Von Schlafgemach bis Sargtischlerei

14. Mai 2023. John Websters Renaissance-Drama "Die Herzogin von Malfi" erzählt von einer unglücklich liebenden Regentin in einer feindlichen Männerwelt. In einem Görlitzer Güterbahnhof verwandelt Daniel Morgenroth das Drama in eine riesige, faszinierende Erlebniswelt.

Von Matthias Schmidt

"Malfi" von Daniel Morgenroth nach John Webster in Görlitz © Nikolai Schmidt

14. Mai 2023. Großer Auflauf am Alten Güterbahnhof in Görlitz. Am Eingang erhält, mit der Bitte, sie während der Inszenierung zu tragen, jeder eine Maske. Es ist eine Augenmaske. Mund und Nase bleiben frei und sich wiederholende Anspielungen auf das Trauma-Thema Maske naturgemäß nicht aus. Wetter und Stimmung sind heiter, Bratwurst und Bier regional. Reichlich zwei Stunden später fühlt man sich an diesen alten "Pankow"-Song erinnert: "Ich bin rumgerannt, zu viel rumgerannt. Zu viel rumgerannt, ist doch nichts passiert." In Wahrheit ist sehr viel passiert, man war nur oft nicht dabei. Die gute Nachricht lautet: Das ist immersives Theater und soll so und ist gar nicht schlimm. Fast gar nicht.

Nicht ganz Shakespeare, aber fast

Gespielt wird zunächst vor dem Güterbahnhof. Eine Erzählerin führt in das Stück ein, stellt die Handlung und die handelnden Personen vor. Wer hier gut aufpasst, kann später, in den zahlreichen Räumen und Kammern und Gängen im Bahnhof, dem Stück leichter folgen. Das ist, wie beim späten Shakespeares-Zeitgenossen John Webster nicht anders zu erwarten, ziemlich komplex gebaut und am Ende doch ganz einfach. Die Herzogin ist frisch verwitwet, und ihre beiden Brüder wollen um jeden Preis verhindern, dass sie sich wieder verheiratet. Der eine, weil er selbst in sie verliebt ist, der andere ist Kardinal. Im konkreten Fall ist der Preis für alle Beteiligten der Tod.

Malfi3 805 Theater Goerlitz ZittauBirkenwald mit echtem Teich © Nikolai Schmidt

Im Grunde ist "Malfi" ein Stück über eine starke Frau, die gegen den Willen der Männer dennoch liebt, die aufbegehrt und dafür von ihnen getötet wird. Es ist, auch das zeigt das Vorspiel im Freien, damit nicht nur ein äußerst modernes, sondern auch ein fein geschriebenes Stück, die Sprache bildhaft und anspielungsreich, gerne derb, Tendenz zu zotig. Der Text ist, auch wenn er etwas zu schultheaternd proklamiert wird, ein Genuss. Nicht ganz Shakespeare, aber fast.

Begehbares Theaterwunder

Danach kommt der immersive Part, der weniger eine Inszenierung als vielmehr ein Raumerlebnis ist. Durch immer neue Türen und Vorhänge betritt man immer neue Räume. Allein die Besichtigung dieser spektakulären Ausstattung ist den Besuch wert. Es ist, als sei das ganze Theater umgezogen in den alten, bislang ungenutzten Güterbahnhof: so viele Zimmer und Säle, Werkstätten, eine Kantine (in der getanzt wird), Büros, eine Taverne mit Bewirtung und Live-Musik. Ein Birkenwald mit echtem Teich. Staunend stauen sich die 300 Zuschauer durch dieses begehbare Theaterwunder, betreten einen Bücherschrank, um in einer Peepshow zu landen (die es – wie auch den Teich – im Theater natürlich nicht gibt).

Einige werden von einem Priester "abgeführt", um die Beichte abzulegen. Hinter verschlossener Tür. "Invasives Theater", scherzt ein Betroffener danach. Spätestens nach einer halben Stunde Begeisterung aber hat man das Gefühl, das eigentliche Stück zu verpassen. Wenn man Schreien aus dem Nachbarraum folgt, beispielsweise, ihn aber leer vorfindet und dafür Dialogfetzen aus einem nächsten Raum hört. Zudem sind offenbar die Insassen eines Irrenhauses ausgebrochen und wuseln und kreischen durch die Szenerie. Kurzum, es ist verwirrend. "Ich habe gerade den Faden verloren", sagt jemand. Ein anderer antwortet: "Ich hatte ihn nie."

Abgründe, wohin man auch schaut

Statt der Herzogin, ihren Brüdern oder ihrem Geliebten Antonio begegnet man auf Schritt und Tritt Mitgliedern einer Wachmannschaft mit dunklen Masken (!), auf deren Armbinden "Malfi Eisenbahn AG" zu lesen ist. Man sucht in einer Gummizelle, in einer Sargtischlerei und zur Sicherheit noch einmal in der Peepshow. Man weiß ja nie, und alles sehen zu wollen ist menschlich. In einem Schlafgemach vergreift sich der Kardinal, einer der Brüder der Herzogin, an einer Julia. Abgründe, wohin man auch schaut.

Wer Glück hat, erhascht ein paar der gedrechselten Webster-Sätze im Salon der Herzogin. Oder ist, obwohl er sich nur kurz setzen und ausruhen wollte, zufällig dabei, als sie ermordet wird. Wurde nicht eben ein Sarg aus der Tischlerei geholt? Das Bild wird immer komplexer, die Lücken füllen sich, und als die Erzählerin nach knapp zwei Stunden ruft, "kommt mit, das Ende naht", verwandeln sich die vielen überbordenden Details und die beeindruckende Quantität des Abends schließlich vollends in seine große Qualität. Man folgt dem Sarg mit der Herzogin und steht in einer bislang verschlossenen Kathedrale Spalier für das Finale der Tragödie.

Malfi3 805 Theater Goerlitz ZittauDer Sarg mit der Herzogin (Maja Weber) © Nikolai Schmidt

Auf dem entstandenen Catwalk bringen sich die Bösewichte gegenseitig um, pathetisch heben Musik und Chor an, die Tanzcompagnie hat ihren ekstatischen Moment, und die Erzählerin verkündet, Hoffnung machend nach all dem Unglück, "unser ist Jugend und Schönheit".

Zu erleben, wie alle Gewerke und Sparten alles geben für diesen Kraftakt "Theater", tröstet darüber hinweg, dass ganz sicher jeder ein paar offene Fragen mit in die Nacht nimmt. In welcher Zeit spielt der Abend? Im 19. Jahrhundert? Warum? Was hat Antonio, der nur am Anfang und am Ende zu sehen war, die ganze Zeit gemacht? Warum ergibt sich die starke Herzogin der Männergewalt ohne Gegenwehr? Immerhin ist die die Regentin! Oder ist sie die Prinzipalin der Eisenbahngesellschaft "Malfi"? Die Frage stünde um so lauter im Raum. So richtig nah kommt man keiner der Figuren. Kurzum, manches an dieser Inszenierung von Daniel Morgenroth hoppelt inhaltlich etwas, und zwar nicht nur, weil man immersiv etwas verpasst hat. Was sie alle Male ist: ein grandioses Erlebnis!

 

Malfi
Ein Immersives Theatererlebnis von Daniel Morgenroth
nach dem Drama "Die Herzogin von Malfi" von John Webster
Fassung und Regie: Daniel Morgenroth, Übersetzung aus dem Englischen: Beatrix Hesse, Bühne: Damian Hitz, André Winkelmann, Daniel Morgenroth, Kostüme: Emma Sophie Hoffmann, Dramaturgie: Martin Stefke, Choreografie: Dan Pelleg, Marko E. Weigert, Choreinstudierung und Komposition: Albert Seidl, Produktionsleitung: André Winkelmann, Regieassistenz: Benjamin Blei, Ausstattungsdetails und Assistenz: Lea Kunkat, Musikeinspielung: Neue Lausitzer Philharmonie.
Mit: Maja Weber, Philipp Scholz, Jonte Volkmann, David Thomas Pawlak, Marc Schützenhofer, Noemi Clerc, Tilo Werner, Lydia Roscher, Maria Brendel, Carsten Arbel, Robert Rosenkranz, Liga Jankovska, Cordula Archner, Heiko Vogel, Hyeongwoo Kim, Madoda Ebenezer Sawuli, Won Jang, Hans-Peter Struppe, Michael Berner, Yvonne Reich, Olga Dribas, Aleksandra Borodulina, Blanche Kommerell, Eike Zastrow, Gilda de Vecchis, Cesare Di Laghi, Opernchor, Tanzcompagnie.
Premiere am 13. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.g-h-t.de

 

Kritikenrundschau

So ein Stück wie "Malfi!" war weder in Görlitz oder Zittau noch sonst im weiten Umkreis schon jemals zu sehen, lobt Ines Eifler in der Sächsischen Zeitung (15.5.2023). Das Publikum teile sich in drei Gruppen, die durch verschiedene Eingänge ein fantastisches Labyrinth aus Räumen betreten und sich dort die Inszenierung erschließen. Die Haupthandlung könne man in einer Vorstellung nicht erfassen. "Viel stärker als deren Verständnis ist der Impuls, sie entschlüsseln zu wollen, ihr wie ein Detektiv zu folgen und dabei in einen Sog zu geraten, der am Ende die Menge – von Trommelschlägen angeführt – ins große Finale zieht." Die Musik, der Chor und das gesamte Tanzensemble entfachen am Ende ein Feuer, das die Zuschauer in großer Emotion erfasst.

Für das nd (15.6.2023) ist Jakob Hayner nach Görlitz gereist und berichtet: "Solange man nicht nur in der Kneipe sitzt (wogegen nichts spricht!), sucht man sich die Handlung selbst zusammen – mit einigen echten Überraschungen. Dass das enorme Freude macht, liegt schon an der überwältigenden Welt, die die Haustechnik erbaut hat. Kaum ist es nach einem fulminanten Finale mit großem Chor und zahlreichen Tänzern vorbei, will man sofort von vorne beginnen. Wenn Eintauchen dies bedeutet, nämlich die fast detektivische Neugier auf eine Fantasiewelt zu wecken, die in ihrer Kaputtheit unserer Welt nicht unähnlich ist, dann ist das nicht nur großes Theater, sondern auch ein starkes Lehrstück über den Gebrauch der Fantasie im Zeitalter der Games."

Kommentar schreiben