Geschichte kennt keine Helden

von Hartmut Krug

Greifswald, 2. Oktober 2008. Ein Schneesturm schließt im Winter 1978/79 das Kernkraftwerk "Bruno Leuschner" in Lubmin bei Greifswald von der Außenwelt ab. Während mehrere Kohlekraftwerke ihre Stromlieferungen einstellen, müssen die Eingeschlossenen der Schicht C alle vier Reaktoren in Betrieb halten. Unbedingt. Weil ihre Schichtablösung in den Schneeverwehungen stecken bleibt, müssen sie die Arbeit mehrere Tage allein schaffen. Die zeitgenössischen Zeitungsausschnitte im Foyer sprechen von Heldentaten. Doch in dem Stück, das nach mehrmonatigen Recherchen und zahlreichen Befragungen von Zeitzeugen als Koproduktion des Theaters Vorpommern mit dem Berliner Produktionskollektiv lunatiks produktion in Greifswald zur Premiere kam, heißt es gleich zu Beginn "Geschichte kennt keine Helden", und eine Figur betont oftmals: "Ich möchte nicht, dass es hinterher heroisiert wird".

Erinnern heißt erzählen

Erinnern ist ein schwieriger Prozess, der stets von späteren Bewertungen beeinflusst wird. Dessen ist sich die Inszenierung von Tobias Rausch bewusst, indem sie ein Panorama von Zeitzeugen entwirft, die sich mit den Erfahrungen von heute an damals erinnern. Dabei wird das Vergangene mit einfachsten spielerischen Mitteln nicht bebildert, sondern vor allem erzählt.

Weiße Styroporteile vor einem mannshohen, mit "Spionspiegelfolien" (so das Programmheft) bezogenen Kasten – der nur bei bestimmtem Lichteinfall einzusehen ist – verdeutlichen auf der kleinen Bühne des "Theaters auf der Probebühne" die Lage des im Schnee versinkenden Kernkraftwerks. Eine Darstellerin auf einer Leiter spricht übers Mikrofon grundsätzliche Worte über Geschichte, während drei Darsteller erklären, ihr Name sei Ulrich Wagenberg, Diensthabender Ingenieur des Kraftwerks.

Im Verlauf des Stückes erzählen die vier Darsteller von immer wieder wechselnden Figuren. In der Zentrale der Energieversorgung nimmt eine Frau Beschwerde-Anrufe entgegen, der Bäcker, der das Kraftwerk beliefert, erklärt einem zweiten Spieler seine Situation, während die übrigen die vergeblichen Versuche, mit Schneefräsen und Loks von Greifswald nach Lubmin durchzukommen, mit Styroporteilen vorspielen oder auf eine bühnenbreite Plastikfolie aufmalen.

Die Preise von damals

Ein Mitarbeiter der damaligen "Kaufhalle 8. Mai", heute Aldi, erinnert sich noch genau an alle Lebensmittelpreise von damals, ein anderer zitiert aus dem Brigadetagebuch, ein dritter berichtet vom legendären Fasching der KKWler, die ein eigener Konsum mit gelegentlicher Südfrüchte-Belieferung versorgte. Im Erzählen der Theatergruppe verdichten sich die Geschichten aus dem Alltag und von der Beinahe-Havarie zu Geschichte.

Ob es, nachdem die Arbeiter in der Notsituation gezeigt haben, dass sie länger als acht Stunden pro Schicht arbeiten können, um ihre streikähnlichen, fast erpresserischen Forderungen nach längeren Schichten geht, die ihnen zwei statt nur einem freien Wochenenden ermöglichen, ob es um die Schilderung der Reparatur einer Kühlwasserpumpe geht oder um den Kampf um das letzte Essen in der Kantine: Immer finden Katja Klemt, Christian Banshaf, Lukas Goldbach und Christian Holm zu einer unangestrengten, zugleich kommentierenden und reflektierenden darstellerischen Sinnlichkeit.

Entsorgen Sie mal einen heißen Kaffeefilter

Das mittlerweile zur leeren Mode verkommene Zeigen des Darstellens, indem man aus der Rolle kurz aussteigt oder sich gegenseitig wie auf der Probe anspricht – hier wird es zum selbstverständlichen Mittel souveräner Schauspielerei. Außerdem bietet diese Inszenierung wunderschöne Einzelszenen. Wenn die Entsatzschicht vergeblich versucht, in Bussen nach Lubmin zu fahren, verwandelt sie sich plötzlich in eine Schülerschar, der die historischen Entwicklungsdaten abgefragt werden. Das Wort Graupelschnee treibt einen Darsteller in Wortfindungs-Assoziationen, die von Pittiplatsch über Subbotnik bis zum Festival des politischen Liedes Zeitatmosphäre beschwören.

Wirklich toll aber sind die Szenen, in denen es um das Wesen von Kernkraft geht. Da erklärt etwa ein Darsteller mit offiziellen Worten die Kernkraft, während ein anderer Kaffee kocht und dessen Erklärungen dabei komisch versinnlicht, bis er dem Kernkraft-Herold den heißen, tropfenden Filterbeutel in die Hand drückt und der nun vergeblich versucht, die behauptete sichere Entsorgung zu bewerkstelligen.

Trotz einiger weniger Längen ist dieser, im Rahmen von "Heimspiel" von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Abend, ein wirkliches Ereignis. In Greifswald erlebt man das selbstreflexiv weiterentwickelte Dokumentartheater.

 

Schicht C – Eine Stadt und die Energie
Projekt des Theaters Vorpommern in Zusammenarbeit mit lunatiks produktion
Text von Tobias Rausch unter Mitwirkung des Ensembles
Regie: Tobias Rausch, Bühne und Kostüme: Jelka Plate, Musik und Sound: Matthias Herrmann, Projektleitung: Tobias Graf.
Mit: Katja Klemt, Christian Banshaf, Lukas Goldbach, Christian Holm.

www.theater-vorpommern.de

 

Mehr zum Theater Vorpommern? Bitte schön, eine Kritik zu Ulrich Plenzdorfs Legende vom Glück ohne Ende aus dem Dezember 2007.


Kritikenrundschau

In der Ostsee-Zeitung (4.10.2008) schreibt der langjährige Kritiker Dietrich Pätzold über das "muntere epische Spiel": "Der Text ist von Beginn an eine vielstimmige Komposition: Philosophisches über die Historie als Beutestück oder über Helden- Kritik liefert den Hintergrund zu Konkretem aus dem Kernkraftwerk." So einfach diese Inszenierung in ihren Mitteln sei, "so sensationell wirkt das komplexe Gesamtbild, das sich aus Gesten, Vorgängen und den Texten von vielen Zeitzeugen" ergebe. Held gewesen, obwohl nischt gemacht, erzähle ein ehemaliger Kraftwerk-Mitarbeiter "nachdem er mit seiner Schicht C … rund 56 Stunden lang das Kraftwerk fehlerfrei am Laufen gehalten hatte und nun vor dem langersehnten Schlaf erst noch das Propagandageschwafel von Parteibonzen über sich ergehen lassen musste". Doch gehe der Abend weit "über Dokumentarisches" hinaus. Im Mikrokosmos werde auch nach dem Funktionieren der DDR gefragt und "danach, was den Menschen" als einzelnen wie als Gattung "ausmacht". Selbst wenn der Mensch als "großer (Energie-)Räuber an der Natur" dastehe, werde dies "bemerkenswert heiter gespielt".

Im Nordkurier (4.10.2008) aus Neubrandenburg schreibt Susanne Schulz: "Ein Kraftwerk funktioniert ungefähr so wie eine Kaffeemaschine, Kernspaltung lässt sich mit der Anziehungskraft des Ausziehens erklären, und … natürlich lässt sich mit dieser Art Spaß das komplexe Thema … nicht erschöpfend behandeln." lunatiks produktion habe gemeinsam mit den Schauspielern eine Collage aus "einer Vielzahl spielerischer Formen" entwickelt. Die Inszenierung verweigere sich "ideenreich" einem "Heldenpanorama". Ein "erfrischendes Kaleidoskop szenischer Ideen" und lustvolles Spiel der Akteure, verhinderten indes nicht, dass "die Typisierung" anfangs in "Comedy-Nähe" gerate. Doch sie "findet ihre Form" auch dank "aussagestarken Vokabulars": Wenn ein KKW-Mitarbeiter schildere, wie er endlich per Hubschrauber "ausgetauscht" wurde, "erinnert das nicht von ungefähr an Geiselnahme und Gefangenenaustausch".

Im Neuen Deutschland (7.10.2008) schreibt Velten Schäfer: "Was zur Aufführung kommt, ist eine Collage aus verschiedenen subjektiven Geschichten, Ansichten, Draufsichten, die sich mal ergänzen, mal gegenüberstehen und mal nebeneinander laufen: Die Geschichte der jungen Mutter, … des Schichtleiters, … der Bäckereiarbeiterin, … die Andeutungen über entspannende Maßnahmen während der unverhofften gemeinsamen Nachtruhe; … vom »Kniegeld« aus Kinokarten, mit denen schließlich in der Kantine gezahlt wurde; die Geschichte vom Kampf um die Plätze im rettenden Hubschrauber". Das Ensemble erzähle ohne jeden Aufwand "und doch sehr amüsant", die Schauspieler spielen kein Stück, "sie inszenieren Interviews".

 

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