Die Theaterszene zwischen Coronastillstand und der Wucht der #BlackLivesMatter-Proteste - Theaterbrief aus New York
Im Ausnahmezustand
von Verena Harzer
New York, Juni 2020. Das war wohl kein einfacher Schritt für den Schwarzen Schauspieler und Autor Griffin Matthews. Und doch hat er ihn gemacht. Mit einer Video-Botschaft Anfang Juni, auf Twitter, Facebook und Instagram. Überschrieben ist sie mit "Broadway is racist". Dahinter steht der Hashtag #burnitdown, Brennt den Broadway nieder.
"Wahrscheinlich werde ich es jetzt nie an den Broadway schaffen", sagt er in dem Video. Über fünf Jahre hat er geschwiegen. Jetzt geht er endlich mit den aus seiner Sicht rassistischen Erfahrungen an die Öffentlichkeit, die er damals während der Produktion des von ihm und seinem Partner Matt Gould verfassten Muscial Witness Uganda gemacht hat.
Dear Amy Cooper: Broadway is racist. #BurnItDown pic.twitter.com/8ee9LYLvHP
— Griffin Matthews (@GriffinsThread) June 1, 2020
Sein Stück wurde 2015 am Off-Broadway Theater Second Stage produziert. Er hat da erlebt, wie eine Schauspielerin beim Casting als "zu schwarz" bezeichnet wurde. Oder wie Kritiker für die Beschreibung von Schwarzen Darsteller*innen rassistische Begriffe wie "Big Mama" verwendeten. Die weiße Theaterleitung habe sich nie dagegen gewehrt. Wie Matthews finden gerade viele Schwarze Theatermacher*innen den Mut, ihre Stimme zu erheben. Gegen den strukturellen Rassismus, der ihren Arbeitsalltag prägt. Und den sie jahrzehntelang schweigend ertragen haben. Aus Angst, ihre Karrieren zu zerstören.
Frage der Macht
Die New Yorker Theaterszene befindet sich im Ausnahmezustand. Wegen der Corona-Krise sind die Häuser auf unabsehbare Zeit geschlossen. Viele Künstler*innen und Mitarbeiter*innen sind ohne Arbeit und wissen nicht, wie es weitergeht. Dazu kommen die antirassistischen Proteste, die seit dem 25. Mai das Land bewegen. An jenem Tag wurde der Afroamerikaner George Floyd Opfer brutaler weißer Polizeigewalt. Hunderttausende sind deshalb bereits weltweit und vor allem in den USA auf die Straße gegangen.
Der Rassismus in den USA ist systemisch, er betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche. Auch die Theaterwelt. Nur etwa 20 Prozent der am Broadway engagierten Schauspieler*innen sind Schwarz. Schwarze Künstler*innen kommen meistens nur am Rande vor. Als "Black Slot", zum Beispiel. So wird das eine Stück in der Saison genannt, das von einem Schwarzen Autor beziehungsweise einer Schwarzen Aurorin geschrieben wurde. Oder als "Token". Das ist der eine Schwarze Schauspieler oder die eine Schwarze Schauspielerin, die in eine Produktion gecastet wird, damit diese als divers durchgeht.
Bezeichnend genug, das es dafür allgemein bekannte Begriffe gibt. Diversität aber ist längst nicht das Kernproblem. Rassismus ist eine Frage der Macht. Und die ist klar verteilt. Wie eine 2019 veröffentlichte Studie zeigt, sind fast 90 Prozent der leitenden Funktionen an New Yorker Theatern von Weißen besetzt. Matthews sagt dazu in seinem Video: Wenn ein weißer Theatermacher Karriere machen wolle, brauche er dafür keine einzige Schwarze Person. Als Schwarzer Künstler dagegen sei man fast zu hundert Prozent von weißen Strippenziehern abhängig. Doch das soll sich nun ändern.
Protestbrief an das weiße Theater
Der Corona-Stillstand und die Wucht der George Floyd Proteste haben viele schwarze Künstler*innen ermutigt, den Kampf gegen Rassismus im Theater neu anzugehen. Die Schwarze Broadway-Darstellerin Celia Rose Gooding bezeichnet diese Situation in einem Video-Panel der New York Times als den "perfekten Moment" um endlich ihre Stimme zu erheben. Ihre Vorfahren seien gezwungen worden zu schweigen. Sie habe "jetzt die Möglichkeit zu sprechen". In Zukunft werde sie jede Form von Rassismus laut anklagen.
Über 300 Schwarze, indigene und People of Color Theatermacher*innen veröffentlichen Mitte Juni unter dem Titel "Wir sehen dich" einen offenen Protest-Brief an das weiße amerikanische Theater. Unter ihnen sind mehrere Pulitzer-Preis- und Tony-Award-Gewinner, die renommiertesten Auszeichnungen, die es für US-amerikanische Theatermacher*innen zu gewinnen gibt. Zu lange, schreiben sie, hätten sie zugesehen, wie weiße amerikanische Theater "ein Stück nach dem anderen ins Programm nehmen", das von weißen Theatermachern "geschrieben, inszeniert, gecastet, choreographiert, entworfen, gespielt, dramaturgisch betreut und produziert worden ist". Das amerikanische Theater sei "ein Kartenhaus", das auf "weißer Vorherrschaft" aufgebaut sei. Es sei ein Haus, "das nicht stehenbleiben wird".
Einige müssen etwas abgeben
Die dazu gehörige Petition fordert einen Wandel der Machtstrukturen im Theater. Fast 80.000 Unterschriften haben die Initiatoren dafür schon gesammelt. Die von Künstlern gegründete Non-Profit-Organisation "Broadway Advocacy Coalition" hat Mitte Juni das dreitägige Online-Forum BwayforBLM (Broadway for Black Lives Matter) organisiert. Um die 5000 Teilnehmer haben daran teilgenommen. Griffin Matthews Video-Botschaft ist allein auf Instagram fast 300.000 Mal aufgerufen worden. Die meisten New Yorker Theater und Broadway-Produktionen haben mittlerweile reagiert. Auf ihren Internetseiten oder in den sozialen Medien haben sie sich solidarisch mit der Black-Lives-Matter-Bewegung erklärt. Einige von ihnen gestehen ein, dass sie nicht genug für die Gleichberechtigung schwarzer Künstler*innen und Kolleg*innen getan hätten und geloben Besserung.
Viele Schwarze Theatermacher*inen können diesen ersten Schritt durchaus anerkennen. Doch dabei kann es ihrer Meinung nach nicht bleiben. Jetzt sei es an der Zeit, "den Worten Taten folgen zu lassen", sagt der Schwarze Produzent Cody Renard in einem Interview mit dem Fernsehsender CNN. Tamilla Woodard, die das "Working Theater New York" co-leitet und damit eine der wenigen Schwarzen Theaterdirektorinnen in den USA ist, sagt in dem Theater-Podcast "Three on the Aisle" : "Wenn wir überleben wollen, müssen wir Grundlegendes ändern." Und weiter: "Einige Leute müssen etwas abgeben. Und dieses Etwas beginnt mit dem Buchstaben P und es endet mit dem Buchstaben R".
Gemeint ist das englische Wort Power.
Verena Harzer studierte in Berlin und Paris Theater-, Literatur- und Kunstwissenschaften. Als Dramaturgin war sie unter anderem für die Oper Dortmund, German Theater Abroad, posttheater, spreeagenten Berlin, die Internationalen Gluck Opern-Festspiele und writtenotwritten tätig. 2014 leitete sie den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens. Seit 2017 lebt sie in New York und arbeitet dort als Kulturjournalistin.
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Überhaupt finde ich diese Art von Rassismusbürokratie höchst fragwürdig. In Rap, Jazz & Blues sind Schwarze wahrscheinlich noch stärker vertreten, bei Klassischer Musik wahrscheinlich eher weniger. Was auch völlig in Ordnung ist wenn man die historisch kulturellen Hintergründe berücksichtigt.
Es ist albern zu glauben, in der Kunst sei alles in Ordnung, wenn der totale Proporz erreicht sei.