altFurchtlose Ehrlichkeit

Mai 2012. Die polnischen Theaterautorinnen Magdalena Fertacz und Julia Holewińska haben inzwischen jedoch ihre eigenen künstlerischen Ausdrucksformen und ihre eigenen Themen gefunden. Sie geben denen eine  Stimme, die in Geschichte und Gegenwart ganz abwesend oder kaum anwesend sind, die dort höchstens stumm vorkommen.

Von Iwona Uberman

Mai 2012. Sie sind jung, sie sind klug, sie sind schön. Und sie haben Mut und Mumm. Wobei der letzte Satz wahrscheinlich eine Untertreibung ist. Die Sicht der polnischen Dramatikerinnen auf die Welt ist schonungslos und ihre Art, diese auszudrücken, kennt kein Pardon. Sie stehen damit zum Teil in der Tradition des Spötters Witold Gombrowicz und des stets mit polnischer Geschichte und Gegenwart beschäftigten Andrzej Wajda, dessen Erzählweise "ohne Betäubung" nicht nur in seinem gleichnamigen Spielfilm, sondern auch in seinem übrigen filmischen Werk Spuren hinterlassen hat.

Die jungen polnischen Theaterautorinnen Magdalena Fertacz und Julia Holewińska haben inzwischen jedoch ihre eigenen künstlerischen Ausdrucksformen und ihre eigenen Themen gefunden. Sie geben denen eine  Stimme, die in Geschichte und Gegenwart ganz abwesend oder kaum anwesend sind, die dort höchstens stumm vorkommen. Sie entmythologisieren polnische (und nicht nur polnische) Geschichte und setzen auf eine furchtlose Ehrlichkeit, die schmerzt.

Deutliche Worte ohne Umschweife

Die 37-jährige Magdalena Fertacz schreibt seit sieben Jahren Theaterstücke. Die in dieser Zeit entstandenen sieben Texte sind nicht die einzigen künstlerischen Werke der Autorin. Fertacz schreibt auch Filmdrehbücher, fertigt als Dramaturgin Spielfassungen von Prosatexten an, arbeitet als Innenarchitektin und – exzentrisch genug, um es auch Kunst zu nennen - als Reitlehrerin.

Ihr erstes Stück "Kurz" ("Staub") wurde mit einer Auszeichnung beim Festival Radom Odważny (Mutiges Radom) gewürdigt und Mut steht bei der Autorin seitdem weiter im Programm. Zu Fertacz' Stärken gehören scharfsinnige Beobachtung und kritische Schilderungen ohne Umschweife, bei denen weder das Publikum noch die Schreibende selbst geschont werden. Hauptthemen der Stücke sind die zwischenmenschlichen Beziehungen; ihre Verlogenheit, ihre Oberflächlichkeit und ihr Konformismus werden scharf angeprangert.magda fertacz promo uMagdalena Fertacz © Promo

Die Geschichten von Magda Fertacz verstören. In "Absynt" ("Absinth") bringt sich eine junge Frau, Karolina, am Tag ihrer Hochzeit um. Ihr von Zurückgebliebenen in Rückblenden erzähltes Leben zeigt, warum der Tag der Trauung keineswegs der glücklichste Tag in ihrem Leben war und was dieser erfolgreichen Frau wirklich fehlte. Man versteht mit der Zeit, warum der Selbstmord die einzige Möglichkeit war, sich der leeren Welt zu entziehen. Im Text von Fertacz fehlen weibliche Wärme, Harmonie und Weichheit. Es fehlt dafür nicht an deutlichen Worten: "Schon von Geburt an werden wir total beschissen" – drückt Karolina geradlinig ihre Weltsicht aus.

Schicksale der Kriegs- und Nachkriegsjahre

Fertacz spricht über die dunklen Seiten der heutigen Welt mit schmerzvoller Ehrlichkeit. Sie rührt an Tabus, konfrontiert die Zuschauer damit, was sie am liebsten nicht wahr haben wollen. In "Trash story" erinnert sie an die deutsche Vergangenheit der polnischen West-Gebiete, ein Thema, bei dem man auch heute nur ungern die Erinnerung zulässt und die Menschenschicksale der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre am liebsten ganz vergessen würde.

Fertacz weist in diesem Stück noch auf einen anderen Krieg jüngeren Datums hin – den im Irak. Ein sich auf Heimat-Kurzurlaub befindender, polnischer Soldat bringt sich um, um die Rückkehr in den Irak zu vermeiden. Warum? Über den Einsatz von Nato-Soldaten im Irak-Krieg möchte die Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag nicht nur in Polen lieber nichts Genaueres wissen. Die Autorin setzt sich in ihrem Stück mit der Verfälschung von Geschichte früher und heute sowohl auf der Ebene einzelner Personen und Familien als auch auf der von Völkern und Staaten auseinander.

Künstlerisches Experiment im Stück

Wenn man betrachtet, wie sich der Beobachtungskreis in den Dramen von Magdalena Fertacz entwickelt, merkt man, dass er sich von einer Kleinfamilien-Konstellation in "Staub" (ein verliebtes Paar), über eine Familie in "Absinth" (Eltern, Tochter, ein Verlobter), das Land Polen in "III Furien" (geschrieben zusammen mit Sylwia Chutnik und der zum Stückemarkt 2011 ausgewählten Małgorzata Sikorska-Miszczuk), schließlich hin zur globalisierten Welt in "Śmierc Kalibana" ("Kalibans Tod") ausweitet.

"Kalibans Tod" handelt von einem künstlerischen Experiment: einer online übertragenen Reality-Show. Sie ist zugleich Teil einer groß angelegten sozialen Aktion, die zeigen soll, wie die reiche Welt den Armen hilft. Dank dem westlichen Drang, das Beste aus der Welt für sich herauszuholen, bekommt ein Schwarzer aus Haiti die Chance, an einem von einer Hilfsorganisation organisierten Wettbewerb teilzunehmen. Die Gewinner, die die kreativsten Entwürfe für eine naturgebundene Recycling-Architektur abliefern, werden nach Westeuropa eingeflogen, wo sie in ein Programm zur Privatisierung illegaler Einwanderer aufgenommen werden.

Zivilisierte Welt

Dieses System erinnert an einen modernen Sklavenmarkt: die Illegalen werden "legal", erhalten Arbeit, verlieren aber ihre Freiheit. So kommt der Schwarze zu einem Künstler, der ihn zu einem Teil seines medialen Kunstwerkes macht. Ein todkranker weißer Patient, der auf ein Spenderherz wartet, wird ebenfalls von dem Künstler zur Teilnahme an dem Projekt ausgewählt.

Magda Fertacz geht oft schonungslos weit und hält der westlichen Welt einen Spiegel vor, in dem sich niemand erkennen will. Sie stellt die Verlogenheit unserer "zivilisierten" Welt bloß, in der alles zu Ware geworden ist, auch der andere Mensch. Menschliche Würde, Freiheit, Gleichheit scheinen leere Begriffe geworden zu sein, die gern als Parolen genutzt werden, wenn sie den Reichen versprechen, noch mehr Profit aus der Lage der anderen zu schlagen. "Kalibans Tod" ist eine Quintessenz zeitgenössischer Zivilisation, die von Materialismus und Drang nach Erfolg getrieben wird.

Körperliche und politische Transformation

Ähnlich wie ihre Kollegin beschränkt sich auch Julia Holewińska nicht nur auf die Rolle einer Dramatikerin. Sie kommt von der theoretischen Seite des Theaters: Die studierte Theaterwissenschaftlerin, (die zurzeit promoviert), und Absolventin einer Ausbildung für szenisches Schreiben, befasste sich beruflich mit Theaterkritik und essayistischem Schreiben, sie arbeitet auch als Dramaturgin. "Obce ciała" ("Fremde Körper") ist ihr vorletztes Stück und das bekannteste von den bisherigen fünf. In Polen ist man der Meinung, dass es eines der radikalsten Theaterereignisse der letzten Jahre war. julia holewinska tomasz szerszen uJulia Holewinska © Tomasz Szerszen

"Fremde Körper" ist ein Stück über die Geschichte Polens, anders als üblich erzählt. Auszeichnungen für heldenhafte Taten werden hauptsächlich an recht habende, starke Männer verliehen, so die Beobachtung von Holewińska. Aber nicht nur sie machten die Revolution. Es sei an der Zeit, so die Autorin, auch anderen Helden und Heldinnen ihren Platz in der Geschichte zuzusprechen – Menschen wie Marek alias Ewa Hołuszko beispielsweise. Das Drama von Holewińska basiert auf der Lebensgeschichte eines bekannten Solidarność-Aktivisten, geht mit ihr jedoch stellenweise sehr frei um. Marek Hołuszko, der in den 80er und 90er Jahren im Kampf um die polnische Demokratie sehr aktiv war, unterzog sich 2000 einer geschlechtsändernden Operation. Von früheren Kampfkollegen, Familie und Bekannten daraufhin verlassen, hatte er/sie in der Folge mit Einsamkeit, Erniedrigung und Intoleranz zu kämpfen.

Historische Würde, persönliche Würde

Die Handlung von "Fremde Körper" spielt auf zwei zeitlichen Ebenen: im Polen der 80er Jahre im Kreis von Oppositionellen versammelt um Adam, eine der lokalen Leitpersonen, und im Polen zu Zeiten der Transformation Ende der 90er Jahre, in der Ewa nach der Operation vergeblich nach Anschluss an die geänderten Lebensumstände sucht. Adam hatte seinen Kampf gegen das sozialistische System gewonnen, im heutigen, freien Polen hat Ewa jedoch keine Chance, ihren persönlichen Kampf zum Erfolg zu bringen. Der Regisseur der polnischen Uraufführung, Kuba Kowalski, formulierte es so: "Wir Polen können um nationale Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, achten sie aber nicht in Bezug auf eine Einzelperson."

Thema des Stückes ist das Aufeinanderprallen von Werten und unterschiedlichen Auffassungen über die Verantwortung für das Vaterland und die Suche nach eigener – auch auf das Geschlecht bezogener – Identität. Auf beiden Ebenen, der historischen und der persönlichen, geht es um Freiheit und um den Kampf um eigene Würde, eigene Wahrheit und das Recht auf eine eigene Identität.

Die erste Generation

In einem anderen Stück "Rewolucja balonowa" ("Bubble Revolution") bleibt Julia Holewińska ihrer Thematik und Erzählart treu. Die große Geschichte wird auch hier mit einem persönlichen Schicksal konfrontiert. Es ist eine Geschichte über die polnische Transformation der 90er Jahre, erzählt aus der Sicht eines kleinen Mädchens. Gleichzeitig ist es ein Portrait der ersten, in einem demokratischen Polen aufgewachsenen Generation. Die Autorin geht der Frage nach, was diese Generation ausmacht, welche ihrer Träume sich erfüllten und was von ihrer Begeisterung für Kapitalismus und Demokratie übrig geblieben ist. Es ist auch, sagt die Autorin, ein Stück über das menschliche Gedächtnis: was bewahren wir in Erinnerung, was idealisieren wir und was wird vergessen.

Wen die Themen und Geschichten der beiden Autorinnen interessieren, wird auf dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens im Mai bald die Möglichkeit bekommen, die Texte in Gänze kennenzulernen. In ihren Schichten sind noch weitere Interpretationsansätze und Abgründe zu entdecken. Für diejenigen, die im Theater lieber nach Zerstreuung suchen, mag es eine Furcht einflößende Nachricht sein: Die Polinnen kommen! Als Trost lässt sich hinzufügen: Sie kommen nicht nur nach Deutschland. Sie sind inzwischen auch schon anderswo in Europa angekommen.

Uberman Iwona 100 uIwona Uberman, geboren in Polen, in München promovierte Theaterwissenschaftlerin und Skandinavistin. Als Theaterkritikerin arbeitet sie für die polnische Theaterzeitschrift "Teatr" und berichtet über das deutschsprachige Theater. Als Übersetzerin von Theaterstücken arbeitet sie regelmäßig mit der in Warschau erscheinenden Zeitschrift für moderne Dramatik "Dialog" zusammen. Lebt in Berlin.

 

Mehr: Julia Holewińska, Fremde Körper (Übersetzung: Bernhard Hartmann), Szenische Lesung beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens, 11. Mai 2012 um 21 Uhr, Magdalena Fertacz, Kalibans Tod (Üversetzung: Andreas Volk), am 14. Mai 2012 um 18.00

Kommentare  
Polnische Dramatikerinnen: Zugangsvoraussetzungen
Auch in Polen ist es also erste Zugangsvoraussetzung für Dramatikerinnen JUNG und SCHÖN zu sein. Schade! Wie viele wunderbare Stücke entgehen uns damit...
Polnische Dramatikerinnen: im Hintergrund der Formulierungen
Das fiel auch mir sofort auf. Dass Frauen letztlich offenbar doch immer wieder über ihr Äußeres beurteilt werden, trotz oder gerade aufgrund ihrer intellektuellen Leistungen. Damit setzt man diese Frauen implizit wieder herab, denn im Hintergrund solcher Formulierungen schwingt ja immer das Klischee mit, dass schöne Frauen eigentlich gar nicht denken können dürften. Schön UND intelligent, das muss dann wohl eine Ausnahme sein. Es gibt noch viel zu tun, um diese unreflektierten Kurzschlüsse endlich aus der Beschreibung weiblicher Autorinnen verschwinden zu lassen. Machen wir mal die Gegenprobe. Niemand würde jemals auch nur auf die Idee kommen, einen männlichen Autor als einen schönen Mann zu bezeichnen. Das sollte uns zu denken geben. Immer diese stereotypen Muster - unerträglich. Diese Frauen sind schön, aber spielt das in Bezug auf ihre Stücktexte eine Rolle?
Polnische Dramatikerinnen: eher ermutigend
Es hat offenbar eine Frau so geschrieben, liebe "VorkommentatorInnen", und aus ihrem Text wird eigentlich ersichtlich, daß von einer ersten Zugangsvoraussetzung, jung und schön sein zu müssen, nicht wirklich die Rede sein kann (erlauben Sie einer Schreibenden doch ein wenig "Überschwang und Begeisterung").
Darüberhinaus habe ich schon sehr häufig auch Männer über allerlei Äußerlichkeiten,
in garnicht so "begeisterten" Texten, "charakterisiert" gesehen, zumeist auch in Texten von "Frauenhand", aber wie gesagt: von einer solchen Charakterisierung sehe ich hier nichts. Ich finde es ganz ermutigend, mit 37 Jahren auch noch ein wenig als "jung" in Frage zu stehen, wenngleich ich vom Jugendlichkeitskult nichts halte..
Polnische Dramatikerinnen: Gespräch über die Sache
Wäre ja super für alle wunderbaren Künstlerinnen unabhängig von ihrem Alter und ihrem Aussehen, wenn ich unrecht hätte, ABER: Gerade WEIL es eine unwidersprochen hingenommene Zugangsvoraussetzung ist, wird über eine gestandene Künstlerin mit 37 Jahren interessanter Lebenserfahrung geschrieben, sie sei JUNG UND SCHÖN. Hallo!?

(Liebe Ida Sommer und liebe alle anderen, die von der Formulierung, die beiden Autorinnen seien "schön" nicht lassen wollen,
Es ist doch bemerkenswert, dass über einen langen Text, den eine beeindruckte Frau über zwei Autorinnen aus ihrem Land geschrieben hat, nichts weiter zu sagen ist als: "Wie kommt die Frau dazu, die Autorinnen als schön zu bezeichnen?"
Könnte es sein, dass Sie sich aufregen WOLLEN, dass Sie dezidiert nichts zu den Thesen des Textes sagen wollen, dass Sie sich nicht blöde vorkommen, etwas, das bereits 43mal mitgeteilt wurde, noch einmal mitzuteilen - kann es sein, dass dies das Gespräch über die Sache gar nicht voran bringt?
Mit freundlichem Gruß
nikolaus merck)
Theaterbrief Polen: wenn Ihr Aussehen immer erwähnt würde ...
Sehr geehrter Herr Merck, wenn Ihre journalistische Arbeit stets im Zusammenhang mit Ihrem Alter und Ihrem Aussehen wahrgenommen werden würde, hätten Sie vielleicht etwas mehr Verständnis für diese überfällige Diskussion!

(Sehr geehrte Häßliche Alte, ja, das hätte ich in diesem Fall bestimmt. Bloß - dem Aussehen der beiden Dramatikerinnen tut der Text einmal Erwähnung oder? Macht dann aber noch viele, viele weitere Worte. Die in dieser Kommentar-Auseinandersetzung überhaupt nicht erwähnt werden, gell? Darum ging es mir.
jnm)
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