Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum
Die Hölle legt eine Pause ein
26. Oktober 2021. Ein Künstlerinnen-Roman, eine Selbstfindung zwischen der Gewaltgeschichte zweier Weltkriege und den Krisen der Gegenwart: Die Erzählerin in Emine Sevgi Özdamars neuem Roman "Ein von Schatten begrenzter Raum" verlässt die Türkei in den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, um in der europäischen Theaterwelt eine Heimat zu finden. Auch hier trifft sie allerorts auf die Spuren der Geschichte.
Von Silke Horstkotte
26. Oktober 2021. Eine kleine türkische Ägäis-Insel, gerade gegenüber der griechischen Insel Lesbos: Hierher hat sich die Erzählerin zu Anfang von Emine Sevgi Özdamars neuem Roman "Ein von Schatten begrenzter Raum" zurückgezogen. Die Türkei ist in den späten siebziger Jahren eine instabile Demokratie, die progressive Kräfte mit brutaler Gewalt unterdrückt und auf eine nationalistische Militärdiktatur zusteuert. Auf der Insel findet die Erzählerin die Spuren einer ethnisch und religiös pluralen Vergangenheit, die mit dem Genozid an den Armeniern 1915/16 und dem griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch 1923 beendet wurde und über die seither nur in Andeutungen gesprochen werden kann.
In der verlassenen, halb zerstörten orthodoxen Kirche der kleinen Insel werden die griechischen, deutschen, armenischen und türkischen Stimmen aus dem Ersten Weltkrieg wieder lebendig. Wo einmal ein Fresko der Gottesmutter zu sehen war, erblickt die Erzählerin den deutschen Kaiser, den osmanischen Sultan, türkische Soldaten und armenische Mädchen, die in einem Klagelied vom Todesmarsch in die syrische Wüste berichten.
Der Zeit voraus
Viel später wird die Erzählerin an diese Grenze Europas zurückkehren, und sie wird hier einen prophetischen Traum haben, in dem der Meeresboden mit den Hosen, Jacken, Röcken und Kinderjacken heutiger Mittelmeerflüchtlinge bedeckt ist. Die Erzählerin droht, sich in den Kleidern zu verfangen, aber eine Stimme zieht sie heraus: "Hier, dieser Ort, ist deiner Zeit voraus. Du musst zurück in deine Zeit, deine Zeit ist noch IN DER PAUSE DER HÖLLE".
Mit diesen beiden Szenen ist der Bogen gespannt, in dem sich der Roman bewegt: der Bogen zwischen der Gewaltgeschichte zweier Weltkriege und den Krisen der Gegenwart. Eine Zeit, in der die Hölle eine Pause macht – jedenfalls für die Erzählerin, die sich aus der repressiven Türkei in die europäische Theaterwelt rettet und die Nachrichten über den Militärputsch in der Türkei und die iranische Revolution fortan aus Berlin, Paris, Avignon, Louvain-la-Neuve und Bochum verfolgt.
Auch in dieser Pause der Hölle allerdings trifft sie überall die Spuren der Geschichte der Hölle. Berlin erscheint ihr als zerbombtes Grabmal Draculas, die deutschen Kollegen hadern mit ihren Nazi-Vätern. Die Eltern der jüdisch-griechischen Freundin Efterpi wurden im Holocaust ermordet, und in Paris weiß die Erzählerin um die islamistischen Anschläge, die 37 Jahre später das Kulturzentrum Bataclan treffen.
Auch wenn so an einzelnen Stellen der Blick der Gegenwart deutlich wird, der um zukünftige Ereignisse weiß, baut der Roman kaum Distanz zu den geschilderten Ereignissen auf, bewegt sich fast vollständig in der Atmosphäre der späten siebziger und frühen achtziger Jahre. Das macht diese Zeitreise manchmal schwer erträglich. Besonders die Selbstverständlichkeit von Gewalt gegen Frauen, die Häufigkeit sexistischer und rassistischer Anfeindungen und die Nonchalance, mit der die Übergriffe berichtet werden, wirken aus heutiger Sicht verstörend. Die Erzählerin und ihre Freundinnen werden begrapscht, beleidigt, verfolgt und gestalkt.
Als die Erzählerin in einer Erdgeschosswohnung über Wochen immer wieder von masturbierenden Voyeuren belästigt wird, zeigt niemand die Täter an oder stellt sie zur Rede, sondern das Problem wird dadurch gelöst, dass die Erzählerin in ein höheres Stockwerk umzieht und dann eben eine andere Frau die Belästiger vor ihrem Erdgeschossfenster stehen hat. Passagenweise liest sich der Roman wie eine Dokumentation toxischer Männlichkeit und der Normalisierung sexualisierter Gewalt in der späten BRD.
Was Rang und Namen hat
Eine Pause von der Hölle stellt für die Erzählerin vor allem die Welt des Theaters dar. "Ein von Schatten begrenzter Raum" ist ein Theater- und Künstlerroman, in dem alles vorkommt, was in den 1980er Jahren Rang und Namen in der europäischen Theaterwelt hatte: Die Erzählerin arbeitet mit Benno Besson, Thomas Brasch, Matthias Langhoff und Ruth Berghaus, sie trifft Heiner Müller, Luc Bondy, Claus Peymann, George Tabori und viele andere. Ein Who’s who der Theatergeschichte, dessen Protagonisten fast ausnahmslos Männer sind.
In diese Geschichte schreibt sich die Erzählerin, eine türkische Frau mit unsicherem Aufenthaltsstatus, ein. Sie ist ein künstlerisches Multitalent, arbeitet als Regieassistentin und Schauspielerin, zeichnet, fertigt Collagen und verfasst Dramentexte. Sie schlüpft in viele Rollen, trägt viele Namen – Min, Irene Papas, Kikiriki – und bleibt doch immer sie selbst. Im Roman zeugen reproduzierte Zeichnungen, vor allem aber zahlreiche dramatische Miniaturen, in denen sie Dinge, Tiere und Passanten zum Sprechen bringt, von ihrem Talent.
Poetologische Existenz
Am Theater nutzt sie die Rollenzuweisungen, die sie von anderen erfährt, um sich als türkische Putzfrau verkleidet in Stücke und Inszenierungen einzuschmuggeln. In einem Dialog mit einer Krähe, einer wiederkehrenden imaginierten Gesprächspartnerin, konfrontiert die Krähe sie mit ihren Selbstzweifeln: "Du kannst in Deutschland am Theater nur als Putzfrau Karriere machen." Min aber widerspricht der Krähe selbstbewusst: "Mich hat keiner gezwungen zur Putzfrauenrolle. Ich habe mich selbst in Stücke als Putzfrau geschlichen, ich, alleine ich. Es hat mir Spaß gemacht, auch den anderen. Ist Putzfrau keine Rolle? Glaubst du, dass es anders ist, diese Rolle zu spielen als Ophelia?"
Indem sie immer wieder Rufen an verschiedene Theaterbühnen folgt, verwirklicht Min das Programm der freien poetischen Existenz, wie es von Clemens Brentano und anderen Dichtern der Romantik entworfen wurde. Min ist radikal unbehaust, zieht von einer Theaterwohnung in die andere, findet oft nur kurzzeitig Unterkunft in Gästezimmern von Freundinnen und in den Betten wechselnder Geliebter. Sie drückt das aus in dem rhythmisch wiederkehrenden Refrain, der die einzelnen Episoden des Romans voneinander abgrenzt: "Wo wohnen Sie, Madame?" – "Ich wohne in Edith Piafs Lied" / "in einer blinden Sprache" / "in einem Istanbuler Kinderspiel".
Großer Theaterroman
Mit dem Programm eines Lebens für und in der Kunst stellt "Ein von Schatten begrenzter Raum" sich in die Tradition deutscher Bildungs- und Künstlerromane seit Wilhelm Meister und Franz Sternbalds Wanderungen, deren Helden sich von Zufällen leiten lassen und dabei zu sich selbst finden. Zugleich ist "Ein von Schatten begrenzter Raum" Teil eines weiblichen Autofiktionsprojekts, das 1992 mit "Das Leben ist eine Karawanserei" begann und mit "Die Brücke vom Goldenen Horn" (1982) und "Seltsame Sterne starren zur Erde" (2003) fortgesetzt wurde. Min, die Erzählerin, trägt viele Züge der Autorin und teilt wichtige Lebensstationen mit ihr, lässt sich aber, wiederum ähnlich wie die Helden romantischer Künstlerromane, nicht auf Autobiografisches reduzieren.
Verglichen mit den früheren Özdamar-Romanen ist "Ein von Schatten begrenzter Raum" deutlich umfangreicher - vielleicht zu umfangreich. Manches wiederholt sich, besonders dem Paris-Teil hätte man Kürzungen gewünscht, gerade da, wo der Roman zu viel auf einmal will, neben der Vergangenheit, in der er spielt, auch die Gegenwart mit behandeln zu müssen glaubt. Dennoch ist "Ein von Schatten begrenzter Raum" ein großer Theaterroman und ein wichtiges Dokument bundesrepublikanischer Theatergeschichte.
Ein von Schatten begrenzter Raum
von Emine Sevgi Özdamar
Suhrkamp Verlag 2021, 763 Seiten, 28 Euro
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