Rosenkranz ins Gesicht

Warschau, im Februar/März 2017. Olivier Frljićs Inszenierung "Fluch" (auf Polnisch "Klątwa") nach dem Drama von Stanisław Wyspiański hat in Polen ein mediales und politisches Gewitter sondergleichen verursacht. Intendant, Regisseur und beteiligte Schauspieler wurden auf das Wüsteste von Demonstranten beschimpft, das Publikum hingegen reagierte begeistert und applaudierte dem Mut der Künstler. Was hier passiert, zeigt deutlich, wie stark die Spaltung der polnischen Gesellschaft mittlerweile ist und welche Rolle die Regierung dabei spielt.

Von Natalia Staszczak-Prüfer

6. März 2017. Wir schreiben den 6. März 2017, Teatr Powszechny in Warschau. Gleich beginnt eine der Vorstellungen von "Fluch". Es ist schwierig, sich vorzustellen, was für ein Gedränge noch vor zwei Wochen vor dem Theater geherrscht hat – samt Polizei und Bodyguards. Leute beleidigten sich gegenseitig, Gebete waren zu hören, man sah Transparente wie: "Das ist kein Theater, das ist ein Puff".

Denkt man an diese Vorkommnisse zurück, dann macht das große Poster einer anderen Inszenierung des Hauses ("Wut" von Elfriede Jelinek) einen noch größeren Eindruck: Der Satz "Fürchtet Gott" ist durchgestrichen, darunter steht stattdessen der Satz: "Fürchtet den Menschen".

Demonstranten vor dem Teatr Powszechny/Warschau © Katarzyna Laskowiecka

Über die Proteste kurz nach der Premiere spreche ich mit einigen Zuschauern: "Vor der Vorstellung haben junge, attraktive Männer plötzlich ihre Rosenkränze rausgeholt und angefangen zu beten. Ich habe gedacht, dass das schon die Inszenierung war", erzählt mir Katarzyna Kułakowska, Doktorandin der Kulturwissenschaften an der Warschauer Universität. "Sie haben intensiv in die Augen der Zuschauer geschaut, ihre Gebete klangen, als würden sie mich verfluchen. Ich dachte, dass mir gleich mit dem Rosenkranz ins Gesicht geschlagen werde."

Dass die provozierende Inszenierung von Oliver Frljić, der auch in Deutschland bereits für Furore sorgte (etwa mit Balkan macht frei am Residenztheater München), für heftige Reaktionen sorgte, verwundert kaum. In einem Video-Gespräch erläutert der Regisseur aus Kroatien das Ziel seiner Arbeit: "Ich versuche die wesentlichen neuralgischen Punkte der jeweiligen Gesellschaft zu erfassen. Ich denke, dass ich das Recht habe, jede Institution zu kritisieren, weil es öffentliche Institutionen sind. Diese Inszenierung kritisiert die katholische Kirche als eine Institution, nicht den persönlichen Glauben."

Hass-Mails und Morddrohungen

Auf die Frage, ob sie derartige Reaktionen nach der Premiere erwartet habe, antwortet die Presseabteilung des Teatr Powszechny: "Wir haben erwartet, dass das Berühren von Tabuthemen mit solch starken Mitteln eine Kontroverse in der polnischen Gesellschaft verursachen kann. Hass-Mails und direkte Morddrohungen sind allerdings schwierig zu akzeptieren, besonders für die Schauspieler. Wir haben auch nicht erwartet, dass Fragmente illegaler Mitschnitte durch verschiedene Medien veröffentlicht werden, was die Meinung des Publikums negativ beeinflusst hat."

Und hier liegt das Problem: Die Inszenierung wurde bislang nur ein paar Mal gespielt. Einen Skandal hat sie verursacht, weil viele Journalisten und Politiker darüber auf der Basis jener kurzen Fragmente im Internet oder der Meinungen von anderen urteilen. Fast jede Zeitschrift, fast jedes publizistische Programm im Fernsehen hat die Vorstellung zum Thema gehabt. Im Internet wimmelt es von "Experten", von denen die meisten die Vorstellung gar nicht gesehen haben.

Aus schmerzhafter Analyse wird grausame Satire

Um den Skandal zu verstehen, muss man über die Inszenierung und ihre Idee erzählen. Sie ist nach dem Drama "Fluch" von Stanisław Wyspiański entstanden, wobei nur einige Szenen direkt aus dem Stück übernommen wurden. Der Autor war einer der bekanntesten polnischen Künstler, man kann ihn als Vater des Modernismus in Polen bezeichnen. Seine Theaterstücke sind schmerzhafte Analysen und Beschreibungen der geteilten polnischen Gesellschaft, die nie ohne Streit etwas zusammen unternehmen kann. Im "Fluch" (die Uraufführung fand im Jahr 1909 statt) geht es um einen katholischen Pfarrer, der mit Frau und Kindern zusammenlebt. Als in ihrem Dorf eine Dürre eintritt, geben die Dorfbewohner der Frau dafür die Schuld. Obwohl der Text aus heutiger Sicht altmodisch klingt, ist das Thema in Polen immer noch aktuell.

Klatwa3 560 MagdaHueckel uGotteskrieger oder Kreuzesschmäher? Szenenbild aus "Fluch" © Magda Hueckel

Der "Fluch" von Frljić ist eine grausame Satire über die polnische Gesellschaft. Jeder kriegt sein Fett weg: vor allem der Klerus und die Politiker, aber auch die Künstler und die Intelligenz. Hochaktuelle Themen werden aufgegriffen: keine Aufnahme von Flüchtlingen, Angst vor Muslimen (ein Schauspieler schreit: "Nicht alle Muslime sind Terroristen, aber alle Terroristen sind Muslime!"), totales Abtreibungsverbot (eine Schauspielerin erzählt, dass sie in der nächsten Woche eine Abtreibung in den Niederlanden haben wird). Die Schauspieler tragen Soutanen. In einer Szene werden Holzkreuze wie eine Waffe zusammengesetzt, und das Publikum wird damit beschossen. Es wird gebetet, es wird die polnische Hymne gesungen.

Frljić: Recht auf Hass

Der Regisseur erklärt im polnischen Nachrichtenmagazin "Newsweek": "Die nationalen Werte und die Religion amortisieren die Klassenspannungen. Sie sollen die Leute befriedigen. Die Polen ähnlich wie die Kroaten sind vollauf berechtigt, die Kirche und die Kapitalisten, also alle Ausbeuter, zu hassen. Stattdessen gibt man ihnen Flüchtlinge, Muslime, Juden, Kommunisten."

Die anderthalbstündige Vorstellung gleicht eher einer Performance: Die Schauspieler aktivieren die Zuschauer, sie sprechen sie direkt an, sie beleidigen sie und schreien sie an. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität wird oft verwischt. Manchmal nutzen die Schauspieler ihre eigenen Namen und erzählen zum Beispiel, wie sie in ihrer Kindheit von Pfarrern sexuell missbraucht worden seien. Kurz danach betonen sie, dass alles, was während der Vorstellung passiert, eine Fiktion ist, weil das eben Theater sei.

Klatwa2 560 MagdaHueckel uKnutschende Priester – aber es kommt noch viel schlimmer. Szenenbild aus "Fluch"
© Magda Hueckel

In der wohl am kontroversesten rezipierten Szene der Aufführung hat die Figur des aus Polen stammenden Papstes Johannes Paul II. Oralsex, während ihm eine Tafel mit der Aufschrift "der Pädophilen-Verteidiger" um den Hals hängt. In einer anderen umstrittenen, offensichtlich kabarettistischen Szene spricht eine Schauspielerin darüber, dass es möglich sei, einen bezahlten Mörder von Jaroslaw Kaczyński über das Darknet zu suchen, wobei sie betont, dass es ein Verbrechen sei, für so einen Zweck Geld zu sammeln. Viele wollten darin einen Aufruf zum Mord sehen.

Kaczyński: "Angriff auf Tradition, Kultur, Werte, Polen"

Der Schauspielerin wurde vom Chef des polnischen Fernsehens TVP vorgeworfen, dass sie den Papst geschändet habe, Produktionen mit ihr sollten aus dem Programm des Senders genommen werden. Die Schauspieler wurden von einem Journalisten "kleine Hitlerchen" genannt, und das Teatr Powszechny bekommt Mails mit Drohungen wie: "Wir werden das Theater in die Luft sprengen." Die Staatsanwaltschaft leitet ein Verfahren über die Beleidigung religiöser Gefühle ein. Das polnische Episkopat veröffentlicht einen Brief, in dem der "Fluch" als Gotteslästerung bezeichnet und der in vielen Kirchen in Polen von den Pfarrern während des Gottesdienstes verlesen wird. Sogar der Vorsitzende der PiS Partei Jarosław Kaczyński äußerte sich: "Wir erinnern an das, was neuerdings im Teatr Powszechny passiert – ein Angriff auf die Tradition, auf die Werte, auf Kultur, auf Polen."

Worum geht es überhaupt? Die mächtigen nationalistischen, konservativen Kreise in Polen pflegen einen Diskurs, in dem bestimmte Themen überhaupt nicht berührt werden dürfen, sie sind sozusagen sakrosankt. Seit Jahren fehlt eine objektive Diskussion über Pädophilie in der Kirche. Ideen über ein totales Abtreibungs- und Verhütungsverbot zirkulieren. Und zunehmend werden Forderungen laut, Polen solle aus der EU austreten. Diese Stimmungen werden durch die PiS-Regierung, aber auch durch die katholische Kirche in Polen gefördert und finden einen großen Rückhalt in der Bevölkerung.

Gesellschaftliche Geschmacksgrenzen

Auch die Tatsache, dass solche kontroversen Produktionen durch öffentliches Geld finanziert werden, stößt auf Kritik. Der bekannte polnische Journalist und Schriftsteller Bronisław Wildstein, der mit den Rechten sympathisiert, weist auf eine Spaltung im polnischen Theater hin: "Das Theater wurde von den Skandalisten übernommen, das ist sogenannte 'kritische Kunst'", sagt er mir in einem Gespräch. "Das sind politische Plakate. Sie sind keine Kunst. Sie verwandeln das Theater in eine Illustration der dominierenden linken Ideologie." Er fügt hinzu: "Es ging nur darum, denen zuzusetzen, die sie hassen. Soll dafür wirklich öffentliches Geld verwendet werden?"

Ich spreche mit dem Doktor der Soziologie und wissenschaftlichen Mitarbeiter am Soziologischen Institut an der Warschauer Universität, Krzysztof Świrek, über Zensur und künstlerische Freiheit. Er meint, dass der Skandal nicht etwas mit der polnischen Empfindlichkeit bezüglich Kirche zu tun habe, sondern es gehe dabei um Geschmack, der in jeder Gesellschaft anders sei. Es gebe immer Grenzen. "Man kann diese Grenzen nicht festlegen, man soll das auch juristisch nicht tun, aber man muss sich taktvoll verhalten, damit ein Dialog überhaupt möglich ist." Als ich ihn fragte, ob in Polen die Zensur wiederkommt, antwortet er: "Es reicht, zuverlässige Personen in den Institutionen einzustellen, man muss nicht zensieren. Es kommt zur Autozensur durch Leute, die wissen, dass ihre Stelle sehr unsicher ist und dass ein Fehler die Arbeitsstelle kosten kann." Die Kulturwissenschaftlerin Katarzyna Kułakowska meint hingegen: "Aus anthropologischer Sicht kann das Theater nicht schänden, weil es Theater ist. Laut Victor Turner reflektiert das gesellschaftliche Drama das, was wirklich passiert. Das Theater ist ein Spiegel."

Streit statt Debatte

Wenn man die beiden Parteien in diesem Streit betrachtet, lernt man die polnische Mentalität und Situation im Land gut kennen. Und hat man die Vorstellung gesehen, dann ist es schwierig, sich nur auf der einen Seite des Konflikts zu positionieren. Die Inszenierung hat ihre Funktion erfüllt: Sie hat zu einer Debatte eingeladen, hat provoziert. Die Diskussion danach hat gezeigt, dass nicht alle Polen unkritisch zur polnischen Kirche und ihrer Macht stehen. Olivier Frljić hat indes derart drastische Mittel benutzt, dass sie für manche Leute einfach unklar bleiben und nicht zu akzeptieren sind.

KlatwaDemo3 560 KatarzynaLaskowiecka uKeine Einigung in Sicht – im Theater und vor ihm wird das symbolisch klar © Katarzyna Laskowiecka

Leider jedoch hat die Inszenierung vor allem zum Streit geführt und nicht zu einer wirklichen Debatte. Die Argumente fliegen herum. Für manche Leute wird das Fällen eines Holzkreuzes mit der Elektrosäge auf der Bühne zur Schändung eines religiösen Symbols. Andere werden in diesem Moment an die Tausende von Bäumen denken, die neuerdings einem neuen Gesetz des Umweltministers Jan Szyszko zufolge auf privatem Grund einfach gefällt werden können, was riesige Schäden für die Umwelt bedeuten wird. Und auch darüber gibt es keinen Dialog, obwohl das für die Zukunft bestimmt eine größere Bedeutung haben wird als ein Schauspieler, der seinen Penis auf der Bühne zeigt.

Das Maxim Gorki Theater Berlin hat seine Solidarität mit dem Teatr Powszechny aus Warschau bekundet und eine Erklärung veröffentlicht. "Fluch" wird in Berlin im Juni 2017 präsentiert.

 

N.PruferNatalia Staszczak-Prüfer, Jahrgang 1986, ist Theaterwissenschaftlerin (Theater Akademie in Warschau, Freie Universität in Berlin), freiberufliche Journalistin und Übersetzerin. Sie kommt aus Warschau, wohnt in Berlin und schreibt Artikel und Rezensionen zu deutsch-polnischen kulturellen Themen für verschiedene Portale.


 

Mehr über die Theaterlandschaft Polen erfahren Sie im nachtkritik.de-Lexikoneintrag.

Kommentare  
Theaterskandal Polen: banale Provokation
Das ist sehr dumm, mich in diesem Kontext zu zitieren. Mindestens ebenso dumm, wie die Behauptung, es gäbe "neuralgische Punkte" einer Gesellschaft. Es gibt Tabus und es gibt Menschen, die nicht aufhören daran zu rühren. Manchmal heilt das. Es sieht aber sehr danach aus, als wolle Oliver Frlic vor allem seinen Ruhm als Künstler vergößern, dafür benutzt er linkspopulistische Standardsätze veralteter Theorie und mischt sie mit einfachen Provokationen, während er sich als Opfer stigmatisert. Damit ist jede Diskussion ausgeschlossen. Sein wirkliches Interesse ist banal. Mir ging es um etwas ganz anderes.
Frljić' "Der Fluch" in Berlin: Schmerzpunkte
Zum Gastspiel am Gorki Theater:

Wie leicht es doch ist, einen Skandal zu provozieren: man nehme ein tiefkatholisches Land wie Polen und lasse eine Schauspielerin Oralsex an einer Statue von Papst Johannes Paul II. simulieren. Man füge einen Monolog hinzu, in dem eine andere Schauspielerin darüber räsonniert, wie viel Geld sie wohl sammeln muss, um einen Killer aus dem Darknet anzuheuern, der ein Attentat auf den Staatspräsidenten verüben soll. Man lasse sich noch eine Gruppen-Szene einfallen, in der das komplette Ensemble des Teatr Powszechny aus Warschau den sexuellen Missbrauch durch katholische Priester anprangert. Dann vielleicht noch ein Kettensägen-Massaker, bei dem ein überdimensionales Holzkreuz umgesäbelt wird, eine Nacktszene mit deftig-vulgären Ausdrücken, ein Plädoyer für Abtreibung und schließlich ein Knalleffekt, bei dem alle Spielerinnen und Spieler aus ihren Holzkreuzen Maschinengewehre basteln und damit aufs Publikum zielen.

Der Kroate Oliver Frljić, der sich durch "Unsere Gewalt, eure Gewalt" oder "Balkan macht frei" einen Namen als skandalträchtiger Regisseur gemacht hat, setzte in Warschau all das in die Tat um und bekam das erwartete Ergebnis: die Allianz aus katholischem Klerus und rechtspopulistischer PiS-Regierungspartei jaulte auf. Demonstranten, die das Bühnengeschehen oft vermutlich nur vom Hörensagen kannten, postierten sich vor dem Theater. Priester verlasen Appelle gegen das Stück von der Kanzel. Auch Morddrohungen einiger Fanatiker blieben nicht aus. Sogar die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts von Blasphemie.

Alle Schmerzpunkte getroffen - Mission erfüllt!

Man könnte den Abend „Der Fluch“ nun schnell als zynisch durchkalkulierte Nummernrevue abtun, der genüsslich auf die erwartbaren Beißreflexe reaktionärer Kreise zielt. So einfach, wie es das mediale Echo über die Proteststürme erwarten lässt, macht es sich Frljić aber nicht.

Die Szenen, die für so viel Empörung sorgten, nehmen vergleichsweise wenig Raum ein. Sie sind eingebettet in ironische Performances, in denen sich das Ensemble z.B. mit dem Image des Skandalregisseurs befasst. Eine Schauspielerin lästert über ihn als Berufs-Provokateur, der quer durch Europa jettet, hohe Gagen einstreicht und sie ihm Stich lässt, so dass sie am Ende nicht weiß, wie sie die drei Kinder ernähren soll.

Auch gleich zum Einstieg ist der Abend deutlich vielschichtiger als der ihm vorauseilende Ruf erwarten ließ.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/06/07/der-fluch-klatwa-polnisches-skandalstueck-zu-gast-am-berliner-gorki-theater/
Frljić' "Der Fluch" in Berlin: Schaum vorm Mund
Frljić hält sich nicht zurück, er trifft das konservativ-polnische Selbstverständnis, das bemüht ist, die eigene Sichtweise für absolut zu erklären und Abweichendes zunehmend zu tabuisieren. Er trifft den einseitig verklärenden Blick auf die eigene Nation ebenso wie die Rolle der katholischen Kirche als Unterdrückungsapparat. Das ist natürlich überaus plakativ, sehr auf Effekt gebürstet und will den Schaum vor dem Mund, das Geifern der Mächtigen, den entlarvenden Hass der Möchtegernunterdrücker und ihre blind folgenden Schafe erreichen. Mission erfüllt. Doch wollte man den Abend auf diese ebene reduzieren, griffe das viel zu kurz. Denn Der Fluch ist – und das ist seine große Stärke – um einiges vielschichtiger. Immer wieder verlässt er den Anklagemodus, setzt klare Brüche, hält das Theater an, um sich als Theater zu outen. „Alles, was wir im Theater tun und sagen, ist Fiktion“, wird als nachzusprechendes Mantra wiederholt, eine Darstellerin spricht über die Grenze zwischen Fiktion und Realität, die es auszutesten gelte. Die Schauspieler*innen nennen ihre realen Namen, erzählen eigene Geschichten, meist solche sexueller Missbräuche, aber sie reden auch über das Theater, ihr Risiko, ziehen über den Regisseur her, den sie einen Heuchler schimpfen, der als Festivalleiter selbst zensiert habe, und nach ein paar Wochen Provokation wieder abhaut und sie ihrem Schicksal überlasse. Einer meint, er sei nur besetzt worden, weil er bereit sei, seine Genitalien auszustellen und führt das gleich vor. Auch das Publikum wird Zielscheibe, angeklagt, sich an der Erniedrigung von Frauen auf der Bühne zu ergötzen, ihren eingebildet kritischen Blick mit Voyeurismus und Haltungslosigkeit mehr als aufzuwiegen.

Und so verlässt der Abend bald die Ebene der anklagenden Provokation und wird zur vielschichtigen Auseinandersetzung über das Theater, die Kunst, die Haltung des einzelnen. Was an den Geschichten real ist und was fiktiv, ist nie klar, die Verunsicherung, die Destabilisierung der theatralen Basis rückt in den Mittelpunkt. Welche Kraft hat Theater und was maßt es sich an? Wie ehrlich kann eine Kunst sein, die darauf basiert, anderen etwas vorzumachen? Und was ist unsere Aufgabe als Publikum, als Gesellschaft, wo liegt unsere Verantwortung. Warum erfreuen wir uns an den Blowjobs eines Statuen-Papstes und hat das irgendeine Bedeutung? Frljić provoziert, fordert heraus, entlarvt – und hinterfragt gleichzeitig genau die Mechanismen, die er selbst gerade eingesetzt hat, legt die Ohnmacht des Theater offen, die selbstgerechte Passivität des Publikums, der „gebildeten“, „aufgeklärten“ Gesellschaft, die das, was er anklagt, erst möglich macht. Er macht es einfach, nur die Provokation zu sehen, legt Fallen aus, die es dem Zuschauer nahelegen, die metatheatralen Teile vor allem als ironisch harmlosen Spaß zu sehen, macht es ihm schwer, die Oberflächen zu durchbrechen. Denn was er da zu sehen bekäme, wäre die eigene hässliche Fratze. Die des Regisseurs und die des Zuschauers. Auch das ist manipulativ. Und verstörend. Zu Recht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/06/08/jenseits-der-provokation/
Kommentar schreiben