Ein Fenster aufgestoßen

15. April 2024. Seit den Gezi-Protesten hat die Theaterszene in der Türkei zu neuer Form gefunden. Beim diesjährigen Showcase des Freien Theaters in Istanbul – mitten in der entscheidenden Phase des Kommunalwahlkampfs – erlebte man faszinierende Parallelwelten zu den lange betonierten Verhältnissen.

Von Esther Slevogt

Die İstiklal Straße mit Straßenbahn zum Taksim-Platz und CHP-Wahlkampf-Wimpeln © Esther Slevogt

15. April 2024. Dass Ekrem İmamoğlu am 31. März die Kommunalwahlen gewinnen würde, schien eher ungewiss, als kurz zuvor die zweite Ausgabe von "TheatreIST" an den Start ging, Showcase der freien Theater Istanbuls. Die letzten Tage İmamoğlus im Amt als Oberbürgermeister liefen ab und die Befürchtung war groß, es würde keine zweite Amtszeit mehr geben: Ekrem İmamoğlu, der vor fünf Jahren als Kandidat der laizistischen Oppositionspartei CHP – (das ist die 1923 von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gegründete Republikanischen Volkspartei) – überraschend die Kommunalwahlen gegen die rechtspopulistische, islamisch-konservative AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gewonnen hatte und trotz vehementer Anstrengungen Erdoğans, dieses Wahlergebnis anzufechten, Oberbürgermeister von Istanbul geworden war. 

So waren Sorgen um die Zukunft während des ganzen Festivals präsent, immer wieder ploppte das Thema in den Gesprächen auf: Was wird "when it's getting worse"? Wenn Erdoğan weiter an den Fundamenten der türkischen Demokratie rüttelt. Wenn sein Kandidat Murat Kurum die Kommunalwahl gewinnen und das Amt des Oberbürgermeisters der 18-Millionen-Metropole Istanbul wieder an die 2001 von Erdoğan mitgegründete AKP gehen würde.

"Könnten Sie mich vielleicht erwürgen?"

Noch aber amtierte Ekrem İmamoğlu in diesen letzten, leicht verregneten Märztagen, dessen Kulturverwaltung diesen Showcase wesentlich mitfinanzierte. Während der Pandemie gegründet und zum ersten Mal 2022 veranstaltet: als Schaufenster für die speziell nach der Pandemie stark ins Hintertreffen geratenen Freien Theater und Compagnien. Aber auch als Schaufenster für eine vielstimmige und weltoffene Türkei, samt ihrer lebendigen, radikal jungen und von den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen geprägten Theaterszene. Etwa tausend neue Produktionen kommen monatlich allein in Istanbul heraus, auf über 150 Bühnen wird hier jeden Abend Theater gespielt. Und so wurden die Besucher*innen des Showcase denn auch schnell in theatrale Parallel- und Gegenwelten gezogen, wo sich aber schon so etwas wie Zukunft zu entpuppen schien.

In die Welt von Şiva und dem Huhn etwa, das seit Jahrtausenden an Şivas Seite in einer mythischen Zwischenwelt lebt: Wie die hexenhafte Şiva selbst ist das Huhn zur Unsterblichkeit verdammt – also auch zu ewigem quälenden Stillstand. Schon gleich nachdem dieses menschengroße und absonderliche Wesen sich aus seinem Felsennest erhoben hat, beklagt das Huhn diverse fehlgeschlagene Versuche, sich umzubringen, um endlich sterben zu können. Und wendet es sich in dieser Sache hilfesuchend auch ans Publikum. "Ach, Sie sehen wie ein netter Mensch aus. Könnten Sie mich vielleicht erwürgen!?"

"Çirkin" ("Freak") heißt das von Güray Dinçol inszenierte surrealistische wie enigmatische Stück von Firuze Engin. An seiner Oberfläche erzählt es die Geschichte von Şiva als die Geschichte der Ausgrenzung eines Wesens, das in jeder Hinsicht aus der Norm fällt, von Lüge und Betrug. Es ist aber auch die Geschichte einer Schöpfung, die auf Abwege und in die Agonie geriet. Die Szenerie ist archaisch und futuristisch zugleich. Die Bühne (Veli Kahraman) besteht aus ein paar rudimentären wie kargen Naturzitaten. Darin tauchen Şiva und das Huhn wie zwei Fabel-Figuren aus einem Videospiel auf.

"Çirkin" von Firuze Engin: Nihal Yalçın (Şiva) und Onur Berk Arslanoğlu (Huhn) im Hope Alkazar Theater, das sich an der İstiklal Straße in Beyoğlu (und den grunderneuerten Räumen eines der ältesten Kinos Istanbuls) befindet © Esther Slevogt

All das wird von animierten 3D-Projektionen (Lalin Akalan, Amir Ahmadoghlu) eingefasst, die den gesamten Raum ergreifen. Wasserfälle aus Licht, animierte Details der Raumarchitektur: die physischen Phänomene werden im Immateriellen aufgelöst, das rauschhafte immersive Setting verflüssigt den Raum und alles, was sich darin befindet. Als zerstörerische wie illusionistische Macht steht es auf faszinierende wie schlüssige Weise dem sehr körperlichen Spiel der beiden Schauspieler gegenüber. 

Firuze Engin, die 1984 geborene Autorin des Stücks, hat in "Çirkin" mythische Motive mehrerer, in der Türkei wirksamer Kulturen verwoben. Sie selbst stammt aus einer Familie mit arabischen und armenischen Wurzeln, wie sie im Nachgang des Festivals in einer persönlichen Erklärung schreibt. Sie sei aber auch stark von der Stadt inspiriert worden, in der sie aufwuchs: "Edirne liegt an der westlichen Grenze der Türkei, in der Nähe des Balkans. Seine Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Familien mit Wurzeln auf dem Balkan und dem nomadischen Volk der Roma, die sich nach der Gründung der türkischen Republik in dieser Region niederließen."

Aufbruch mit Brecht

Eingeflossen sind in das Stück aber auch anatolische Legenden und Volkstheatertraditionen. Ihr Ziel sei gewesen, schreibt Engin,"eine multikulturelle Welt zu erschaffen, die ganz und gar märchenhaft bleibt, und in der Bilder aus den Kulturen der Roma, der Araber, Armenier, Kaukasier und Perser zusammenkommen." Die faszinierend in Szene gesetzte Geschichte dieses zur Unsterblichkeit verdammten Paares endet schließlich mit dem Tod des Huhns. Aber ist das jetzt ein Happy End? Denn es bleibt offen, inwieweit damit auch der Zyklus von Werden und Vergehen, Voraussetzung aller Erneuerung, wieder ins Recht gesetzt ist.

Fragmente einer multikulturellen Welt: Nihal Yalçın und Onur Berk Aslanoğlu in "Çirkin" © Salih Üstündağ

Gleich am zweiten Tag hatte Yavuz Pekman, Professor für Theatergeschichte (und auch Schauspieler), den internationalen Festivalgästen einen kurzen Überblick über die türkische – ja, eigentlich osmanische Theatergeschichte gegeben. Ihre Wurzeln stecken tief im Volkstheater und in mündlichen Traditionen von Überlieferung. Feststehende Theaterbauten gab es erst, nachdem der osmanische Sultan Abdülmecid in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der kriselnden Weltmacht die Orientierung Richtung Westen verordnet hatte. Da wurde das Theater dann gleich als Mittel eingesetzt, die Verwestlichung auf dem Weg dieser neuen Kulturtechnik in der Gesellschaft zu implementieren. Die ersten Schauspielgrößen dieses neuen Theaters im osmanischen Reich sind im 19. Jahrhundert dann Armenier gewesen, die als in der Regel christlich Sozialisierte nicht mit den Gesetzen des Islam in Konflikt geraten konnten.

Bis dahin hatten Wandergruppen oder solistische Erzähltheaterkünstler (sogenannte "Meddâhs") Theater in Dörfern, in Gaststätten, Kaffeehäusern und öffentlichen Plätzen gemacht: ein Theater des Wortes und des Storytellings, nicht der Als-ob-Darstellung von Wirklichkeit. Gegen jeglichen Realismus habe schon das Bilderverbot des Islam gestanden. Die Schlusspointe von Yaviz Pekmans Ritt durch die osmanische Theatergeschichte, die von so vielen unterschiedliche Kulturen und Kulturtechniken geprägt worden ist, war dann ebenso überraschend wie einleuchtend: bei der Zusammenführung von westlicher und östlicher Theatertradition nach dem Zweiten Weltkrieg habe besonders versöhnend Bertolt Brechts "Episches Theater" gewirkt, das lieber Zeigen als Darstellen wollte – und auf Offenlegung der Theatermittel und statt auf Illusionsproduktion drang.

Update des Wandertheaters

Das war an die ohnehin epische Tradition des türkischen Theaters mühelos anschlussfähig. In gewisser Weise war das Theater in der Türkei also schon immer postdramatisch, weshalb jetzt sogar jene Produktionen die westliche Zuschauerin modern anwehten, die oberflächlich betrachtet eher folkloristisch daher kamen. Nicht selten traten bei diesem Showcase außerdem unterm Gewand der Tradition listig ganz junge Theatemacherinnen und -macher mit ausgesprochen aufmüpfigem Gedankengut an.

Vitrine mit Programmheften in der Kadıköy Boa Sahne samt Foto des allgegenwärtigen Gründers der modernen Türkei Kemal Atatürk sowie Sponsorenlogo von der BTC Turk © Esther Slevogt

Die Spieler*innen der Kadıköy Boa Sahne etwa – Sahne heißt übrigens "Bühne" auf Türkisch – in ihrem Stück "Events of History That Never Took Place / Tarihte Yaşanmamış Olaylar". Sie treten an wie eine Wandertheatergruppe aus alten Zeiten, die mit ihrem Theaterzelt über die Dörfer zieht und kleine Szenen aus der Weltgeschichte zum Besten gibt. Mit Hilfe einer archaischen Uhr wird in die jeweilige Epoche gereist: ins Babylon des sagenhaften Herrschers Sardanapal etwa oder ins antike Rom, wo man gerade Caesars Ermordung plant.

Wir kommen ins England von Elisabeth I. und geraten sogar kurz an den Hof eines ominösen brandenburgischen Kurfürsten, an dem gemeuchelt und gemordet wird. Allerdings stimmen die erzählten Geschichten nie mit der bekannten Überlieferung überein. Mit diebischer Freude produziert hier die junge und unglaublich spielfreudige Truppe um den Regisseur Emrah Eren singend und tanzend Fake-News auf Fake-News über historische Ereignisse und kommentiert in witzigen Zwischentexten immer wieder ihr Tun.

Persönliche Akte des Widerstands

Mit ihrem burlesken und komödiantisch zugespitztem Spiel sensibilisieren sie dabei für die Einsicht, dass im Grunde jegliche Art von Geschichtsschreibung eigentlich ein Diskurs der Mächtigen ist, mit dessen Hilfe Dinge so frisiert werden, wie sie dem Machterhalt und daran geknüpften Machenschaften gerade dienlich sind. "In diesem Spiel sehen Sie keine Parodie auf historische Ereignisse, sondern die Geschichte selbst, die eine Parodie auf die Realität ist", heißt es gleich am Anfang des Abends, der auf Erzählungen des bedeutenden Dichters und Journalisten Ülkü Tamer (1937 – 2018) beruht.

Die letzte Episode wird in kurdischer Sprache gespielt und auf offener Bühne ins Türkische übersetzt. Der Schauspieler Ammar Özçelik hatte bisher nur stumme Rollen gespielt, eine Katze im alten Ägypten zum Beispiel. Dass er auf der Bühne die türkische Sprache nicht benutzen will, und nun sein Spiel in kurdischer Sprache durchbringt, ist (s)ein ganz persönlicher Akt des Widerstands.

Publikumsgespräch mit Regisseur und Ensemble von "Events in History" © Esther Slevogt

Eine ziemliche listige Aneignung der osmanischen Theatertradition hat auch der Dramatiker der Kıvanç Kılınç unternommen, der Carlo Goldonis italienischen Commedia dell'Arte Klassiker aus dem 18. Jahrhundert "Diener zweier Herren" ins osmanische Reich um 1900 und die Volkstheatertradition des Orta Oyunu verlegt. Wie bei der Commedia dell'Arte gibt es auch hier keine Charaktere sondern lediglich soziale Typen, mit denn sich dann gesellschaftliche Verhältnisse quasi gleichnishaft erzählen lassen.

In Kıvanç Kılınçs "Iki Efendinin Uşağı alaturka" wird aus dem Diener Truffaldino nun der hinterhältige Zekai vom Schwarzen Meer. Aus Beatrice wird Firuze beziehungsweise Hüsnü und Pantalone trägt plötzlich eine jüdische Kipa und heißt Yakub, der seine Tochter Gülnihal (bei Goldoni Clarice) mit Dilaver, dem Sohn von Alim Seyfettin verheiraten will, der wiederum ein heuchlerischer muslimischer Geistlicher ist.

Goldoni ins Osmanischen Reich transferiert

Goldonis Plot bleibt erhalten, wird aber via diverser Sprachfärbungen, "türkisierter" Namen und Typen aus der hochformalisierten italienischen Barockgesellschaft in eine quirrlige multikulturelle osmanische Gesellschaft umgeräumt. Das Grundübel bleibt natürlich eine betonierte Gesellschaftsordnung, getragen von einer opportunistischen Elterngeneration, die Geld, Religion und Status über das Glück ihrer Kinder stellt.

Die Übersetzung des Stoffs in den Kosmos des Osmanischen Reichs ist auch deshalb bemerkenswert, weil das nach dem ersten Weltkrieg untergegangene Großreich (aus dem die meisten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens hervorgingen) hier nicht als Trägerin imperialistischer Großmachtträume, sondern als Kultur- und Möglichkeitsraum für Diversität wiederentdeckt wird, in dem unterschiedlichste Kulturen und Ethnien, Religionen und Lebensformen gleichermaßen ihren Platz finden.

Das Ensemble von "İki Efendinin Uşağı Alaturka" © Cihangir Atölye Sahne

Produziert hat dieses von Muhammet Uzuner inszenierte (und Hicran Akın virtuos choreografierte) Singspiel mit Livemusik als Goldoni ala Turka (wie die Macher diese Adaption selber nennen) die Cihangir Atölye Sahne (CAS), 2017 als alternativer Ausbildungsort für Theater gegründet. Man lernt und lebt hier im Kollektiv – die Gründung richtet sich bewusst gegen das Meister-Schüler-Modell klassischer Kunstausbildung in der Türkei und ist mit seinem Ansatz auch Statement und Gegenentwurf zu jeder Form von Autokratie.

Freie Theater und Compagnien in Istanbul waren seit den Gezi-Protesten des Jahres 2013 stark unter Druck geraten: durch Zensur, die Kürzung staatlicher Zuschüsse und die starke Abwertung der Kultur durch die islamisch-konservative Politik. Die Proteste gegen Überbauungspläne des Parks in der Nähe des Taksim Platzes sind zu einem Symbol zivilgesellschaftlichen Widerstandes gegen die autoritäre Erdoğan-Regierung und den religiösen Umbau des säkularen Landes geworden. Aber auch für die Spaltung der türkischen Gesellschaft. Trotz des Drucks nahm die Zahl der Theatergruppen seitdem ebenso zu, wie die Zahl der Produktionen.

Gezi-Proteste als Wegbereiter neuer Kunst

"Gezi löste eine Bewegung aus, die sich rasch im ganzen Land ausbreitete und allen, die unter der repressiven Atmosphäre litten, etwas Erfrischung brachte", gab die türkische Kritikerin Handan Salta schon vor einem Jahr zur Eröffnung der ersten "TheatreIST"-Ausgabe in einem Interview zu Protokoll. Salta ist Mitglied der Auswahljury des Festivals, das sie 2023 mitinitiiert hat. Darüber hinaus gehört sie zum Organisationsteam. "Gezi ist auch in Bezug auf Formen des Widerstands, der Suche nach Freiheit und Solidarität ein Meilenstein in der Geschichte", sagt sie.

Seit Gezi hätten gerade feministische Gruppen, LGBTQI-Aktivisten, Kurden, Arbeiter und die Medien vielen Menschen immer wieder Mut gemacht. Gezi sei außerdem, so Handan Salta, vom Wesen her bereits eine performative Bewegung gewesen. Während der Proteste im Park und auf der Straße habe es Konzerte, Tänze und Performances gegeben. "Sie ebneten im Rahmen einer hochpolitischen Bewegung den Weg für neue künstlerische Ausdrucksformen." Ein paar beispielhafte Formate und Produktionen des enormen Outputs der Szene hat dieser Showcase hier nun gebündelt präsentiert.

Theaterkritikerin Handan Salta © Esther Slevogt

Das Stück "The Last Day / Geçen Gün" von Naz Erayda und Kerem Kurdoğlu ist eine Mischung aus Tanz-, Musik- und Sprechtheater. Ein Mann und eine Frau bewegen sich in streng choreografierte Bewegungen aufeinander zu, aneinander vorbei, voneinander fort und wieder zueinander hin. Sie stehen stellvertretend für Menschen, die aus dem sicheren Cocon des Privaten hinaus in einen bedrohlichen, von Gewalt und Widersprüchen geprägten öffentlichen Raum getreten sind.

Unterlegt ist alles mit dem suggestiven Sound von Live-Percussionsmusik der Tophane Noise Band, die ihre Instrumente aus dem Müll der Metropole gebaut haben: aus alten Fahrrädern, Plastikflaschen, Rohren, Blechtonnen und anderem Gerümpel, mit dem sie nun einen dystopischen Sound produzieren.

Symphonie einer Großstadt: Die Performer*innen Esme Madra und Ozan Çelik Ozan in: "The Last Day" © Beykoz Kundura Sahne

Schauplatz ist ein Fabrikgebäude auf dem weitläufigen Gelände einer ehemaligen Schuhfabrik direkt am Bosporus im Norden Istanbuls, die zum Kulturort umgebaut wurde: Beykoz Kundura mit ihrem hohe Hallen aus dem 19. Jahrhundert, die aufwändig und mit viel Sinn fürs Detail um- und ausgebaut.

Rütteln an betonierten Verhältnissen

Hier gab es auch das Stück "Misket" zu sehen: die Geschichte von Ersin und Deniz, zwei Köçeks (das sind traditionelle männliche Tänzer), die (in Frauenkleidern) in einem Etablissement namens "Misket" zu türkischer Volksmusik tanzen. Diese Tradition ermöglicht dem Paar, das seine Homosexualität vor der konservativen Gesellschaft verbirgt, hier zumindest verdeckt zu leben. Schon die Art, wie Orkuncan İzan und Turgay Korkmaz, der gleichzeitig der Autor des Stückes ist, tanzen, ihre Röcke schwingen und dabei die herzzerreißenden Texte der traditionellen Liebeslieder zu Gehör gebracht werden, lädt das Spiel so emotional auf, dass man gebannt der Geschichte folgt, die das Stück erzählt: Deniz hält Versteckspiel und sozialen Druck nicht mehr aus, will sich trennen, eine Frau heiraten, und sich zwingen, ein heterosexuelles Leben zu führen.

Diese eigentlich unmögliche Trennung wird als intensives Kammerspiel verhandelt und zugespitzt, in dem lange zu befürchten ist, dass Deniz den Geliebten nicht vielleicht umbringen wird, weil er die Trennung anders nicht schafft. Es gibt so gut wie nichts an Ausstattung, immer wieder rücken Tanzszenen die Handlung von den Spielern fort, und die epische Distanz bleibt gewahrt. Dass die Geschichte gut ausgeht, enthüllt sich erst in einem letzten Moment ungeheurer Erleichterung.

So ist es ein Festival der Stoffe, die an betonierten gesellschaftlichen Verhältnissen rütteln, wie auch die streng komponierte Performance "How To Forget in Ten Steps / On Adımda Unutmak", mit der Şahika Tekand die Leiden der Männer am Korsett der patriarchalen Gesellschaft und ihrer Männlichkeitsdefinitionen in einer streng komponierten Performance durchexerziert. Şahika Tekand ist die First Lady des türkischen Theaters, und auch eine bekannte Film- und Fernsehschauspielerin. Seit 1990 realisiert sie als Regisseurin mit ihrem Studio Oyunculari eigene Produktionen.

Misket C Faraza Tiyatro"Misket" © Faraza Tiyatro

Mit "How to forget…" hat sie jetzt eine berühmte Inszenierung von 2010 neu aufgelegt, die im Rahmen von Ruhr 2010 herausgekommen ist. Oder die kleine Komödie "Single Use Story / Tek Kullanımlık Hikaye" der Gruppe Kumbaracı50, die von drei Männern erzählt, die in den täglichen Routinen des Stadtteils, in dem sie leben, plötzlich entdecken, wie das Gefühl ihrer eigenen kleinen "Wegwerf-Existenz" mit den großen Problemen der Klimakrise und dem veränderten städtischen Leben zusammenhängt.

Aber es ist auch ein Festival der Performerinnen und Performer: Onur Berk Aslanoğlu, das Huhn in "Çirkin", Orkuncan İzan und Turgay Korkmaz aus "Misket" oder Onur Karaoğlu, der mit seiner, nach einem bekannten Volkslied benannten Performance "Boşu Boşuna" unternimmt, die Volkslied-Tradition Aşık in die Gegenwart überführen: ästhetisch, aber auch mit zeitgenössischen Themen wie Klima und Zerstörung der Umwelt zu erneuern. Oder die Schauspielerin Özge Arslan, die in Pelin Temurs One-Woman-Adaption von Lorcas berühmtem Stück "Bernarda Albas Haus" fünf verschiedenen Frauenfiguren unterschiedlichsten Alters spielt, und immer nur durch kleine gestische Verschiebungen die jeweilige Figur unverkennbar markiert. Zwischendurch präsentiert sie durchdringende Fandango-Lieder oder tanzt kurz einen Flamenco an. Und liefert ansonsten bedrückendes Anschauungsmaterial, wie Frauen in patriarchal strukturierten Gesellschaften zu Komplizinnen ihrer eigenen Unterdrückung geworden sind.

Festival TheaterIST
Istanbul, 11. bis 17. März 2024 

Organisation, Planung und Durchführung: Dr. Handan Salta, Prof. Dr. Hasibe Kalkan, Assoc. Prof. Senem Cevher & Prof. Dr. Nihal Kuyumcu 

theatreist.com.tr 

Offenlegung: Die Übernachtungskosten der Autorin wurden vom Festival getragen, die Reisekosten übernahm das Goethe-Institut Istanbul. Im Rahmen des Festivals hat die Autorin an der Philosophischen Fakultät der Universität Istanbul (Abteilung Theaterkritik, Dramaturgie & Dramatisches Schreiben) bei Prof. Hasibe Kalkan, Mitglied der Auswahljury des Festivals, einen zweitägigen Workshop über Theaterkritik gegeben.

Kommentare  
Theaterbrief Istanbul: Toller Bericht
DANKE FÜR DIESEN TOLLEN BERICHT!!!!
ES LEBE DIE TÜRKEI!
Theaterbrief Istanbul: Beeindruckend
"Etwa tausend neue Produktionen kommen monatlich allein in Istanbul heraus, auf über 150 Bühnen wird hier jeden Abend Theater gespielt." Beeindruckend, welche Dimension sich in der freien Szene der Türkei (Istanbul) auftut.
Danke für diesen spannenden Einblick und die vielen Eindrücke! (Und für all die Sonderzeichen) Gut, dass nachtkritik.de die Szene im "Nachbarland" Türkei angemessen würdigt.
Wie wurde das Festival rezipiert? Waren die Vorstellungen gut besucht? Ist anzunehmen, bei dem kulturhungrigen Metropolenpublikum.
Theaterbrief Istanbul: Zahlen-Rätsel
Etwa 1000 neue Produktionen jeden Monat, auf 150 Bühnen täglich gespielt … sind die Relationen logisch?

1000 neue Produktionen pro Monat = 33 neue Produktionen pro Tag. Oder 12.000 Neuproduktionen pro Jahr. Dazu noch die, die vorher Premiere hatten, also 20000 - 30000 unterschiedliche Theaterabende in einem Jahr???

Wo sind die Bühnen? Ausstattung? Wieviele Theaterbesucher gibt es? Wie oft geht einer ins Theater? Leben die Theaterleute von den Kasseneinnahmen, wo doch keine staatliche Subventionen gibt? Wie ist der Umgang mit der Inflation?

Wieviele Theaterschaffende stemmen dieses Volumen? Wenn ein Schauspieler im Jahr in 2 Produktionen spielt und eine Produktion im Durchschnitt 3 Schauspieler benötigt, dann gibt es wohl 18000 aktive Schauspieler. Wieviele Schauspielschulen werden benötigt? Oder zählen die Kindergartendarbietungen zu diesen 1000 neuen Produktionen?

Wie informieren sich die Istanbuler über die Produktionen? Gibt es eine Webseite? Wie viele Kritiker gibt es? Wo schreiben Sie? Wieviele Kritiken schreibt durchschnittlich eine Kritikerin / ein Kritiker?

Oder ist es ein Informationsfehler, eine Phantasie?

Kann das Rätsel jemand lösen?


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(Liebe:r Pfeffer, die Frage, ob das nicht sehr viele Inszenierungen seien, hatte sich auch Esther Slevogt vor Ort gestellt – die Zahl ist daher von der Festivaljury bestätigt. Im Großraum Istanbul leben zudem mehr als 15 Millionen Menschen, das Theaterangebot ist offenbar entsprechend reich.)
Theaterbrief Istanbul: Neidisch?
Der gepfefferte Kommentar lässt vermuten, dass da jemand neidisch ist.
Es muss ja nicht gleich “ Es lebe die Türkei“ sein, aber eine Millionenmetropole kann auch Kulturmetropole sein.
Theaterbrief Istanbul: Sinnvolle Fragen
Ich kann mich nur Pfeffer anschließen. Danke für die sinnvollen und kritischen Fragen.
Theaterbrief Istanbul: Aufführungszahl
Die Zahl von 150 Aufführungen pro Tag mag überraschen, findet sich aber immer wieder in Berichten über die Szene, wie auch hier: https://www.critical-stages.org/17/the-contrasting-landscape-of-theatre-in-turkey-resisting-with-theatre/
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