Sinnieren über Geld

27. August 2023. Personell minimiert, dafür fremdtexterweitert und auf Industrieruinenmilieu gebürstet: Stefan Pucher versucht sich in seiner Varition des berühmten Shakespeare-Stücks an einer Parabel über das System der Kaufmänner, in dem wir leben. 

Von Michael Bartsch

"Der Kaufmann von Venedig" von William Shakespeare bei Lausitz-Festival © Mario Kuban / Lausitz-Festival

27. August 2027. Jegliches hat seine Zeit, und die geborstenen Tempel des Industriezeitalters starren uns ebenso brutal wie mitleiderregend an. Wuchtiger können sie ein Publikum kaum vereinnahmen, als in Zeugen der Industriekultur, die nach der Abschaltung kaum verändert wurden und denen nur die allmächtige Zeit zugesetzt hat. Nicht nur der Mensch kommt seit Zeiten der biblischen Genesis vom Staub und kehrt zu ihm zurück.

So zu erleben bis Ende August, also zur ersten Woche des Lausitz-Festivals, in der Lehrofen-Halle auf dem Telux-Gelände in Weißwasser. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden hier technische Spezialglase hergestellt, vor allem Glaskolben für Glühlampen aller Art. Intendant Daniel Kühne meint zwar, beim Betreten könne man sich auch wie in einer der Gassen am Rialto von Venedig fühlen. Was Assoziationen an Shakespeares daselbst spielenden "Kaufmann" nahelege.

Fabelhaftes Werben

Zumindest das Unterbewusstsein aber ist in dieser lediglich wie in einer Betriebspause befindlichen und rot illuminierten Halle mit dem zentralen Glasschmelzofen eher mit Fragen von Vergänglichkeit und Endlichkeit befasst. Vielleicht sucht das Theater deshalb solche morbiden Orte und ihren düsteren Charme wie zuletzt das nahe gelegene Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau mit "Die Herzogin von Malfi" im Görlitzer Alten Güterbahnhof.

Noch bevor das erste Wort gesprochen ist, drängt sich die Frage auf, ob man wirklich jedes Stück an jedem Ort spielen kann. Worin besteht der Mehrwert von Aufführungen an solch suggestiven Orten, deren Flair von Inhalten und Abstraktionen eher ablenkt? Umso mehr, wenn – wie hier in Weißwasser – neben den Öfen auch Einbauten wie die Abteilungsleiterkabine für Auftritte genutzt werden und man unwillkürlich über die metaphorische Bedeutung eines Schildes "Tragfähigkeit 2 410 kp/m²" nachdenken muss.

Katharina Marie Schubert und Samuel Weiss in Stefan Puchers, auf zwei Spieler*innen reduzierter Shakespeare-Variation   © Nikolai Schmidt

In Shakespeares "Kaufmann von Venedig" aber geht es um einen Freundschaftsdienst, für den sich Antonio beim Juden Shylock verschuldet und mit einem Pfund seines eigenen Fleisches bürgt, um fabelhaftes Werben um Portia und um das Bild und Selbstbild eines Juden, wie es sich hartnäckig über zwei Jahrtausende hält. Wo wäre die konfliktverstärkende Wirkung dieses Industrieambientes?

Alles hat einen Preis

Das Anfang 2018 in der Region als aufgepfropftes "UFO" denunzierte und mit einem exorbitanten Budget von allein vier Bundesmillionen ausgestattete Lausitzer Mehrspartenfestival will erklärtermaßen Veränderungen begleiten, die sich in der vor dem Kohleabschied stehenden Region fokussieren. So interpretiert Intendant Daniel Kühnel Shakespeares "Kaufmann" als Zeichnung einer Gesellschaft, in der sich alle mit allen auf Geldbasis arrangiert haben, in der "alles ein Preisschild hat". Nur Antonio mit seiner uneigennützigen Hilfe für Freund Bassanio, bei dessen Werbung um die reiche Portia und der klischeehaft wirkende Christenhasser Shylock, passten nicht hinein.

Was aber kommt davon in einer Inszenierung herüber, für die mit dem schon im Vorjahr bei "Julius Cäsar“ aktiven Regisseur Stefan Pucher und mit Katharina Marie Schubert und Samuel Weiss namhafte Theatergrößen von weit jenseits der Lausitz gewonnen wurden? Die Textfassung von Malte Ubenauf hat nicht nur Shakespeares Hochsprache vervolkstümlicht, sie baut auch Texte der 1946 verstorbenen US-Amerikanerin Gertrude Stein ein. Die sorgen für philosophische Sentenzen. Es geht gleich mit dem Sinnieren über Geld los, dessen Zählung Menschen vom Tier unterscheidet.

Augenzwinkernde Kostümierung

Dieser Erweiterung steht eine drastische Reduktion des Personariums auf zwei Spieler gegenüber. Die knapp hundert Zuschauer sollten die Handlung schon ein bisschen kennen, um sicher zu unterscheiden, wann Weiss den Antonio, wann den Bassanio oder Shylock spricht. Erleichtert wird ihnen dies durch die Dominanz des Verschuldungskontrakts und seiner Verhandlung, während die Kästchengeschichte zur Selektion der Portia-Freier und die abtrünnige Shylock-Tochter Jessica marginal bleiben.

Kaufmann Mario KubanLausitz Festival uSamuel Weiss ©  Mario Kuban | Lausitz Festival

Katharina Marie Schubert agiert angenehm unprätentiös, fast schon zu sympathisch, Samuel Weiss facettenreich vom Macho bis zum ziemlich fanatisierten Juden. Könner eben. Augenzwinkernd ist ihre Kostümierung: anfangs zur Halle passend kein proletarischer "Blaumann", sondern ein "Grünmann", dann als angehendes Ehepaar im selben Jagdgrün zu einer Art Pyjama mutiert, schließlich in gleichfalls grüner Robe die als Advokat verkleidete Portia.

Verdienter Theaterpromi im Publikum

Zweifellos eine originelle, geschickt minimierte und nie langweilige Version des über vierhundert Jahre alten Stoffes.  Aber eine pointierte Attacke auf unsere empathiebefreite geschäftszielbestimmte Gesellschaft ist sie nicht. Und wenn schon freier Umgang mit dem Stoff, so hätte man sich auch einen Reflex sowohl auf den ewigen Antisemitismus als auch auf den Christenhass Shylocks gewünscht. Wie schon im Vorjahr kam immerhin ein verdienstvoller Theaterpromi extra nach Weißwasser, um Beifall zu klatschen: Der Mittachtziger Claus Peymann!

Der Kaufmann von Venedig
nach William Shakespeare
Fassung für zwei Personen von Malte Ubenauf, erweitert mit Texten von Gertrude Stein
Regie: Stefan Pucher, Bühne, Kostüme und Licht: Lugh Amber Wittig, Musik: Christopher Uhe.
Mit: Katharina Marie Schubert und Samuel Weiss.
Premiere am 26. August 2023
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.lausitzfestival.eu

Kritikenrundschau

Wenig überzeugend findet Jakob Hayner in der Welt (28.8 8.2023) die Inszenierung. Pucher nehme von Shakespeares Stück nicht mehr als ein paar Szenen, "mischt noch etwas Gertrude Stein dazu und lässt das von zwei Schauspielern in einer alten Fertigungshalle spielen, in der Mitte eine große Anlage mit Öfen". Katharina Marie Schubert und Samuel Weiss machen das aus Sicht des Kritikers "zwar wunderbar", doch Handlung und Konflikte des Dramas würden trotzdem "im Undeutlichen" verschwinden. "Es tauchen nur lose verbundene Bruchstücke auf. Hier der Schuldschein, dort die Flucht von Shylocks Tochter, am Ende die Gerichtsszene. Zur weiteren Verunklarung tragen auch die Stein-Texte bei, die wie ein diffuses Geraune über Geld wirken, das sich zudem noch im Programmheft fortsetzt. Der Intendant des Festivals Daniel Kühnel will mit Shakespeare darauf hinaus, dass „alles ein Preisschild hat“. Und für diese Banalität braucht es ein Stück über den Juden Shylock?"

"Recht abstrakt wird hier der Text rauf und runter gesprochen", schreibt Erik Zielke im ND (28. 8.2023). Zentrale Idee sei wohl eine halbseidene Kritik am Kapitalismus gewesen, "für die man mit Worten von Gertrude Stein ein wenig über Geld meditiert. 'Geld ist Geld, und Geld ist nicht Geld.' Gelegentlich wechseln die Darsteller ins Gesangliche. Ein merkwürdig aus der Zeit gefallener minimalistischer Elektropop erklingt – und im Duett wird in Dauerschleife gefragt: 'Einkaufen gehen, nicht einkaufen gehen / Einkaufen gehen, nicht einkaufen gehen'." Etwas verblüfft von derartigen Einfällen, fragt der Kritiker sich alsbald selbst: "Gehen oder nicht gehen?"

Trotz zwei sehr überzeugender Schauspieler bleibt diese Readers-Digest-Version des Klassikers für Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (29.8.2023) "eine etwas konfuse Skizze". Figuren, Konfliktlinien und Stückhandlung würden "eher vage angerissen als irgendwie ausgeführt oder gar durchdrungen." Die alte Industriehalle mit ihren stillgelegten Öfen und wuchtigen Einbauten sei eine beeindruckende, aber im Kontext des Stücks fast durchgehend völlig sinnfreie, rein dekorative Kulisse. Nur einmal werde der stillgelegte Ofen zur rot ausgeleuchteten Bühne mit signifikantem Stückbezug - "das aber mit entweder atemberaubend gedankenloser oder schrill effekthascherischer Regie: Ausgerechnet Shylocks Monolog über den Schmerz des ausgegrenzten Juden vor Ofen-Kulisse zu spielen, zeugt von obszöner Geschichtsvergessenheit."

Die verwinkelte Architektur der Halle habe ihn an die engen Gassen in der Gegend um die Rialto-Brücke in Venedig erinnert, protokolliert Christina Tillmann in der Lausitzer Rundschau (27.8.2023) eine Aussage von Festivalchef Daniel Kühnel. Doch spätestens als die Öfen rot zu glühen beginnen, stellen sich für die Kritikerin "in der Kombination mit dem Juden Shylock andere, schrecklichere Assoziationen ein. So bleibt an diesem zweiten Festivalabend ein zwiespältiger Eindruck zurück, und das Gefühl einer verpassten Chance."

In einer AfD-Hochburg zu einer Auseinandersetzung mit antisemitischen Zerrbildern einzuladen, wäre für Patrick Wildermann vom Berliner Tagesspiegel (29.8.2023) "ein Wagnis eigener Art".  Doch die Inszenierung produziert beim Kritiker dann nur Ratlosigkeit. Die Kabale um Shylocks Schuldschein werde zwar auch erzählt, aber dazwischen sängen die beiden Schauspieler "Songs über das Einkaufen gehen, während aus den erloschenen Schmelzöfen in dieser imposanten Kulisse der Theaternebel wabert."

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