Von einem, der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte - Die Oper von René Pollesch und Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow an der Volksbühne Berlin
So primitiv wird das Leben nie mehr sein
von Christian Rakow
Berlin, 12. März 2015. Edler ist die Quintessenz eines Stückes von René Pollesch vielleicht nie in Worte gegossen worden: "Ich hafte an dir, wie eine Zecke an einem Tier", singt Lilith Stangenberg mit piepsigster Disneystimme, während das Orchester opulent anschwillt. "Wir haben nie gelebt, doch sind wir miteinander verklebt", mischt Martin Wuttke seinen fragilen Tenor hinzu. Beide schweben dazu wie schwerelos im Bauch eines kolossalen hölzernen Orca-Wals, ein gutes Stück über dem dunkelfunkelnden Volksbühnenboden.
Lowtzow-Orchester mit hintergründigem Humor
Die kühnen Reime stammen allerdings nicht von René Pollesch, sondern von Dirk von Lowtzow, Mastermind der stilprägenden Indie-Rockband Tocotronic. Beide Künstler kennen und schätzen sich seit Jahren, so war es in den Tagen vor der Premiere ausgiebig zu lesen, genauer: seit Pollesch in "Stadt als Beute" 2003 die Toco-Hymne Let there be rock aus der Tonkonserve einspielte und Dirk von Lowtzow frohlockte und seither in gefühlte 130 Pollesch-Premieren lief.
Das muss irgendwie auch live gehen, haben sie sich jetzt gesagt, flugs eine Oper konzipiert und dem Werk – vermutlich in sanfter Reminiszenz an "Stadt als Beute" – einen etwas irreführenden Titel verpasst: "Von einem, der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte" (aber um Gentrifizierung und hohe Mietpreise geht es nun wirklich nicht).
Dirk von Lowtzow hat extra die E-Gitarre aus der Hand gelegt und mit Arrangeur Thomas Meadowcroft eine poppig schwelgerische Orchester-Partitur geschaffen, mit richtiger Ouvertüre und allem Drum und Dran. Sie wildert mal munter im Barock (besonders wenn Bariton Martin Gerke seinen Einsatz kriegt), mal wird ein Hauch Neue Musik hineingekratzt. Und doch ist es im Ganzen durch und durch lässiger Breitwand-Pop. Den verströmt in der Volksbühne das Filmorchester Babelsberg unter Leitung von Oliver Pohl mit Sinn für Kulinarisches und einer Prise hintergründigem Humor.
Es blitzt!
Und siehe! Überall Anleihen, überall Zitate, überall Verse zwischen Ironie und Pathos – und: Es geht auf! Es blitzt! Es ist durch und durch Pollesch. So sehr aus einem Guss war ein Pop-Theaterhybrid wohl zuletzt bei Robert Wilson und den Märchenfeen von Coco Rosie in ihrer Kindheitsfantasie Peter Pan am Berliner Ensemble.
Pollesch hat seinen Teil des Librettos – also die gesprochenen Dialoge – betont konzentriert gehalten. Was für eine unbehagliche Situation legt er zugrunde: Da hatte man zehn Jahre lang so ein vermeintlich klares Bild von einem alten Geliebten im Kopf und plötzlich trifft man ihn wieder und nichts passt mehr, die biographische Erzählung wackelt an allen Enden. Dieses Szenario umspielt Pollesch – selbstredend theoretisch hochgejazzt mit Lacan, Žižek und was die gute Postmoderne-Bibliothek noch hergibt – in endlosen Variationen (was eigentlich selbst opernhaft ist, aber mehr Richtung Wagners Leitmotivik).
Austritt aus der Ursuppe
Die Liebe, im Moment des Aufkeimens wie im Verlust, ist ja ein ozeanisches Gefühl – ein Treiben auf den Wogen des Vegetativen. Man isst nicht mehr, man bebt nur noch, man deliriert. Auf diese Gefühlswelle nimmt uns Pollesch mit, wenn er diskutieren lässt, wie viel Selbstverständnis wir eigentlich aus dem Partner beziehen. Er surft vom konkreten Setting weiter hinaus in die Naturgeschichte und sucht den Punkt, wo sich das Einzelwesen, das einmal Mensch werden wird, aus der Ursuppe herauskristallisiert. Und wenn Martin Wuttke dazu im skurrilen Amphibienkostüm auftritt und mit einer Unbedarftheit, wie nur er sie kennt, einwirft "Ich habe mich überhaupt nicht geändert", dann weiß man: So primitiv, wie es dereinst war, wird das Leben nie mehr sein. Der Austritt aus der Ursuppe war der Eintritt ins Reich der Bewusstseinsvorgänge, Interpretationen, der Erzählungen von uns selbst – Erzählungen, die die verlorene Einheit und Einfachheit nicht zurückholen können. Das Pathos dieses und vieler jüngerer Pollesch-Abende macht aus, dass er an der Membran kratzt, die dieses entfremdete Seelenleben von der bloß materiell wirkenden Umwelt abnabelt.
In Pathos und Ironie, praktisch untrennbar in eins gesetzt, treffen sich die Projekte von Pollesch und Dirk von Lowtzow. Und das ganze Team um sie herum zelebriert die Gratwanderung mit ihnen. Nina von Mechow lebt sich in Glamourroben aus und feiert die Souffleuse Tina Pfurr (wie stets in höchst prominenter Rolle) in einem Kostüm nach Magier-Art. Ein riesiger Kinderchor wird den rotschwarzen Zauberer-Look beizeiten aufnehmen. Bert Neumann hat das Rund dazu mit schwarzem, funkelndem Lametta ausgeschlagen und lässt – denkwürdig – den besagten Orca-Wal hineinfliegen.
Zauberhafter Realitätsverlust
Wie in einer Raumstation schweben im Rumpf des Fisches die Virtuosen des Diskurses, Polleschs erste Garde: Franz Beil, der hinreißend automatenhaft die apodiktischen Pollesch-Thesen auf die Bühnenbretter nagelt. Martin Wuttke, der filigrane Allesdenker, der mit weicher Hysterie das ganze Spektrum zwischen Amöbe und nachhegelianischer Bewusstseinsphilosophie auslotet. Und Lilith Stangenberg! Was für ein entrückter und doch in jeder Sekunde präziser Schwebesound! Wie kann man so scheinbar sorglos und zugleich messerscharf den Pollesch-Diskurs injizieren! Keine Silbe verschenkt; kein Gedanke, der nicht gewogen wäre. Ein Ereignis, nicht erst heute.
Es sind viele Worte, um zu sagen: Das Ding wird ein Hit, man muss es gesehen haben. "Ich leide an einem riesigen Realitätsverlust", diagnostiziert Lilith Stangenberg, als ihr Fantasma schrumpft, als das Wiedersehen mit dem einstigen Geliebten physisch zusetzt, als die Präsenz die Bilder tilgt. Krise und Feier der Einbildungen liefen bei Pollesch immer schon durcheinander. Auch der Kritik werden die Begriffe flüssig, es ist alles verquer, man hat wieder nur die Hälfte verstanden. Aber dieses Theater hatte echten Realitätsverlust – also echten Zauber.
Von einem, der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte
von René Pollesch und Dirk von Lowtzow
Text und Regie: René Pollesch, Songtexte und Komposition: Dirk von Lowtzow, Arrangements und Orchestrierung: Thomas Meadowcroft, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Lothar Baumgarte, Ton: Christopher von Nathusius, William Minke, Video: Jens Crull, Soufflage: Tina Pfurr, Dramaturgie: Anna Heesen.
Mit: Franz Beil, Lilith Stangenberg, Martin Wuttke, Martin Gerke (Bariton), Tina Pfurr (Soufflage), Filmorchester Babelsberg, Oliver Pohl (Dirigent) und dem Rundfunk-Kinderchor Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne-berlin.de
Zuletzt inszenierte René Pollesch an der Volksbühne das Stück House for Sale.
"Solch ein Dreieck muss man erstmal haben, und dann muss man es wohl auch noch zulassen", preist Tobi Müller auf Deutschlandradio Kultur (12.3.2015) die Schauspieler. Pollesch allerdings habe "seinen Stiefel durchgezogen": Abseits von den Schöpfungsgeschichten "wiederholt der Abend tatsächlich die Fragen aus dem Frühwerk von Pollesch. Wer Mitte der Neunzigerjahre im geisteswissenschaftlichen Seminar saß, dämmert langsam weg."
"Als Theaterstück mit ausgedehnter Musikbegleitung oder Konzert mit längeren Sprechpassagen funktioniert" dieses Stück "ganz wunderbar", findet Anja Rützel auf Spiegel Online (13.3.2015). Als Zuschauerin könne man sich aussuchen, "ob man die Verse der Lieder als lyrischen Haupttext lesen möchte, zu dem die gesprochenen Pollesch-Passagen als Erläuterungen und Materialien funktionieren", oder ob man umgekehrt "die Lieder als unmittelbar verständliche Zusammenfassungen für Polleschs Diskursslalom sehen" möchte.
Vor allem in der ersten Hälfte habe der Abend "einen überdrehten Witz", so Mounia Meibog in der Süddeutschen Zeitung (14.3.2015). "Großartig wie Lilith Stangenberg mit überirdischer Aura Monty-Python-Sketche nachspielt", großartig auch Martin Wuttke, der zeige, "wie er sich Gedanken flatternd aus dem Körper schüttelt". Die Möglichkeiten des Orchesters würden allerdings nicht annähernd ausgereizt. "Für die große Oper reicht es nicht. Für einen netten Abend schon."
Das Resultat tauge "zur Werbemaßnahme für die hohe Kunst der Nicht-Zusammenarbeit", findet Christine Wahl im Tagesspiegel (14.3.2015). Der Pollesch- Sound spitze sich "irgendwie neu zu", wenn er derart massiv aus dem Orchestergraben unterstützt werde. Seine Sätze "bekommen etwas Monumentales, ohne in Kitsch zu driften. Und eingedenk der Tatsache, dass es im Theater durchaus schon Sätze zu Denkmalstatus gebracht haben, die es ungleich weniger verdienen als Polleschs luzide Diskurse über die Spezies, steht ihnen das Monumentale allemal gut."
"Dass dies ein Publikumserfolg wird, ist keine Frage. Aber lässt sich sagen, warum eigentlich?", fragt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (14.3.2015). Pollesch schreibe "Verwechslungskomödien für das selbstironisch trainierte Gegenwartssubjekt", diesmal "mit dem perfekten Pop-Opern-Sound". Lowtzows Orchesterwerk bediene "sich polleschmäßig bei allen herumliegenden Traditionen". Außerdem könne sich niemand sonst "so herrlich wundern wie Lilith Stangenberg und Martin Wuttke".
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.3.2015) plaudert Klaus Ungerer "ich"-selig: "Es war ein recht netter Abend zwischen Phantasma und Psychose, der Subjektfragen auch im Publikum ganz neu stellte, als ein begeisterungsfähiger junger Mensch, der sich als Konrad Irgendwas vorstellte, euphorisch meine Lieblingsfrau in Reihe 9 begrüßte, worauf sie sich den ganzen Abend über zu fragen hatte, für wen sie jetzt – und warum – gehalten worden sei." Das Stück sei im Wesentlichen "flott abgepauschte Lacansche Subjekttheorie, wohl noch um ein wenig Zizek (der mit den Häkchen auf den Zetts) ergänzt, welche da den drei allweil beguckenswerten Schauspielern in die Münder gelegt worden war".
Über einen "an schönen Anblicken nicht armen“ Abend schreibt Matthias Heine in der Welt (14.3.2015). "Sowohl Pollesch als auch von Lowtzow haben in ihren bisherigen Arbeiten die Beschädigungen der Liebe und die Verblendung der Individuen durch den Kapitalismus untersucht. Das setzen sie hier fort." Der größte Gewinn liege im Musikalischen und in den Spezialeffekten (der Wal!). "Inhaltlich und schauspielerisch hat es bessere Pollesch-Aufführungen gegeben."
In der tageszeitung (14.3.2015) lobt Jenny Zylka ausführlich den schwebenden, begehbaren Wal, die Musik, die Schauspieler. Aber: "Irgendwo im Stück finden sich, wenn man es drauf anlegt, die Pollesch-typischen Diskurse, finden sich Zitate von PhilosophInnen und GendertheoretikerInnen. Die monolithischen Redeblöcke, die sowohl als intellektuelles Geschwafel als auch als Parodie darauf taugen, sind dennoch ermüdend. Gut, wenn der Puppenkistenwal einen dann aufzuheitern vermag."
"Oper" sei das nicht, meint Michael Laages auf Deutschlandfunk (14.3.2015), und so ernst sei das "naturgemäß nicht gemeint" gewesen "zwischen den alten Bekannten, die einfach nur mal die verschiedenen Talente zusammenschmeißen wollten, ohne notwendigerweise von den gleichen Dingen zu erzählen". Pollesch tue, was er gut könne – "und offenkundig auch nur noch bedingt variieren mag: Er lässt Menschen gedanklich vor sich hin mäandern, diesmal über den Verlust von Liebe und Realität". Generell aber werde der Text "immer flacher", beginne "bald in Schleifen zu kreisen; gefühlt mindestens doppelt so lang wie in Wirklichkeit. Und auch von Lowtzows Orchester-Musik hat mindestens drei Schlüsse. So sind Autor und Komponist brav bei ihren Leisten geblieben; irgendein ein künstlerischer Mehrwert der Begegnung aber war nicht auszumachen."
"Es ist nicht nur ein großartiger Pollesch, es ist auch das erste Musiktheater, das Dirk von Lowtzow geschrieben hat. (...) Man wünscht sich mehr von diesen Liedern, die zwischen Brecht und Hollywoodfilmmusik wechseln", so lobpreist Caspar Shaller den Abend in der Zeit (21.3.2015). "In einer Zeit, in der diffuses Unbehagen am Neoliberalismus gründliches Nachdenken und Theoriefestigkeit ersetzt hat, ist es erfrischend, sich den wirklich großen Fragen zu widmen, nach der Liebe, dem Universum und allem."
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@redakion: ist sonst nicht meine art, den spaßverdeber zu spielen, aber DIESER post passiert die interne zensur und bei jedem anderen piefigen schnickschnack werden von ihnen sonst die (...) von den kollegen wb&co ausgepackt??! oder kommt der post etwa direkt aus der redaktion, weil der rezensent böse war?
Warum wird so eine dummes Geschreibe nicht zensiert. Ich fordere euch auf, diesen Post zu löschen. Der ist persönlich beleidigend.
der Kommentar Nr. 1 desavouiert sich selbst. Außerdem versuchen wir in der Redaktion besonders tapfer zu sein, wenn sich Kommentare gegen einzelne Redaktionsmitglieder und unsere Arbeit aussprechen.
MfG, Georg Kasch / Redaktion
Es gab mal Zeiten, in denen man Zensur bekämpft hat.
Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/04/02/im-wal-des-bewusstseins/
kritiker*in ist begeistert. und versteckt das. und da fällt dann doch irgendwann das wort zauber ein (möchte das nachtkritik nicht auf die berühmte nachtkritik-liste setzen?!).
es ist oft traurig, dass gute theatermacher wie pollesch nur hochgelobt werden oder attackiert, nur. aber ja, er ist ja pollesch ... aber da steht ja pollesch vor mir, Lilith auch, aber. die flüssige soße polleschs kann mit solchen kritiken nur noch inkonsistenter werden. er braucht offensichtlich hilfe: bitte RENE, sag was du brauchst. wir mögen dich, aber leicht modifizierte (überzeugt präsentierte) supermarkt-produkte finden wir auch in den neuköllner arkaden. löcher sind was tolles, aber diese "inkonsistenz-show" ist nicht (mehr) glaubwürdig. die wut ist nicht mehr glaubwürdig. dieses lachen auch nicht mehr. lass uns mal alle treffen und reden, wie wir dir helfen können
Der Dialog wird nicht nur ironisch gebrochen, sondern auch mehrfach unterbrochen: von der opulenten Musik des Filmorchesters Babelsberg, die mal Wagner parodiert, mal Hollywood-Filmmusik imitiert, und vom Rundfunk-Kinderchor Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium, die Kill your Darlings!-artig hinter Lilith Stangenberg her im Kreis laufen.
Dafür, dass sich auch dieser Abend nicht nur selbstreferentiell im Kreis dreht, sorgt der Orca-Wal, der nach einer knappen halben Stunde von der Bühnendecke heruntergelassen wird. Dieser Blickfang dient den drei Schauspielern als Zufluchtsort, Garderobe und zusätzliche Dialog-Kampfstätte, und wird mir länger in Erinnerung bleiben als die Diskurs-Schlachten.
Mehr dazu hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/24881-polleschvon-lowtzow-an-der-volksbuehne-drei-schauspieler-ein-orca-wal-und-viele-diskurs-schnipsel.html