Die Wichtigkeit des Anfangs

19. März 2023. Vom 20. bis 24. März zeigen wir in der Reihe "Der historische Stream" auf nachtkritik.plus zwei Inszenierungen von Andrea Breth: "Süden" (1987) und "Don Carlos" (2004). Ein Gespräch mit der Regisseurin aus diesem Anlaß: über diese Arbeiten und ihren Werdegang als Künstlerin in einer männerdominierten (Theater)welt.

Von Esther Slevogt

Andrea Breth 1993 © David Baltzer / Bildbühne

19. März 2023. Vom 20. bis 24. März 2023 zeigen wir in der Reihe "Der historische Stream" auf nachtkritik.plus zwei Inszenierungen von Andrea Breth: "Süden" (1987) läuft vom 20. bis 22. März, und "Don Carlos" (2004) vom 22. bis 24. März. Anlässlich dieses Andrea-Breth-Specials hat Esther Slevogt mit der Regisseurin gesprochen – über die beiden Arbeiten, die Beginn und Höhepunkt ihrer beispiellosen Karriere markieren, und über ihren Werdegang als Künstlerin in einer männerdominierten Theaterwelt.

Wir zeigen in der nachtkritik-Reihe "Der historische Stream" jetzt zwei Inszenierungen von Ihnen: "Süden" von Julien Green, in der Spielzeit 1986/87 am Schauspielhaus Bochum entstanden und "Don Carlos" von Friedrich Schiller, das 2004 am Burgtheater Wien Premiere hatte. Beim Wiedersehen dachte ich, das sind zwei Inszenierungen, die im Grunde eine Anatomie des Westens betreiben, so wie darin Macht- und Herrschaftsverhältnisse festgemacht werden an Kultur und Lebensweisen genauso wie an den Deformationen, die sie in den Seelen der Figuren angerichtet haben. In "Süden", einem Stück aus dem Jahr 1953, das Sie damals wiederentdeckt haben, sehen wir versklavte Menschen und Sklavenhalter, die in opulentem Interieur ihre verkorksten Gefühlswelten ausbreiten. 

Andrea Breth: Das Interessante an dem Stück war für mich, dass es im April 1861 unmittelbar am Vorabend des Bürgerkriegs in den USA spielt. Allen ist unbewusst oder sogar bewusst längst klar: Sie stehen vor einem Bürgerkrieg. Aber: sie reden, reden sich um Kopf und Kragen. Sie tun nichts anderes als Reden. Die Schauspieler haben damals gesagt: "Sagt mal, da müssten wir doch streichen!" Nein, habe ich dann immer geantwortet, das ist ja gerade der Wahnsinn. Sie wissen alle, dass etwas Schlimmes geschehen wird, aber sie reden! Das Gleiche haben wir jetzt ja auch: Wir stehen vor unfassbaren Katastrophen. Und reden. Das hat mich schon damals fasziniert an diesem Stück. Dazu kam, dass ich Julien Green für einen unglaublichen Romancier halte und es überraschend fand, dass er auch Theaterstücke geschrieben hat. Mich hat "Süden" unendlich interessiert – auch diese Welt der Südstaaten ... 

... aus der Julien Greens Eltern stammten, die kurz vor der Jahrhundertwende aus dem US-amerikanischen Georgia nach Paris gezogen waren, wo Green 1900 geboren wurde.

Ich erinnere mich, wie ich dann, als das Bühnenbild fertig war, mit diesen Entwürfen nach Paris zu Julien Green gereist bin – und komme in seine Wohnung, und sehe einen Salon – es war eine riesige Wohnung im Regierungsviertel von Paris – und da war, das ist jetzt kein Witz, noch der Salon seiner Mutter! Den hatte er dort. Es war genau das Inventar, die Möbel und alles, wie wir es nun für Bochum dachten, für das Bühnenbild. Das war schon sehr merkwürdig. 

Damals wollte ich ihn ganz viele Dinge fragen, aber er hat überhaupt nicht darauf geantwortet. Stattdessen hat er mir erzählt, wie er, als er jung war, unbedingt die Gertrude Stein kennenlernen wollte und damals alles in Bewegung gesetzt hat, um sie zu treffen, ihr seine Bücher geschickt hatte, weil er so gerne wissen wollte, was sie davon hält. Eines Tages kam ein Anruf: Er kann sie treffen. Er fährt dorthin, stellt sich vor diese Dame und sagt: "Ich bin der und der – ich habe ihnen meine Bücher geschickt. Haben sie vielleicht Zeit gehabt, sie zu lesen?" Und da hat sie gesagt: "I liked the first lines!" Er war ganz erschrocken. Und ich dachte: Oh mein Gott, das ist ja hart! Doch plötzlich habe ich gemerkt, er erzählt mir etwas, was ich unbedingt wissen muss: Wie fängt ein Theaterabend an?! Ich habe dreißig Anfänge inszeniert für "Süden", um den zu finden, wo ich das Gefühl hatte: Das ist es! Durch Julien Green und diese Arbeit habe ich gelernt, wie wichtig das ist: Wie fängt ein Theaterabend an.

Ja, der Anfang von "Süden" ist schon sehr suggestiv, wie Wolfgang Michael da in einer düsteren Klangwolke steht wie ein Abgesandter des Todes, in diesem erdrückenden dunklen Interieur, und man hinter dem weiten Horizont vor den Fenstern schon die kommende Katastrophe spürt. Es wird dann ja auch schnell deutlich, dass es der Lebensstil dieser Menschen ist, der sie in den Untergang reißt: "Süden" ist ein Stück über die Sklaverei mit authentischem Casting, also mit einem gemischten Ensemble aus Schwarzen und weißen Schauspielern, wo Schwarze Sklaven spielten. Hat sich das auf die Arbeit an dem Stoff ausgewirkt?

Wir haben alle gemeinsam "Süden" erzählt, es war eine sehr intensive und schöne Zusammenarbeit. Proteste kamen eher von außen: Afrikanische Studenten der Universität Bochum waren empört, weil auf der Bühne das N*-Wort benutzt wurde – natürlich nicht aus Überzeugung, sondern so wurden die Menschen ja entsetzlicherweise genannt in der Zeit, in der das Stück spielt. Als sie das damals gehört hatten, haben die afrikanischen Studenten gedroht, die Premiere zu sprengen. Wir haben sie dann zum Gespräch eingeladen und nochmal erklärt, dass das Stück am Vorabend des amerikanischen Bürgerkriegs spielt und darin die Sprache benutzt wird, die damals verwendet wurde und dass diese Sprache nicht unsere Haltung wiederspiegelt oder die Haltung von Julien Green, sondern die Situation der Schwarzen damals. Das war ja so! Dazu gehört auch dieses Vokabular. 

In Ihrer Inszenierung "Süden" wirken alle von diesem System gezeichnet und verstümmelt. Darin hat sie auch etwas Parabelhaftes aus heutiger Sicht: Die westliche Welt, deren ganze Kultur und Lebensart auf Ausbeutung und Barbarei gegründet ist. Selbst die "schönen Seelen", die beiden jungen Frauen Regina und Angelina etwa, nähren sich noch an der Barbarei. Das fand ich mit diesem Stoff "Süden" und seinen Figuren wahnsinnig gut erzählt. Bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch habe ich mich trotzdem gefragt, wie bewusst Sie das überhaupt thematisiert haben. Denn 1987, als die Inszenierung herauskam, gab es die postkolonialen Diskurse ja so noch nicht – waren sie im Mainstreamdiskurs noch gar nicht manifest geworden. Man merkt das ja auch an der Überraschung, mit der Sie damals auf die Proteste der afrikanischen Studierenden reagiert haben.

Als Künstler ist man ja davon abhängig, was man für ein Empfinden der Zeit gegenüber hat. Immer ist man froh, einen Stoff zu finden, mit dem man das erzählen kann, ohne vorlaut zu werden oder eigenen Kram zu machen. Mich hat diese merkwürdige Vorahnung interessiert, diese schreckliche Atmosphäre, die in dem Stück herrscht, die sie aber alle nicht greifen können – sondern stattdessen so dem Entsetzen entgegendämmern. 

1987, das Jahr der Premiere, war ja auch schon eine Art Vorabend des Endes einer Epoche, des Zusammenbruchs der Welt, in der wir "Boomer" noch sozialisiert worden sind. 1987 konnte man noch nicht wissen, was 1989/90 passieren würde.

1989, beim Fall der Mauer also, habe ich in Bochum "Die Letzten" inszeniert, ein ziemlich unbekanntes Stück, wie "Süden" ja auch – von Gorki. Da ging es genau darum, den Zusammenbruch einer Welt – ich hab's aber nicht gewusst, ich hatte keine Ahnung! Während der Proben hat plötzlich ein Schauspieler zu mir gesagt: "Du, die Mauer ist gefallen!" Ich habe ihn gefragt: "Was ist gefallen, welche Mauer?" Das war für mich völlig außerhalb meiner Vorstellung, obwohl ich dabei war, das Ende einer Ära zu inszenieren. "Süden" beschreibt ja auch das Ende einer Ära. 

Diese Opulenz des Stils in "Süden", diese unreflektierte Freude am Reichtum – auch die 1980er Jahre hatten ja etwas davon. Damals sprach man im Westen vom Ende der Geschichte und meinte damit, dass es jetzt ewig so weiter gehen würde. Diese Parallelität fiel mir erst jetzt, beim Wiedersehen, auf, und ich finde das schon sehr visionär von Ihnen im Umgang mit dem Julien-Green-Stoff sichtbar gemacht. Filmisch fast! Apropos: warum sind Sie an einem Punkt Ihrer Karriere eigentlich nicht nach Hollywood gegangen?

Ja, mir sagen viele Leute, ich soll Kino machen. Aber ich weiß nicht – das ist doch eine eigene Kunst. Es ist vielen, sehr guten Theaterregisseuren nicht gelungen, einen wirklich guten Film zu machen. Das ist noch mal ein ganz anderes Geschäft. 

Auch "Don Carlos" ist sehr filmisch gedacht: Es ist gewissermaßen Theater im Technicolor-Format, das tatsächlich so groß war, dass die Inszenierung 2005 in Berlin beim Theatertreffen gar nicht gezeigt werden konnte. Kein Berliner Theater war groß genug dafür.

Das Burgtheater ist die größte Bühne und hat die größte Drehscheibe. Und diese Drehscheibe ist deswegen so berühmt, weil sie sich nicht nur dreht, sondern gleichzeitig runterfahren kann. Wir hatten diese Riesen-Kisten, die dann auf die Bühne kamen, diese Bettenräume zum Beispiel – die waren alle unten und wurden dann hochgefahren – sonst hätten wir die Umbauten zeitlich gar nicht geschafft. Das ganze Theater, auch die Gänge, war vollgeräumt mit unserem Zeugs für "Don Carlos". Das hätten wir wirklich nirgendwo anders hingekriegt.

Auch in "Don Carlos" ist bei Ihnen der kolonialistische, ausbeuterische Westen die Folie, auf der das Drama spielt. Ein absoluter Überwachungsstaat, nach innen wie nach außen. Eine Macht-Männerwelt. Einer der flämischen Generäle, gegen die König Philipp kämpft, Medina, ist mit einem Schwarzen Schauspieler besetzt.

"Don Carlos" ist nur scheinbar ein Historiendrama. Es geht viel mehr um Kabale, Macht und Machtgehabe. Das hat Schiller an dieser Geschichte von Don Carlos und König Philipp gut erzählen können. Aber trotzdem wollte er kein Historiendrama schreiben. Mit Sicherheit nicht! Ich finde ja immer, Schiller wäre heute in Hollywood einer der besten Drehbuchautoren. Das ist unheimlich spannend, wie der das schreibt. Wie ein Krimi! 

Ja, es ist sehr aufregend und macht auch Spaß, zuzuschauen, wie Sie dieses Bildungstheater, das man mit Schiller immer assoziiert, quasi in ein Netflix-Format überführen ...

"Don Carlos" wollte ich unbedingt inszenieren. Zum damaligen Zeitpunkt hat mich das unglaublich interessiert – diese Macht-und-Ohnmacht-Problematik –, dann dieses Umkippen, wie es am Anfang zwischen Posa und Carlos passiert: Der eine hat sich politisiert, der andere angeblich auch – will aber plötzlich stattdessen eine Liebesgeschichte leben. Da ist dann eben die Frage: Was ist richtiger? Verzichtet man auf all diese Gefühle für das Politische? 

Ein anderer Aspekt war, inwieweit der Posa selbst dem Machtgehabe verfällt, das er eigentlich kritisiert. Wie diese Biografien in dem Stück alle wie Billardkugeln durcheinander schießen, das ist welthaltig. Natürlich sieht der König in Posa auch einen idealen Sohn, so hat er sich den Carlos doch gewünscht. In Carlos sieht er dagegen einen Loser-Typen. Kaum eine Vater-Sohn-Geschichte ist so schrecklich wie diese: dieser Vater, der dem Sohn ständig beweist, dass er nichts kann und nichts wird. Und dass er vor allem nicht diese Liebensgeschichte mit Elisabeth leben kann. Das weiß der Vater doch! Ich nehme sehr selten Eingriffe in Stücke vor. Aber bei "Don Carlos" habe ich das letzte Bild gestrichen, weil ich mir eine Versöhnung und das gute Ende der Angelegenheit nicht vorstellen konnte. Dafür hatte ich keine Offenheit. Das konnte ich nicht inszenieren. Insofern endet das Ganze bei mir in einer heillosen Katastrophe. 

Zwischen beiden Inszenierungen, "Süden" (1987) und "Don Carlos" (2004), liegt eine Karriere in der Theater-Top-Liga einer männerbeherrschten Branche. Welche Rolle hat das für Sie gespielt? 

Ich war, glaube ich, die erste Frau in Westdeutschland, die Regie geführt hat. In der DDR war das anders, da gab es zum Beispiel die wunderbare Ruth Berghaus und noch ein paar andere. Aber in Westdeutschland war ich, glaube ich, die erste.

Man muss als Frau wesentlich mehr können als Männer. Denn jeder Techniker (heute ist das nicht mehr so, aber vielleicht auch, weil ich inzwischen ein anderes Kaliber bin) sagt zu einer Anfängerin: "Das geht nicht!" "Das können sie gar nicht machen." "Das funktioniert nicht!" "Das ist technisch nicht möglich." – und so weiter. Deswegen musste ich da sehr viel lernen, damit mir niemand etwas vormachen kann. Und dabei wird man immer tougher. Man wird auch nicht unbedingt angenehmer. Man eignet sich unendlich viele Ellenbogen an, die manchmal auch ein bisschen charakterschädigend sind, weil man so ein harter Brocken wird. Aber anders geht es nicht.
 
Überhaupt durchzuhalten, verlangt es, dass man obsessiv ist. Dass man gar nicht anders kann als etwas zu erarbeiten. Ich war unglücklich, wenn ich nicht auf der Probebühne war oder im Zuschauerraum. Die Ängste sind immer da, die habe ich auch heute noch. Ich bin ja nie sicher, dass ich da irgendetwas Sinnstiftendes erledige. Je höher man steigt, je bekannter man ist, desto größer ist ja auch die Absturzgefahr. Der Weg zum Sturz ist dann vielleicht länger, aber vielleicht ist er auch tödlich.

Andrea Breth, am 31. Oktober 1952 in Rieden bei Füssen geboren, ist Regisseurin. Breth wuchs in Darmstadt auf. Von 1971 bis 1973 studierte sie Literatur in Heidelberg. Nach Regieassistenzen am Heidelberger Theater wechselte sie mit Intendant Peter Stoltzenberg nach Bremen. Ihre erste Inszenierung war "Die verzauberten Brüder" von Jewgeni Schwarz (1975). Weitere Inszenierungen folgten in Wiesbaden, Bochum, Hamburg und Berlin. Intendant Ulrich Brecht holte sie 1983 ans Freiburger Theater. Nächste Stationen waren Bochum (1986-1989) und Wien (1990 und 1992). Von 1992 bis 1997 künstlerische Leiterin der Berliner Schaubühne. Nach Auseinandersetzungen mit dem Ensemble erklärte sie ihren Rücktritt und wechselte 1999 als Hausregisseurin ans Wiener Burgtheater. Andrea Breth wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 1987 mit dem Fritz-Kortner-Preis und 2003 mit dem Nestroy-Preis für "Beste Regie". Sie ist Mitglied der Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main und der Akademie der Künste Berlin. 2006 wurde ihr der Theaterpreis Berlin verliehen, dessen Preisgeld sie an eine Suppenküche in Pankow spendete. Im Juni 2009 wurde sie mit dem Österreichischen Ehrenkreuz ausgezeichnet. 2015 erhielt sie den Schillerpreis der Stadt Marbach (Zusammenfassung der Laudatio von Gerhard Stadelmaier) und das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. 2019 erhielt sie den Nestroypreis für ihr Lebenswerk.


--> Hier geht es zum Breth-Special auf nachtkritik.plus"Süden" (1987) läuft vom 20. bis 22. März und "Don Carlos" (2004) vom 22. bis 24. März 2023.

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