Adieu, Tristesse

9. November 2023. Die auf ungewöhnliche Theaterorte spezialisierte Gruppe Café Fuerte versetzt Tschechow ins ländliche Vorarlberg. In einen alten Bahnhof. Mit einem erstaunlichen Zugewinn an Leichtigkeit und Überzeugungskraft.

Von Martin Thomas Pesl

Anton Tschechows "Der Kirschgarten" von Café Fuerte in Vorarlberg © Laurenz Feinig

9. November 2023. "Theater woanders", lautet das Motto von Café Fuerte. Es ist nicht das Woanders, an das die metropolengepolte Kulturblase denkt, wenn sie hört, dass sie zum alten Bahnhof Doren in Bozenau im Bregenzerwald in Vorarlberg am Ende von Österreich fahren soll. Hier und über die Grenze im Appenzell wirken die Köpfe hinter Café Fuerte, die Regisseurin Danielle Fend-Strahm und der Schauspieler und Autor Tobias Fend, weil sie eben hierher kommen. Ihr "woanders" bezieht sich darauf, dass die 2011 gegründete Gruppe noch nie ein Stück in einem Theatergebäude aufgeführt hat.

Gebäude generell sind eher die Ausnahme. Im Falle der aktuellen Arbeit ist es eines: ein lange stillgelegtes Bahnhofshäuschen, jüngst renoviert. Es hat ein Dach, warm anziehen sollte man sich dennoch, so die Warnung. Wobei einige der klimafreundlich anreisenden Gäste, die ein Gratis-Shuttle entlang des Bregenzerwalds aufsammelt, das Gegenteil gelesen haben wollen. "Bei Café Fuerte war es noch nie warm", beendet eine Dame die Diskussion amüsiert, während der Bus immer tiefer in den finsteren Wald zu kurven scheint.

Erstmals ein Dramenklassiker bei Café Fuerte

Noch etwas ist neu: Meist schreibt Tobias Fend die Stücke selbst, seltener gibt es Prosaadaptionen und zeitgenössische Dramatik. Mit dem "Kirschgarten" nimmt man sich erstmals einen Dramenklassiker vor. Und der spielt hier zwar authentisch auf dem Land, entbehrt in dieser zauberhaft schwirrenden 85-minütigen Inszenierung aber jeglicher Tschechow-Tristesse. Wohl, etwas Traurigkeit liegt in der Luft, weinen möchte man aber vor allem beim Gedanken daran, mit wie viel unnötiger Schwere große Theater diesen Autor schon in die Länge zogen. Wie kompakt es geht, ist hier zu erleben. Die sieben wichtigsten Figuren sind in der Strichfassung übriggeblieben.

Kirschgarten1 Laurenz Feinig uReduziertes Personal, intensiviertes Spiel: das Ensemble im Bahnhofsgebäude von Doren in Vorarlberg © Laurenz Feinig

Da Café Fuerte innerhalb der Region auch tourt, steht Minimalismus an. So sind zwei Kronleuchter auf dem Boden (aber funktionierend!) das einzige Bühnenbild. Der L-förmige Raum hat mehrere Fenster zum Bewundern des Kirschgartens in Gestalt stimmungsvoll angeleuchteter Bäume hinterm Gebäude. Wie alle Spieler:innen schon nebeneinander aufgefädelt sitzen, an der Spitze des langen L-Endes, während das Publikum die Mini-Tribüne füllt, das mag eine Hommage an Jürgen Gosch sein. Oder es ist einfach wenig Platz.

Wuselige Leichtfüßigkeit

Und dann geht es los, passenderweise am Bahnhof, wo Ljuba, ihr Bruder Leonid und ihre Tochter Ánja ankommen, um das geliebte, längst überschuldete Landgut zu besuchen. Lopachin holt sie ab, der Mann, dessen Ahnen hier als Sklaven schufteten, der Mann mit den modernen Geschäftsideen – der Mann, der den Kirschgarten letztlich ersteigern wird.

Die vier Akte verfliegen rastlos wuselnd, leichtfüßig und klar, oft begleitet vom A-cappella-Gesang des Ensembles. Und so dicht, dass in die 85 Minuten sogar reinpasst, wie Katharina Uhland zum Abschluss eines Klagemonologs eine Literflasche auf einen Satz leertrinkt. Während der überraschenden Performance unterbleibt ausnahmsweise jede Bewegung, jeder Klang.

Kirschgarten2 Laurenz Feinig uJohanna Köster als Wárja © Laurenz Feinig

Uhland ist eine nahbare Ljuba, von schmerzlichen Verlusten hart gemacht, nur zur Show bisweilen divenhaft. Wann immer Lopachin von der Versteigerung anfängt, fasst sie sich ans Ohr, als gäbe es eine irritierende Frequenzstörung, und kriegt nichts mehr mit.

Stephan Weigelin wiederum gibt nicht den kalten Bösewicht, als der Lopachin oft dasteht. Er meint es gut. Umso erschreckender sein Ausbruch, rot Anlaufen inklusive, als er realisiert, was der Kauf für ihn bedeutet. Übrigens ist Lopachin möglicherweise schwul, ebenso wie der ewige Student Petja (Fend). Ein kurzer Moment der Zärtlichkeit zwischen den beiden, unaufgeregt eingeflochten, lässt einleuchten, dass beide Männer bei ihren jeweils naheliegenden Bräuten nicht aktiv werden.

Abseits des Streits zwischen Nostalgie und Moderne

Fend-Strahm inszeniert nah am Publikum eine feine Mischung aus direkten Emotionen und ihrer choreografierten Zuspitzung. Ein Sonderfall ist der britische Tänzer John Kendall. Als greiser Diener spricht er englisch, was die anderen als Gebrabbel wahrnehmen ("Er hört schlecht"). Schaut niemand hin, gibt er die bucklige Haltung auf und tanzt. "I lived for a long time", sagt Kendall einmal wie weggetreten, und sein Kostüm – Haube auf barocker Perücke, Livree über T-Shirt und Trainingshose mit Markenaufdruck – verortet ihn in allen Zeiten und keiner, abseits des Streits zwischen Nostalgie und Moderne, der hier leichtfüßig, aber schonungslos ausgetragen wird.

Gewiss ginge all dies auch auf einer Bühne, in einer Stadt. Aber hier in Decken gewickelt und nicht genau wissend, wo (und wann) man ist – woanders halt –, tut die Vorstellung abgeholzter Kirschbäume besonders weh.

 

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
In einer Fassung von Café Fuerte nach einer Übersetzung von Vera Bischitzky
Regie: Danielle Fend-Strahm, Ausstattung: Matthias Strahm, Musik: Nikolaus Feinig-Hartmann.
Mit: Meda Banciu, Tobias Fend, John Kendall, Johanna Köster, Katharina Uhland, Stephan Weigelin, Gregor Weisgerber.
Premiere am 8. November 2023 im alten Bahnhof Doren
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.cafefuerte.at


Kritikenrundschau

Dem Café Fuerte sei "eine absurd-witzige und mitreißende Umsetzung von Tschechows letztem und auf den gesellschaftlichen Wandel fokussierten Theaterstücks gelungen", schreibt Sieglinde Wöhrer in der Neuen Vorarlberger Tageszeitung (11.11.2023) und lobt die "einfallsreichen Kostüme" und die Wahl des Orts. "In der reduzierten Inszenierung von Danielle Fend-Strahm brauchen die Figuren keine gefüllten Hintergründe, weil sie selbst die Kontraste und Vielschichtigkeiten von Tschechows Charakteren im fast leeren Raum ausbreiten."

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