Vorwürfe gegen Alain Platels "Tauberbach"
Ästhetischer Kolonialismus?
Berlin, 12. Mai 2014. Gegen Alain Platels Inszenierung "Tauberbach" (hier der Shorty vom Theatertreffen-Gastspiel) wurden anlässlich der gestrigen zweiten Vorstellung beim Berliner Theatertreffen Plagiats-Vorwürfe erhoben. Das schreibt Hannah Wiemer auf Theatertreffen-Blog.de.
Eine "Gruppe von Menschen" habe auf dem Vorplatz des Hauses der Berliner Festspiele Schilder gezeigt, mit denen auf große Ähnlichkeiten zwischen "Tauberbach" und der Tanzperformance Sight des Tanzkollektivs Grupo Oito, unter Regie von Ricardo de Paula, hingewiesen wurde. "Sight" war im November 2012, lange vor "Tauberbach", im Berliner Ballhaus Naunynstraße uraufgeführt worden.
Wiemer schreibt weiter, die Parallelen im Bühnenbild aus Kleidungsstücken und in der zugrunde liegenden, aus einem Dokumentarfilm "Estamira" von Marcos Prado stammenden Geschichte einer Frau, die auf einer Müllkippe bei Rio de Janeiro lebt, seien nicht zu übersehen (hier der Trailer von Sight).
Beim Publikumsgespräch nach der gestrigen Aufführung wies Alain Platel die Vorwürfe von sich. Er kenne die Inszenierung "Sight" gar nicht.
Vorwurf: Exotisierung schwarzer Menschen
Gegen weitergehende Kritik, seine Bearbeitung von Estamiras Geschichte schreibe Kolonialgeschichte fort, indem sie "weibliche schwarze Körper" zum Objekt mache und schwarze Menschen exotisiere, verwahrte sich Alain Platel mit dem Argument: "I am married to a black woman".
Ricardo de Paula, der Regisseur von "Sight", beschreibt in einem Interview mit der Website Mind the trap (11.5.2014), dass es ihm darum gegangen sei, die aus dem Dokumentarfilm übernommene Hauptfigur Estamira "als Mensch ernst zu nehmen, sie nicht auf falsche Art und Weise zu repräsentieren". Deshalb sei Estamira in "Sight" durch Videoprojektionen des Dokumentarfilms selbst zu Wort gekommen. In "Tauberbach" dagegen werde die "lange Tradition" der "Fetischisierung des schwarzen weiblichen Körpers" fortgeschrieben und Estamira als "wild and crazy person" dargestellt.
(Theatertreffen-Blog.de / mindthetrapberlin / jnm)
Neuer Stand vom 14. Mai 2014: Alain Platel weist in einem Beitrag auf theatertreffen-blog.de die Vorwürfe zurück und deckt Fehlinformationen seitens der Protestierenden auf.
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Also in Bezug auf das No-Go hin gefragt!
Ich glaube da macht man es sich zu einfach, wie auch gestern schon der eine Tänzer auf dem Podium. Das "Estamira"-Thema wird als Bezugspunkt der Arbeit überall genannt. Ob dann die reale Person "gespielt" wird oder nicht, mögen die Künstler zwar für sich geklärt haben. Aber das Publikum klärt das völlig unabhängig davon für sich. Die Deutungsfreiheit, die Platel selbstverständlich am Anfang der Diskussion stark macht ("Fragen wir lieber das Publikum, was es gesehen hat! War es ein melancholisches oder hoffnungsvolles Ende für Sie?"), zieht die Gruppe an dem heiklen Punkt einfach zurück: "Darum ging es nicht! Das habe ich nicht gespielt! Das war nicht politisch!"
Leider waren die Positionen schon von Anfang an sehr emotionalisiert, die Situation sehr unglücklich. So hat sich das "Tauberbach"-Team die Punkte ja nicht wirklich angehört; Platel selbst offenbart einen Tiefpunkt an Verständnis, indem er den Unterschied zwischen (strukturellem) Rassismus und soetwas wie "Fremdenfeindlichkeit" nicht erkennt. Allein das macht großen Klärungsbedarf deutlich.
Im Fall "Tauberbach"/"Sight" ist die Lage durch den doppelten Vorwurf sehr kompliziert. Laut Flugblatt-Interview und Platels Aussage haben sich Platel und "Sight"-Choreograph Ricardo de Paula vor (beiden) Produktionen getroffen und über das Estamira-Thema geredet. Im Flugblatt heißt es "We even talked about a collaboration", Platel sagte, er sei von de Paula auf die Doku hingewiesen worden mit den Worten, ob er sich vorstellen könne, dazu eine Arbeit zu machen.
Anscheinend kam es zu keiner Zusammenarbeit, weshalb jeder für sich die Produktion umsetzte. Zu klären wäre noch, wie es zu dem sehr ähnlichen Bühnenbild kam.
Jedenfalls kann ich den Unmut der Offtheater-Produktion verstehen, die mit der Estamira-Idee aufkam, eine Low-Budget-Produktion mit einem brasilianischen Choreographen umsetzte, also versuchte die "brasilianische" Perspektive einzubinden. Und nun die Hochglanz-Produktion der Kammerspiele beim Theatertreffen gepriesen sieht, die sich des Themas und der Ursprungsidee bediente, man am Schluss aber nur noch eine weiße, westeuropäische Hochkultur-Perspektive sieht. Wie würden Sie sich da fühlen?
Und wie würden Sie sich dann fühlen, wenn sich jemand öffentlich für Ihre Position einsetzt, und die dann vom hell erleuteten Podium von einem Platel-Tänzer mit den Worten "Thank you for the lesson" oder "No, you are wrong, that's not what it is about" abgekanzelt werden?
Lieber Sascha, von wessen künstlerischer Freiheit redest Du? Lies bitte mal das Interview mit Ricardo de Paula. Natürlich könnte man sagen, er wird hier nur für eine Kampagne benutzt. Man könnte ihm vorwerfen, erst die Öffentlichkeit des Theatertreffens genutzt zu haben, um seine Einwände an „Tauberbach“ anzubringen. Das Stück war ja bereits im März am HAU 1 zu sehen. Das Ganze scheint aber schon länger ein Thema zu sein. Und die Plagiatsvorwürfe kommen eigentlich auch gar nicht so direkt aus seiner Richtung. Er hat ein anderes Problem. Es ist das alte Thema, das westlichen Künstlern die Kompetenz hinsichtlich der künstlerischen Darstellung von Problemen der Dritten Welt abgesprochen wird. Obwohl sie ja direkt auch vom Westen mit erzeugt werden. Zumindest das kann man künstlerisch thematisieren, was Alain Platel aber gar nicht vordergründig macht. Ricardo de Paula begründet seine Sicht der Dinge im Interview sehr treffend, wie ich finde. Beide scheinen auch bereits früher miteinander über das Projekt „Sight“, das die reale Person Estamira behandeln sollte, gesprochen zu haben. Also haben sie voneinander gewusst, zu einer Zusammenarbeit ist es nicht gekommen. Mal abgesehen von der Art des künstlerischen Umgangs mit dem Thema, über den man natürlich immer streiten kann (auch unter dem Gesichtspunkt der künstlerische Freiheit), bleibt da immer noch ein bitterer Beigeschmack. Nicht nur de Paula benutzt Ausschnitte aus dem Film von Marcos Prado, auch Platel lässt Elsie de Brauw Textbruchstücke der realen Estamira sprechen. Wo wäre da also genau der Unterschied? Ich denke beide Punkte, also künstlerische Herangehensweise sowie der Plagiatsvorwurf sind durchaus diskussionswürdig. Ich werde mir deshalb „Sight“ auch in dieser Woche ansehen.
Ich verstehe nicht, wie Sie genau bestimmen können worum es ging und worum nicht (und sogar ohne das weiter zu begründen)? Unabhängig davon sehe ich den Vorwurf auch nicht so eng auf die Frage beschränkt, ob oder wie jetzt ganz konkret eine schwarze Brasilianerin dargestellt wird, oder doch nicht. So wie ich es verstehen (ohne mich eingehend damit beschäftigt zu haben), ist die Kernthese der Postcolonial Studies, dass alte koloniale Strukturen heute zwar vielleicht nicht mehr so sehr realpolitisch existieren, aber dafür in Form kultureller Vereinnahmungen, Verdrängungen und Marginalisierungen, also in sprachlicher, kultureller oder diskursiver Art. Und deshalb finde ich es gewinnbringend, ein Gespür dafür zu entwickeln und ein Bewusstsein dafür zu erlernen, dass solche Strukturen möglicherweise auch in Platels Projekt/Vorgehen zu erkennen sein könnten, oder auch in meinem Denken und Handeln.
"Verbote" zu fordern oder auch zu behaupten, es würden Verbote gefordert, kann nicht das Ziel sein. Wie schon bei der Blackfacing-Debatte würde ich sagen: Wenn ein gesellschaftlicher Reflexionsprozess in Gang gesetzt wird, der zum Ergebnis hat, dass Theatermacher/Diskursbeteiligte fortan bestimmte Mittel oder Strukturen von sich aus vermeiden wollen, ist das ein begrüßenswerter Entwicklungs- und Veränderungsprozess. Die Frage, die schon beim Blackfacing aufkommt, ist ja auch: Warum und was wird so vehemt und fast aggressiv verteidigt? Gut, auch die Anklage war schon sehr emotional vorgetragen. Ich würde gerne das Podiumsgespräch noch einmal ruhig, sachlich und mit beiden Parteien in gleicher Personenanzahl und mit Mikros für alle auf dem Podium wiederholt anhören. Ich glaube nicht, dass es etwas zu verlieren gäbe, schon gleich nicht die Kunstfreiheit.
Wolfgang Müller, der der Gehörlosen-Szene sehr nahe steht, kritisiert in seinem Westberlin-Buch: "Die 'Singing Lesson' von Artur Żmijewski ähnelt kolonialen Eroberungsgesten, dem Eindringen in das 'Andere', das 'Fremde'. In normativer Umgebung wird das Fremde zur Schau gestellt" (https://twitter.com/viertelnachvier/status/465106815135776769).
Das geschieht ähnlich da, wo die TänzerInnen Ausdruck, Bewegung, Mimik von Behinderten übernehmen (geprobt wurde in einer entsprechenden Einrichtung) - und eben auch bei der schizophrenen Estamira.
Die Frage, die schließlich bleibt, ist, ob es Platel gelingt, diese 'fragwürdigen' (im wortwörtlichen Sinne) Aneignungen in seiner künstlerischen Umsetzung aufzulösen; das ist ihm meiner Meinung nach nicht gelungen (am Ende lief es eben auf den allerreinsten Bach hinaus). Vielen andere sahen das ganz anders, aber ich denke, Platel ist hier gescheitert, der Abend ein Ärgernis.
http://www.theatertreffen-blog.de/tt14/alain-platels-antwort-auf-die-intervention/
Jetzt scheint Azadeh Sharifi wieder am Zug zu sein.
Natürlich gibt es da viel Gemeinsames aber auch klare Unterschiede. Ist Estamira in "Sight" zunächst als Foto und dann in ihren eigenen Worten immer präsent, ist sie es in "Tauberbach" nur noch als anonymisierte Person in Gestalt der Schauspielerin Elsie de Brauw. Sie muss dazu tatsächlich nicht zwingend schwarz sein. Marginalisierung findet auch in Europa vor unserer Haustür statt. Müllberge am Rande der Welt gibt es hier wie in Amerika, Afrika oder Asien. Das in Brasilien schwarze Thema zu einem allgemeinen, globalen Thema zu machen, hat meiner Meinung nach auch nichts mit Fetischisierung zu tun. Der Vorwurf läuft ins leere. Man könnte Platel nun vorwerfen, schwarze Positionen auszunutzen, die aber im Gegenzug auch in de Paulas Stück gar nicht so explizit im Vordergrund stehen.
Man müsste also erstens den Film und zweitens wohl auch beide Tanzadaptionen kennen, um sich überhaupt ein genaues Bild machen zu können. Wohl ein Problem jeder Vorlage, die nicht unmittelbar zum allgemeinen (weißen) Bildungskanon gehört, obwohl der Film auch auf mehreren europäischen Filmfestivals lief. Daraus aber bei der überwiegend weiß besetzten Produktion Tauberbach auf eine rassistische Motivation zu schließen, erscheint mehr als konstruiert. Eher scheint es so, als wäre de Paula vor den Karren einer sicher auch gut gemeinten Protestaktion gespannt worden, die allerdings mit miesepetrigen Parolen á la „Find 7 differences“ versuchte gegen Platel und sein Team Stimmung zu machen. Als wäre die Kunst eine Art Fake- oder Vexierbild, in dem es gelte, versteckten Unterschieden oder Inhalten auf die Spur zu kommen.
Dabei hat Ricardo de Paulas Produktion diese Art von Promotion gar nicht nötig. Sie ist eben klar politischer motiviert im Gegensatz zu "Tauberbach", wo der menschliche Aspekt im Vordergrund steht. In beide Produktionen wird aber nun sehr viel hineininterpretiert, was vermutlich gar nicht deren ursprünglichen Idee entspricht.