9. September 2008. Wenn seine Träne quillt, befindet sich der erwachsene Kulturbürger normalerweise im Kino. Indes – "normalerweise" war mal. Inzwischen darf auch im Theatersessel in aller Offenheit geschluchzt werden. Die Tränen des Ulrich Matthes in Jürgen Goschs Onkel Wanja am Deutschen Theater Berlin haben – auch bei den nachtkritik-KommentatorInnen – erst Fragen aufgeworfen, dann aber den Damm gebrochen. Am echten Gefühl führt bei der Wirklichkeitserkundung letztlich kein Weg vorbei.
Zu diesem Thema, also der Wiederkehr des Authentischen auf der Bühne hat sich die Bochumer Germanistin und Kritikerin Sarah Heppekausen schon im Mai im festivaleigenen Magazin des Berliner Theatertreffens Gedanken gemacht. Dirk Pilz in der Berliner Zeitung legte vor einigen Tagen nach.

Das große Fremdganze

"Heul doch!" betitelte Sarah Heppekausen ihren Beitrag in der Festivalzeitung des Theatertreffens (2.5.). In den Kritiken zur Auswahl des diesjährigen Theatertreffens, schrieb sie, sei plötzlich von "Wahrhaftigkeit, Pathos, Mitfühlstücken, von der Rückkehr des Virtuosentums und des Schauspielertheaters" die Rede. "Hier kommen klassische Begriffe des bürgerlichen Theaters wieder ans Tageslicht, die wohl nie ganz von der Bühne verschwunden, aber doch tief in der hintersten Ecke des Fundus vergraben waren. Begriffe, die im 18. Jahrhundert aufkeimten, als der Schauspieler endlich als vollwertiger Künstler akzeptiert wurde." In der Tat sei auf der Bühne – auch wenn es heutzutage natürlich nicht mehr darum ginge, Mitleid zu errege – "das Pathos doch kein Tabu mehr". "Im Gegenteil: Nach der Dekonstruktion von Figur und Geschichte, nach der konsequenten Ablehnung bürgerlicher Theaterwerte wie Einfühlung und Wahrhaftigkeit, ist jetzt wieder ein gefühlsechtes Erfahrungstheater möglich." Zum Ausdruck komme der Wunsch nach dem Authentischen dabei nicht nur in der Neigung zu psychologischen Menschenstudien, sondern auch in der Hinwendung zu dokumentarischen Formen wie von Rimini Protokoll.

Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (29.8.) äußert sich zum gleichen Thema und erläutert dabei die ästhetische Fassbarkeit des so genannt Authentischen: "Die Matthes-Wanja-Tränen haben in dieser Inszenierung von Jürgen Gosch die feine, aber entscheidende Grenze zwischen Figur und Darsteller, Fiktion und Wirklichkeit einesteils erst kenntlich gemacht, anderenteils aber absichtlich verwischt. (...) Matthes hat uns Zuschauern einen Schock des Echten verpasst, indem er der Figur das Ureigenste seines Selbst zu opfern schien. Das machte sie glaubwürdig, wahrhaftig. Und dies, die Glaubwürdigkeit, wird im Gegenwartstheater derzeit als höchstes Gut gehandelt." Im folgenden nennt und charakterisiert Pilz weitere Glaubwürdigkeits-Virtuosen, sieht in der Arbeit mit dokumentarischen oder Wirklichkeits-Elementen (er nennt hier auch Volker Lösch und Signa) ebenfalls einen Beleg für die "Apotheose des Authentischen" und kommt zu dem Schluss, dass die Sehnsucht nach Glaubwürdigkeit die Folge einer Krisenerfahrung des bürgerlichen Publikums sei, des "berechtigten Gefühls, dass einer ökonomisierten Gesellschaft die gemeinschaftsbildende Substanz abhanden kommt." Im "Kult um die Glaubwürdigkeit" hoffe das Theater, "dem großen Fremdganzen einen Fetzen unverbrüchlicher Authentizität zu entreißen".

 

 

Kommentare  
Theater & Tränen: Gefühlsechte Nazis
wir könnten an dieser stelle ja auch mal über die gefühlsechtheit und authentizität von matthes' goebbels-darstellung in "der untergang" sprechen. oder bruno ganz' flatterndes händchen hinterm rücken, wenn er versucht hitler nachzuahmen. dann kriegt diese debatte mal eine etwas andere farbe.
Theater & Tränen: Einfühlung in tyrannische Seelen?
Ja, stimmt, darüber könnte man sprechen und ist auch schon gesprochen worden. Aber was meinen Sie denn nun?
Muss die um Authentizität bemühte Darstellungsweise auf Figuren eingeschränkt werden, die moralisch 'einwandfrei' sind (und welche sind das schon)? Was ist mit literarischen Figuren? Was ist mit Richard III. - Einfühlung in tyrannische Seelen in jedem Fall verboten? Mitfühlen mit Franz Moor undenkbar? Darf Heath Ledger für den Joker keinen Oscar bekommen? Klar, da muss man differenzieren. Das ist ja keineswegs alles ein und dasselbe. Aber wo sind die Grenzen, Schwellen? Schreibt ein bestimmter Stoff, eine bestimmte Figur aus moralischen Gründen eine bestimmte Schauspielweise vor bzw. verbietet eine solche kategorisch?
Theater & Tränen: Matthes ist nicht der Erste!
Mein Gott - als wenn Ulrich Matthes der erste Schauspieler wäre, der auf der Bühne eine Träne vergossen hat! Ulrich Mühe in "Hamlet", Gert Voss in "Lear", Tränen habe ich auch schon gesehen bei Thomas Thieme, Kay Bartholomäus Schulze, Joachim Meyerhoff, Julia Jentsch, Wiebke Puls etc. etc. etc.
Theater & Tränen: Tränen als Echtheitsnachweis
Liebes Talent, es behauptet doch auch niemand, dass Ulrich Matthes der erste und einzige gewesen sei. Es geht in den beiden Texten doch vielmehr um das Phänomen, dass solche Tränen dieser Tage (wieder) als Echtheitsnachweis genommen und dieser dann als eines, wenn nicht DAS Hauptkriterium für die Qualität eines Theaterabends herangezogen wird - die "Apotheose des Authentischen".
Theater & Tränen: Verständnisproblem
ich verstehe einfach nicht, welchen darstellerischen wert es hat, wenn ein schauspieler privat (!) auf der bühne weint. was teile ich denn mit uli matthes, dass mich das berühren sollte? ich habe von grund auf ein verständnisproblem in dieser debatte. vor allem das "neue" oder "interessante" an diesen tränen zu entdecken, will mir einfach nicht gelingen. das ist gefühliges schauspiel aus dem 19. jahrhundert und nach meinem dafürhalten abgeschmackt. was z.b. ein matthes auf der bühne in den letzten jahren spielt, hat doch fast nichts mehr mit theater zu tun. das ist film! und genau dort werden die leute doch abgeholt. und da sind die tränen eines uli matthes genauso viel wert wie die ejakulation eines porno-darstellers. der körper überholt den geist. hier wird nur ein voyeuristischer effekt des zuschauer bedient, denn in eben dieser privatheit wähnt sich doch der zuschauer bei den matthes-tränen! so gesehen hat das alles auch mehr was mit sport, also einer leistung zu tun.

und zu "Nachfrager": dass es sich hier nicht um das WAS, also die dramatische figur, sondern um das WIE dreht, muss nicht erklärt werden, oder? ich kann auf diesen einwurf nur mit redundanzen wie "alles ist darstellbar, es ist nur die frage wie" antworten.
und warum ich "der untergang" als beispiel gebracht habe: dieser film ist doch das paradebeispiel dafür, was matthes macht. in einer fremdscham hervorrufenden selbstforschung scheint der schauspieler eine geste entwickelt zu haben, von der er meint, dass sie wanjas oder goebbels oder hitlers (b. ganz) geste sei. dabei kommt sie nur aus seinem eigenen repertoire und, das ist das für mich peinliche, wird als solche nicht enttarnt. das flatternde händchen von bruno ganz ist ja keine augestellte schauspielergeste, sondern soll sowas wie "den echten hitler" zeigen. und das finde ich, neben der enormen geschichtsklitterei, die in diesem film vorgenommen wird, einfach lächerlich, unglaubwürdig und ist für mich genau das gegenteil von "echtheit" oder "wirklichkeit".
Theater & Tränen: Dringend ein Hauptseminar für Herrn Pilz!
das ist aber auch ganz schön wagemutig von herrn pilz, da die dinge so in ein töpflein zu werfen. eine authentische spielweise und theaterformen die mit verschiedenen weisen von realität umgehen sind ja doch 2 paar schuhe. das bürgerliche feel-good- alles-wie-daheim-theater, in dem matthes wie in echt! auf der bühne herumtheatert, hat ja doch seinen klaren (ästhetischen) bezugspunkt im theater der aufklärung, nicht volker lösch. komisch, dass kritiker nicht zu bemerken scheinen, dass ein chor keinen direkten wirklichkeitsanspruch hat. auch wenn da laien sprechen, tun sie es IM stück synchron- neben der fußball-em lange nicht mehr in der wirklichkeit gesehen. und signa ist meiner meinung nach einer spektakel-linie zuzuordnen. und die grauenvolle johanna wokalek mit martin wuttke in einem atemzug als spieler zu nennen, die ihre eigene wirklichkeit mitbringen, ist schlichtweg schmerzhaft. gute schauspieler sind nicht gleich reale schauspieler. herr pilz ist dringend ein hauptseminar zum thema postdramatisches theater zu empfehlen!
Theater & Tränen: Matthes bei Lösch?
HAHA! uli matthes bei lösch würde ich gerne mal sehen. culture clash!
Theater & Tränen: Postdramatikschreihälse
...und den kleinschreibenden Postdramatikschreihälsen "stdlmr", "nicht matthes" und Konsorten, mit ihrem eierlosen, angewandten Theaterwissenschafts-Schwampf ist dringend ein Forumswechsel anzuraten. Soweit ich weiß, geht es in diesem Forum um Theater. Nicht um bonsaiintelektuelles Penisfechten vor dem Notebook, den Caffè latte zur Linken. Nabend Allerseits!
Theater & Tränen: Verschiedene Glaubwürdigkeiten
Hallo "nicht matthes" und "stdlmr",
habt ihr den Text von Herrn Pilz eigentlich nur überflogen oder was? Das ist wagemutig, ja klar, in der Tat. Er sagt aber ja gar nicht, dass das alles dieselbe Ästhetik wäre (Gosch, Lösch, Rimini), im Gegenteil. Er sagt nur, dass sie - alle auf verschiedene Weise und "verschiedene Glaubwürdigkeiten" ins Spiel bringend - doch ein und dieselbe Zuschauersehnsucht bedienen, die "wachsenden Sucht und Suche nach dem Echten, Wahren, Unverbrüchlichen".
Und auch Frau Heppekausen sieht es ja ähnlich, wenn sie auch - in Bezug auf die dokumentarischen Projekte - anders akzentuiert. Sie sagt:" 'Echter' geht es wohl kaum, wobei die Authentizität hier nicht im Affektiven, sondern im Stofflichen liegt."
Ist da nicht doch ziemlich viel dran, am Authentizitätskult, der die verschiedensten Theaterästhetiken erfasst?
Theater & Tränen: Mit der Zwiebel über die Lider fahren
Ich schreib jetzt mal so wie Herr Faßbender das möchte. Gibt's hier auch Altdeutsch als Schriftart...?

Ich habe meine Sicht der Dinge schon dargelegt: Matthes' Tränen sind so echt wie das Ejakulat eines Pornodarstellers. Es sind Sport-Tränen. Da will mir einfach nicht einleuchten, was daran interessant ist. Würde Herr Matthes auf der Bühne zufällig von einer Biene gestochen, dann könnten wir hier weiterreden. Aber so denke ich nur an einen angestrengten Schauspieler, der seinen Körper so hart dirigieren und disziplinieren kann, dass es so aussieht als würde seine Empathie ihn durch Tränen übermannen. Und genau das ist hier doch die Lüge, der offensichtlich ein großer Teil eines scheinbar ziemlich naiven Theaterdeutschlands aufsitzt. Dann doch bitte lieber einmal mit der Zwiebel über die Lider fahren. Dann hätten wir das geklärt.
Theater & Tränen: Adorno sagt
Zu dieser rührenden Debatte über Tränen ein Zitat aus dem Jargon der Eigentlichkeit von Adorno

"Die expressionistische Formel„Jeder Mensch ist auserwählt“, die in einem Drama des von den Nationalsozialisten ermordeten Paul Kornfeld steht, taugt nach Abzug des falschen Dostojewsky zur ideologischen Selbstbefriedigung eines von der gesellschaftlichen Entwicklung bedrohten und erniedrigten Kleinbürgertums. Daraus, daß es mit jener Entwicklung real so wenig wie geistig mitkam, leitet es seine Begnadung her, die von Ursprünglichkeit. Nietzsche lebte nicht lange genug, um vorm Jargon der Eigentlichkeit sich zu ekeln: er ist im zwanzigsten Jahrhundert das deutsche Ressentiment-Phänomen par excellence. Das „es riecht nicht gut“ Nietzsches wäre erst angesichts der seltenen Badefeste des heilen Lebens ganz zu dem Seinen gekommen: „Der Sonntag beginnt eigentlich schon am Sonnabend-Abend. Wenn der Handwerker seine Werkstatt aufräumt, wenn die Hausfrau das ganze Haus in einen sauber glänzenden Zustand versetzt hat und sogar noch vor dem Haus die Straße gefegt und von dem in der Woche angesammelten Schmutz befreit wird, wenn zum Schluß auch noch die Kinder gebadet werden, auch die Erwachsenen in einer gründlichen Reinigung den Staub der Woche von sich abspülen und die neue Kleidung schon bereit liegt - wenn das alles in einer ländlichen Ausführlichkeit und Bedächtigkeit besorgt wird, dann zieht eine tiefbeglückende Stimmung des Ausruhns bei den Menschen ein.“ Unablässig blähen sich Ausdrücke und Situationen eines meist nicht mehr existenten Alltags auf, als wären sie ermächtigt und verbürgt von einem Absoluten, das Ehrfurcht verschweigt. Während die Gewitzigten sich scheuen, auf Offenbarung sich zu berufen, veranstalten sie autoritätssüchtig die Himmelfahrt des Wortes über den Bereich des Tatsächlichen, Bedingten und Anfechtbaren hinaus, indem sie es, auch im Druck, aussprechen, als wäre der Segen von oben in ihm selber unmittelbar mitkomponiert."
Theater & Tränen: Und das bedeutet?
"Die Gewitzigten ... veranstalten ... autoritätssüchtig die Himmelfahrt des Wortes über den Bereich des Tatsächlichen, Bedingten und Anfechtbaren hinaus, indem sie es ... aussprechen, als wäre der Segen von oben in ihm selber unmittelbar mitkomponiert." Das ist der Kern des Zitates, mit dem Sie, verehrter Benjamin die Debatte zu kommentieren trachten. Aber was soll es denn bitte schön genau bedeuten?
Theater & Tränen: blöder Spruch
"Es lehrte ein Lehrer aus Suhr:/Mensch, halt' dich an Epikur!/Lies statt Adorno/mal einen Porno/und genieße die pralle Natur!"
(Friedrich Schleiermacher)
Theater & Tränen: Offene Frage im Auge des Betrachters
Gutes Stichwort. Aber worum geht es eigentlich im Porno? Wie oben bereits erwähnt, sicher nicht (mehr) um Authentizität:

"Wer sich ein wenig in der Geschichte der erotischen Fotografie auskennt, weiß, daß am Anfang die Modelle einen romantischen, beinahe träumerischen Gesichtsausdruck hatten, als hätte sie das Objektiv in der Intimität ihres Boudoirs überrascht, aber nicht gesehen. [...] Die Pornostars blicken heute während der intimsten Liebkosungen ins Objektiv, wobei sie zeigen, daß sie sich mehr für den Zuschauer als für ihre Partner interessieren.
So verwirklicht sich voll und ganz das Prinzip, das Benjamin schon 1936 ausgesprochen hatte, als er einen Aufsatz über Fuchs schrieb: 'Wenn hier etwas geschlechtlich erregend wirkt, so ist es viel mehr die Vorstellung von der Ausstellung des nackten Körpers vor der Kamera als der Anblick der Nacktheit selbst.' Ein Jahr zuvor hatte Benjamin, um die Verwandlung des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu kennzeichnen, den Begriff des 'Ausstellungswerts' (im Original Deutsch) geprägt. Nichts könnte besser als dieser Begriff die neue Lebensbedingung der Gegenstände und sogar des menschlichen Körpers im Zeitalter des vollendeten Kapitalismus kennzeichen."
(Giorgio Agamben, "Profanierungen")

Was bleibt? Vielleicht die Seh(n)sucht nach Authentizität, Beispiel: Patrice Chereaus "Intimacy".
Und ob Thomas Thieme in "Molière" nun tatsächlich onaniert oder Ulrich Matthes in "Onkel Wanja" tatsächlich geweint hat, das liegt als offene Frage im Auge des Betrachters.
Theater & Tränen: Antrainiertes statt authentisches Material
Uli Matthes ist ja ein Mensch, der sehr viel authentisches Material zur Verfügung stellen könnte - das authetische Material steht ihm ja ins Gesicht geschrieben - aber das wird ganz und gar nicht zur Verfügung gestellt, thematisiert oder bearbeitet - stattdessen gibt es antrainierte Tränen, die das eigentlich Authentische dieses Schauspielerlebens dann überkleistern.
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