter dem Begriff des "Postdramatischen Theaters" subsumiert und analysiert.

Zudem wohnen den "Performanzen des Nichttuns" Probleme inne, die im Rahmen des Sammelbandes nicht differenziert behandelt werden. Woran erkennt man das Nichttun? Und wie stellt man seine Wirksamkeit fest, die die Autorinnen zum Kriterium für seine Rückbindung an die Performanz machen? Performanz hieße dann auch die Erkenn- und Wahrnehmbarkeit des Nichttuns als Nichttun, es bringt das Problem der Unerkennbarkeit von etwas mit sich, das auf der Grenze des Verschwindens operiert.

Auf der Grenze des Verschwindens

Diese Vagheitsmomente und Unschärfen schaffen letztlich mehr Unklarheiten, als sie beseitigen. So wirkt das breite Feld der Verweigerungstaktiken und Unterlassenspraktiken, das unter dem Leitbegriff versammelt wird, zuweilen beliebig – auch wenn einige sehr interessante Beiträge darunter sind. Das Spektrum reicht von sprachphilosophischen Untersuchungen zu Stille und Schweigen über mathematische Überlegungen zur Erfindung der Zahl Null, zu Hungerkünstlern und Anorexiepatientinnen bis zu künstlerischen Spätwerken.

Triftig sind dabei jene Ansätze, die eben die Entgegensetzungen und Enthüllungsgesten, deren sich die Herausgeberinnen bedienen, nicht verwenden. So entwirft beispielsweise Ludger Schwarte in "Die Kunst der Leerstelle. Sprachlosigkeit als Voraussetzung der Verständigung" Sprechen und Schweigen als voneinander untrennbare Phänomene, da Stille und Schweigen dem Sprechen vorausgehen und ihm nachfolgen, es aber auch in Form von Lücken und Pausen erst sinnhaft machen: "Dass wir etwas mit Worten tun, ist nur dann möglich, wenn ein Nicht-Tun uns unsere Sprecherposition zuweist."

Letztlich aber ist dies zu wenig, um einen neuen Begriff zu etablieren, der so zur Behauptung wird. Was leistet der Begriff, was andere Begriffe bisher nicht erfassten? Wie löst er das Paradox auf, das ihm innewohnt? Gronau und Lagaay bleiben die Antwort auf diese Fragen nicht nur im Vorwort, sondern auch in ihren eigenen Beiträgen schuldig, trotz oder wegen des aufklärerischen, schöpferischen Impetus', mit dem sie ihre Thesen vortragen.


Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.)
Performanzen des Nichttuns.
Passagen Verlag. Wien 2008. 171 Seiten. 22,00 Euro.

 

 

Kommentare  
Performanzen des Nichtstuns: merkwürdige Kritik
eine sehr merkwürdige kritik.
dass thesen des buches "alles andere als neu" wären, ist für ein buch das sich nunmal mit philo. thema beschäftigt ein merwürdiger vorwurf. die aufgabe der technik ist es neuigkeiten zu liefern, die philosophie ist nicht gut darin neuigkeiten von sich zu geben.
und auch dass sie sagen;
"Diese These nun mutet banal an, denn mit jeder Handlung – auch und gerade auf der Bühne! – geht das Unterlassen einer ganzen Summe alternativer Handlungsmöglichkeiten einher." ist befremdlich. banalität ist die tiefe der philosophie. in der philosophie geht es darum sich über das wundern was banal ist, oder wie wittgenstein gesagt hätte, dort stehen bleiben wo andere weitergehen, wobei das weitergehen nichts verwerfliches ist.
"Was leistet der Begriff, was andere Begriffe bisher nicht erfassten? Wie löst er das Paradox auf, das ihm innewohnt?"--> auch das: seit wann soll denn die paradoxie gelöst werden? ist die philosophie rätsellösen? was für eine peinliche philosophie die nur rätsel löst.
und auch dass ein buch womöglich vor 10 jahren diese thematik besprochen haben mag: jagut, dann kauen die autoren eben alles noch einmal durch, auch recht üblich, philosophen sind wie kühe, sie kauen dasselbe tausendmal wieder und wieder aber der zauber ist ja der (sofern nicht abgeschrieben wurde) dass es jedesmal etwas anderes ist- jedes mal wird ein wenig anders gekaut.
Performanzen des Nichtstuns: Ganz wunderbar
Also ich finde sowohl das Thema als auch den Sammelband ganz wunderbar. Das Nichttun ist (und das wird in den Beiträgen sehr deutlich) weder eine "banales" noch ein "lösbares" Paradox, sondern mit dem Tun auf komplizierte Weise verklammert. Die Rezensentin verwechselt außerdem das Scheitern des Tuns mit dem Nichttun bei Austin und unterstellt Hans Thies Lehmann ein Thema, dass er gar nicht bearbeitet hat. Ausserdem scheint es, als habe die Rezensentin nur die Einleitung gelesen und daraus falsche Schlüsse gezogen. Ich finde dagegen, dass erst die Verbindung der vielen Perspektiven (Tableaux Vivant, Mathematik, Schweigen usw.) in dem Buch zeigt, wie reich und vielschichtig das Thema ist.
Performanzen des Nichtstuns: an Canetti von Boldt
Lieber Canetti,
es freut mich, dass Sie offenbar mehr Profit aus der Lektüre geschlagen haben als ich. Ich habe die Einleitung als Absichtserklärung gelesen und darum die Beiträge des Bandes insgesamt an den dort formulierten Absichten gemessen, darum zitiere ich viel aus ihr. Dass die Beiträge selbst teilweise höchst anregend sind, steht auch in meiner Kritik, nur die gemeinsame Klammer ging für mich weniger auf. Warum Sie unterstellen, ich verwechselte "das Scheitern des Tuns mit dem Nichttun bei Austin" ist mir nicht klar, könnten Sie diesen Vorwurf präzisieren? Ich finde Austins Analyse der Unglücksfälle ziemlich eindeutig und unmissverständlich.

Und zu Hans-Thies Lehmann und dem Feld, dass er ihrer Meinung nach nicht beackert hat, gebe ich Ihnen gern ein Beispiel, er hat u.a. einen wunderbaren Aufsatz über Obszönität geschrieben, über Performativität zwischen Darstellbarkeit und Nicht-Darstellbarkeit, Tun, Nicht-Tun und Auslassung: „Verstehen wir das Obszöne als das/den Moment von Risiko, Überschreitung und Verantwortung des Subjekts, so ist diese Obszöne gerade das, wovon auf der Szene des Theaters alles abhängt. Nicht im Gezeigten (klassische Repräsentation), nicht einmal im Zeigen (Brecht), sondern im paradoxen Versuch, in alles Zeigen das Sich-Zeigen einzutragen, besteht die Chance […] das Unmögliche, Das Nicht-Zeigbare, das Potentielle, das keine aktuelle, reelle Vorhandenheit annimmt, zu artikulieren, während auf etwas anderes, irgend etwas, gezeigt wird. Darum geht es im Theater, davon sprechen wir, wenn vom Obszönen die Rede ist: um eine Spur gestischen Kommunizierens, die selbst in aller Sichtbarkeit unsichtbar bleibt, die weder dem Gezeigten noch dem zeigenden Subjekt ganz zugehört, sondern sich nur (an)deutet als öffnende, eröffnende, unfixierbare Geste/Sphäre eines Zwischen. Zeigen und Sich-Zeigen.“ Und er beschreibt dies anhand von einer Choreografie Jennifer Laceys: "'This is an epic', eine Choreografie nicht des 'Da-Seins', des 'Mit-Seins', sondern des, sagen wir einfach 'Nur-Seins'. Wenn Körper uns angehen wie wenn sie geradezu Lust am Totsein hätten, am Faulen, am Da-Liegen, toter Käfer auf dem Rücken, Dahocken wie ein Hund, Armeflattern im Vogelwerden, Zischen, Schnurren und Knurren. ..." (Hans-Thies Lehmann: (Sich)Darstellen. Sechs Hinweise auf das Obszöne. In: Krassimira Kruschkova (Hg.): Ob?scene. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film. Böhlau: Wien/Köln/Weimar 2005, 33-48)

Das ist m.E. eine ziemlich deutliche Antwort beispielsweise auf die Frage der Herausgeberinnen, inwiefern „Prozesse des Unterlassens und Auslassens performative Effekte generieren“ können. Darum kann ich die Kritik der Autorinnen, die Wirksamkeit des Aus- und Unterlassens als Rückseite des Performative Turns sei bisher wissenschaftlich zu kurz gekommen, nicht teilen. Es gibt ja auch einschlägige Monographien wie Gerald Siegmunds „Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes“ bei transcript 2006.

Freundliche Grüße
esther boldt
Performanzen des Nichtstuns: festgefahrene Kritiken
ich weiß nicht, ob das was ich sagen möchte hier hingehört, hier - wo einem eine sehr seriöse brise entgegen weht, selbst online- aber ich erlaube mir der rezensentin arno böhler zu empfehlen. auch ihre schreibweise erinnert mich sehr an herrn böhler, er unterrrichtet im übrigen in wien an der universität und beschäftigt sich mit theorien der performanz, nietzsche u.a.
obwohl auch er im selben verlag wie die autoren, also im passagen verlag erschienen ist, fehlt leider ein einführungstext von ihm zu diesem buch, vielleicht hätte diese einführung sie positiver gestimmt. oder vielleicht lässt der verlag ihnen bücher von ihm zukommen.
aber wenn ich sie richtig verstanden habe, ist das buch ja lesenswert, sie teilen nur die schwerpunkte einiger passagen nicht.
in jedem fall ist ja böhler eine gewisse autorität in diesem bereich, ja selbst zum tanz und zum theater hat er einiges geschrieben, wenn ich mich nicht irre- sogar essays.
wie schade dass er die autoren bei diesem buch nicht ein wenig geholfen hat, um die inhalte leichter zu etablieren. vielleicht wenn sie einmal in wien sind, lernen sie herrn böhler persönlich kennen. auch er hat ein sehr genaues bild von der performanz im allgemeinen und im speziellen genauso wie sie. vielleicht ist hier sogar eine kleine seelenverwandschaft in der art wie sie kritisieren.
in jedem fall ist der versuch der autoren geglückt, ihr buch wird besprochen, umso neugieriger ist man bei so festgefahrenen kritiken, wobei das natürlich nicht wertend gemeint ist.
ach wie schön wäre es wenn in naher zukunft ein buch erscheinen würde, vielleicht auch im passagen verlag mit dem titel " performanz des reinfalls". ja das würde ich mir signieren lassen.
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