Geschlechter(un)gerechtigkeit am Broadway und in der Off-Szene - Theaterbrief aus New York
Noch hält die gläserne Decke
von Verena Harzer
2. August 2019. Die Originaltonaufnahme knistert und rauscht. Es ist eine Stimme, die an diesem Abend im New Yorker Helen Hayes Theater fast jeder Zuschauer erkennen dürfte, der sich den Überraschungserfolg "What the Constitution Means to Me" von Autorin und Schauspielerin Heidi Schreck am Broadway anschaut. Die Stimme vom Band gehört der 86jährigen Ruth Bader Ginsburg. Sie ist eine Ikone des liberalen Amerikas und der Frauenbewegung und ist seit ewigen Zeiten Richterin am Supreme Court, dem obersten Gericht der USA. Neun Richter richten am Supreme Court. Drei davon sind Frauen.
Wann endlich genug Frauen im Supreme Court sitzen würden, wird sie in der Tonaufnahme gefragt. "Wenn es neun sind", antwortet sie. Also alle. Und erntet dafür in Abwesenheit Jubelrufe und spontanen Applaus im Theatersaal. Es ist ein Moment, der viele Zuschauer rührt, einige wischen sich Tränen aus den Augen. Das ist natürlich eine radikale Forderung. Viele Theatermacherinnen in New York wären schon froh, wenn die Hälfte oder wenigstens 40 Prozent der wichtigsten Posten mit Frauen besetzt wären. Aber: Es bewegt sich etwas. Allerdings nicht überall im gleichen Tempo.
Die Hashtagbewegungen #MeToo, #YesAllWomen oder #NotOkay etwa machen seit 2014 in den sozialen Medien auf sexuelle Übergriffe und Geschlechterfragen aufmerksam und haben auch die New Yorker Theaterszene erreicht. Einfach wegschauen und ignorieren geht nicht mehr: Als 2017 bekannt wurde, dass vier Musicals mit problematischen Frauenbildern für die Saison 2018/2019 am Broadway neu produziert werden sollten, ging ein Aufschrei durch die Theaterszene. Angefangen hat es mit einem Tweet.
With respect to the creatives who will be employed by these projects, I will say I'm concerned about a Broadway season that includes PRETTY WOMAN, CAROUSEL and MY FAIR LADY all at the same time. In 2017 is the correct message really "women are there to be rescued"?
— Georgia Stitt (@georgiastitt) November 22, 2017
Die Komponistin, Lyrikerin und Musikerin Georgia Stitt schrieb im November 2017, sie sei besorgt über eine Broadway Saison, die Produktionen wie "My Fair Lady", "Carousel", "Kiss Me, Kate" und "Pretty Woman" ansetzen würde. "Soll die Botschaft im Jahr 2017 wirklich sein, dass Frauen nur dazu da sind, gerettet zu werden?" Der Tweet wurde fast 200 Mal weitergeleitet und über 700 Mal geliket. Das sei "eine Riesendebatte", sagte Carole Rothman, künstlerische Leiterin der Theatercompany "Second Stage Theater" der New York Times. Keine Frage, die Musik in diesen vier Stücken sei wunderschön. Aber sie stellt die Frage, ob das allein es wert sei, heute noch "20 Millionen Dollar in so eine Produktion zu stecken".
Selbstermächtigung traditioneller Frauenfiguren
Tatsächlich haben alle vier Produktionen im Zuge der Debatte die Frauenrollen aufgewertet. In "My Fair Lady" etwa will Professor Higgins das Blumenmädchen Eliza nach seinen Vorstellungen von einer idealen Frau formen. In der aktuellen Inszenierung ist es Eliza, die Higgins quasi benutzt, um sich selbst zu entwickeln. Es gehe in seiner Inszenierung jetzt "viel mehr um Eliza und was Eliza durchmacht", sagt Regisseur Bartlett Sher. Auch der Autor des Musical-Remakes von "Pretty Woman", J. F. Lawton, beteuerte im Vorfeld in der Zeitung Chicago Tribune, dass er die Geschichte zu einer "Allegorie auf die Selbstermächtigung von Frauen" machen würde. Es ist nicht länger der Mann, der Vivian aus ihrem Dasein als Prostituierte befreit. Es ist Vivian, die sich selbst rettet. Und als ein Arbeitskollege ihres reichen Lovers Edward sie versucht zu vergewaltigen, muss ihr jetzt auch nicht mehr erst Edward zu Hilfe eilen. Wie in der Filmvorlage geschehen. Vivian befreit sich selbst aus der Notlage. Stacy Wolf, Theaterprofessorin an der Columbia University, sagt in der New York Times: "Wir befinden uns in einem Moment erhöhter Wachsamkeit im besten Sinne."
Eine Wachsamkeit, die am Broadway allerdings fast ausschließlich auf der Bühne zu beobachten ist. Die Welt hinter der Bühne ist alles andere als eine Allegorie auf die Ermächtigung von Frauen. Hier haben weiterhin hauptsächlich Männer das Sagen. Rachel Chavkin hat das klar benannt, als sie sich Anfang Juni ihren (sehr verdienten) Tony-Award für die beste Musical-Regie abholte: Sie würde sich wünschen, dass sie nicht die einzige Frau wäre, die diese Saison ein Musical inszeniert hätte. Aber genau so würden Machtstrukturen funktionieren. "Sie geben einem das Gefühl, allein zu sein." Die Zahlen geben ihr leider Recht. Von den 37 Produktionen, die in der Saison 18/19 am Broadway Premiere feierten, hatten sieben überhaupt keine Frauen in den kreativen Teams. Von den Regisseuren und Autoren waren jeweils nur 13 Prozent weiblich, von den Choreografen waren es 24 Prozent. Das gilt auch für die vier diskutierten Stücke: Sie sind von Männern geschrieben, Männer haben Regie geführt, Männer haben choreografiert.
Männliche Seilschaften am Broadway
Die Regisseurin Leigh Silverman, eine der wenigen Regisseurinnen, die regelmäßig am Broadway inszenieren, bringt die Problematik auf den Punkt: "Weiße männliche Produzenten engagieren mit großer Wahrscheinlichkeit weiße männliche Regisseure, die mit großer Wahrscheinlichkeit ein weißes männliches Kreativteam auswählen." Silverman selbst schrieb 2018 Broadway-Geschichte. Für ihre Inszenierung des Stückes "The Lifespan of a Fact" wählte sie für ihr kreatives Team nur Frauen aus. Sehr bewusst. Sie wollte dem von Männern geschriebenen Stück eine weibliche Perspektive hinzufügen. Dass sie damit Geschichte schreiben würde, damit hat sie nicht gerechnet. Kein Wunder. Wer kommt schon auf die Idee, dass es vor 2018 noch nie ein rein weibliches Kreativteam am Broadway gegeben hat?
Zum Glück sieht es im New Yorker Off- und Off-Off-Broadway-Bereich anders aus. Also in allen New Yorker Theatern, die weniger als 500 bzw. 100 Plätze haben. Hier haben sich die Zahlen in den vergangenen Jahren verändert: 2014 veröffentlichte die League of Professional Theatre Women zum ersten Mal ihren "Women Count Report", der die Anzahl an weiblichen Theatermachern im Off- und Off-Off-Bereich offen legt. Der neueste Report wurde im November 2018 veröffentlicht. Er zeigt, dass sich der Anteil an von Frauen geschriebenen und aufgeführten Stücken seit 2014 von 28 auf 42 Prozent erhöht hat. Der Anteil von Regisseurinnen stieg von 37 auf 47 Prozent.
Netzwerk für Geschlechtergerechtigkeit
An diesem Erfolg haben die New Yorker Lobbygruppen für weibliche Theatermacher sicherlich einen großen Anteil. Einige gibt es schon lange. So zum Beispiel die 1980 gegründete League of Professional Theatre Women oder das 1978 gegründete Womens Project Theater. Andere wie The Lillys, Maestra oder The Kilroys haben sich erst in den vergangenen zehn Jahren gegründet. Sie alle haben unterschiedliche Konzepte entwickelt, um Frauen im Theater voran zu bringen. Und im Laufe der Zeit haben sie sich immer besser untereinander vernetzt. Einmal im Jahr werden zum Beispiel die (nach der Autorin Lillian Hellman benannten) Lilly Awards an herausragende weibliche Theatermacherinnen verliehen. Eine Liste mit sorgfältig kuratierten, zeitgenössischen Theaterstücken von Frauen, die selten oder nie gespielt wurden, wird jährlich im Internet veröffentlicht. Es gibt mittlerweile eine Internet-Datenbank für weibliche Komponistinnen. Die statistischen Erhebungen, die den Anteil von Frauen im US-Theater sichtbar machen, gehen auf Initiativen dieser Lobbygruppen zurück. Dazu kommen zahlreiche Netzwerkveranstaltungen, Förderpreise, Stipendien und Kinderbetreuungsangebote.
Verena Harzer studierte in Berlin und Paris Theater-, Literatur- und Kunstwissenschaften. Als Dramaturgin war sie unter anderem für die Oper Dortmund, German Theater Abroad, posttheater, spreeagenten Berlin, die Internationalen Gluck Opern-Festspiele und writtenotwritten tätig. 2014 leitete sie den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens. Seit 2017 lebt sie in New York und arbeitet dort als Kulturjournalistin.
Mehr über New Yorks Theaterszene: Im Juni berichtete Verena Harzer über einen Boom des Sprechtheaters am Broadway, das sich selbst erneuert – und das Musical gleich mit.
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Es ist öde, langweilig und dumm gegen dumme Broadway Musicals anzukämpfen. Es ist ein Elend sich anzuhören, wie irgendwelche Männer versuchen aus Pretty Woman etwas feministisches herauszupressen. Es interessiert mich nicht. Wer sich diese Welt zum Schlachtfeld ausgesucht hat, die Welt der seichten Unterhaltung, ist selbst schuld.
Aber das Motto heißt wohl: Erst wenn die letzte Produktion am Broadway auch feministisch und politisch korrekt ist, ist die Welt wieder in Ordnung. Die westliche Kulturrevolution der Frauen ist da in ihren Auffassungen genauso gründlich, wie die chinesische. Ob sie ebenso erfolgreich ist, wir werden es erleben. Denn eines ist klar, es wird für diese seichtesten Produktionen immer ein Publikum geben und es ist wahrscheinlich das selbe Publikum, dass auch Trump wählt. Also muss man ganze Teile der Bevölkerung umerziehen. Das ist schon klar. Nur wie?! In dem man ihnen ihr Spielzeug wegnimmt?! Oder in dem man versucht am Off-Broadway mit besseren Produktionen und Quoten zu überzeugen. Früher war die Sache klar, man drängte erst gar nicht in den Mainstream, man stritt und kämpfte aus dem Off heraus und erklärte die Peripherie zum Zentrum. Aber da ja die Welt demnächst eh nur noch aus Frauen bestehen wird, die sich natürlich alle einig und immer solidarisch sind, und einem männlichen Anhängsel, warum nicht gleich die ganze Bäckerei besetzen und ihre Führungsebene komplett mit Frauen besetzen und die Männer ab in die Backstube zum Brötchen backen. Das wird ganz toll, wenn am Broadway nur noch feministische Musicals laufen. Und Trump Wählerinnen gibt es dann nicht mehr.
@ Clarissa, es kommt darauf an, welche Phase der feministischen Genese man sich aussucht. Zum Beispiel die 1970er Jahre: Da erschienen Figuren wie Valerie Solanas ("Manifest zur Vernichtung der Männer", 1969) oder Shulamith Firestone u.a., und das Hackebeil tauchte als Sinnbild auf.
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Ich teile die Sicht von Martin Baucks in seinem obigen Text, ganz und gar. Es ist ja auch als Frau nicht lustig auf das Trümmerfeld zu blicken und es erlebt zu haben, das der Feminismus eben auch angerichtet hat. Die ausschließlich positive Darstellung des Feminismus ist von Übel.
(Der Kommentar wurde gekürzt, weil er unserem Kommentarkodex nicht entsprach – siehe hier: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102)
„...das deutsche Theater (...) ist weiterhin ausschließlich eine von Männern entworfene und dominierte Welt, die Frauen als Objekte sieht...“ Wer das in dieser Ausschließlichkeit behauptet, diskreditiert alle emanzipatorischen Bestrebungen. Das ist wenig hilfreich. Und es ist einfach falsch.
Außerdem verstößt der zweite Kommentar eindeutig gegen jede Regel. Er ist nicht nur beleidigend, sondern er legt nahe, ich sei psychisch krank. Wer die Geschichte des Begriffs Hysterie im Zusammenhang mit dem Feminismus kennt, weiß wovor ich rede.
Es ist einfach so, dass sich hier die Redaktion ihre ganz eigene Welt aus den Kommentaren zurecht schneidert.
Wer meinen Kommentar ganz lesen will, findet ihn auf meiner Facebook Seite und wird schnell feststellen, dass es sich um eine ganz harmlose Polemik handelt.
PS: Polemik, wenn es denn wirkliche Polemik ist, ist nie harmlos. Wenn doch, kann man sich die Mühe des Schreibens sparen-
(Unser Kommentarkodex sei allen, auch den Stamm-Kommentator*innen, noch einmal zur aufmerksamen Lektüre empfohlen – weitere Beiträge, die diese Plattform mit verschwörungstheoretischer Subversion zu unterwandern trachten statt sich sachlich zum redaktionellen Beitrag zu äußern, unter dem wir diesen Thread hosten, werden nicht veröffentlicht – mit freundlichem Gruß von der dunklen Seite der Macht, die Nachtkritik-Redaktion)