Kommentar Wien - Wie die aktuellen Leitungs-Neubesetzungen die Theaterszene der Stadt aufwühlen
Die neue Unruhe
7. August 2023. Erst Volkstheater, dann Burgtheater und Festwochen – mit den neuen Leitungen blieb in der Wiener Theaterszene kaum ein Stein auf dem anderen. Was bedeutet das für eine Stadt, die's eigentlich gerne gemütlich hat? Einer unserer "Beiträge der Saison", zur erneuten Lektüre empfohlen.
Von Martin Thomas Pesl
8. Februar 2023. So viel Veränderung ist Wien nicht gewohnt. Eine berühmte Kultur-, eine stolze Theaterstadt war sie immer schon, meist aber halt in ihrer behäbigsten Ausformung – ein letzter Hort der Verlässlichkeit, eine konservative Insel im progressiven Meer.
Das ist natürlich nur ein Gefühl und ein Klischee (Stichwort: "Wenn die Welt untergeht, komm nach Wien, da passiert alles 20 Jahre später"), aber irgendwie auch nicht: Luc Bondy leitete die Wiener Festwochen beispielsweise von 1997 bis 2015. Emmy Werner war Direktorin des Volkstheaters von 1988 bis 2005, bevor Michael Schottenberg für weitere zehn Jahre übernahm. Sogar am Burgtheater war Claus Peymann (1986–1999) mehr als zwei fünfjährige Amtszeiten da, Klaus Bachler dann genau zwei (1999–2009), und so wäre es auch weitergegangen, hätte nicht der Kulturminister im Rahmen des Finanzskandals Matthias Hartmann 2014 gefeuert und es die notfallsartig aus der Pension geholte Karin Bergmann 2019 eben dorthin wieder zurückgezogen.
Skepsis vor dem Neuen
Ungefähr seit dieser Zeit herrscht eine Rastlosigkeit in der Wiener Theaterlandschaft – die sich natürlich noch größer anfühlt, als sie ist, wegen dieser letzten drei Jahre, in denen zuerst überhaupt nichts war und es dann nicht mehr so war wie früher.
Ein Grund für die neue Unruhe liegt gewiss darin, dass den gemütlichen und ebenfalls langjährigen Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny 2018 die reformwillige Veronica Kaup-Hasler ablöste. Kaum im Amt, "nahm" die ehemalige Intendantin des steirischen herbst die Rücktrittsangebote der als glücklos wahrgenommenen Anna Badora (Volkstheater) und Tomas Zierhofer-Kin (Festwochen) "an" (mit anderen Worten: legte sie ihnen nahe) und besetzte die Posten neu, aber mit einem Blick auf internationales Renommee.
Das hat es in den Jahrzehnten zuvor in Wien nicht gegeben: eine Kulturpolitik, deren Entscheidungen eher am Urteil von Fachkreisen interessiert ist als am gefälligen Applaus des Publikums, mehr an Pressestimmen als an der Auslastung, mehr am Außen als am Innen. Das Ergebnis ist eine in ihrer Klarheit regelrecht öde Spaltung der heimischen Feuilletons: Konservative Medien wie Kurier, Kronen Zeitung und einige (größtenteils ältere) Mitglieder der Kulturredaktionen von Presse und Standard sehen im Mangel an psychologischem Illusionstheater die Ursache für leere Ränge im Volkstheater und darin wiederum einen eindeutigen Ablösegrund für den seit 2020 amtierenden Direktor Kay Voges.
Grummeln hier, Verjüngung dort
Kaup-Hasler und die andere Seite der Medienlandschaft loben Voges für sein energetisches Ensemble, das einen anderen Schauspielstil in die Stadt gebracht hat, die Offenheit fürs Ausprobieren und die Preise, die vor allem Claudia Bauers Inszenierung humanistää! einheimste. 2023 ist das Jahr, in dem sich entscheiden sollte, ob Kay Voges Wien über 2025 hinaus erhalten bleibt. Wenn er will, wird Kaup-Hasler ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verlängern, hat er das Volkstheater doch wieder auf der internationalen Karte eingezeichnet.
Das Raunzen und Toben jener, die ihren gut gefütterten Theaterschlaf wiederhaben wollen, wird gewaltig sein. In den Zeitungen wohlgemerkt, im Publikum weniger. Denn die – man verzeihe die Pauschalisierung! – älteren Zuschauer:innen haben das Volkstheater eh schon aufgegeben. Der Besuch einer ganz normalen Vorstellung des Soloabends Black Flame Anfang Februar zeigte das große Haus – nun, erwartungsgemäß alles andere als voll, aber mit einem erstaunlich geringen Altersschnitt. Publikumsverjüngung, here we come.
Bei den Wiener Festwochen sind die Lager ähnlich verteilt. Begrüßte man am ersten, eilig zusammengestellten Programm der Intendanz Christophe Slagmuylder noch, dass dieses umfangreicher und bewährter war als jenes von Zierhofer-Kin, nahm das Grummeln zu, je mehr Zeit der Belgier hatte, seine eigenen Vorstellungen umzusetzen. Rundum begeistert war zuletzt niemand, dennoch gab es ausgewogene Kommentare da und pauschale Verdammnis dort. Die Kulturstadträtin war bereit, Slagmuylder den Rücken zu stärken. Dazu kam es jedoch nicht, da dieser kurzfristig mit Ende des diesjährigen Festivals in seine Heimatstadt Brüssel zurückgeht und dort die Leitung des spartenübergreifenden Kulturzentrums Bozar übernimmt.
Das Publikum hat immer recht
Als Kaup-Hasler jüngst als Nachfolger Milo Rau präsentierte, blieben die Meckernden relativ leise, obwohl der Schweizer, der derzeit das NT Gent leitet, noch weniger für die ach so vermisste "kulinarische" Kunst steht als Slagmuylder. Das liegt wohl daran, dass Rau im traditionell mindestens ein kleinbisschen fremdenfeindlichen Österreich erstens schon öfter gastiert hat und zweitens in seiner Muttersprache Deutsch virtuos zu formulieren versteht. "Das Publikum hat immer recht", sagte er und dass er "ein großes mythisches Theaterfest" machen wolle. Musik in den Ohren des geschundenen Wiener Kulturbürgers (und eine gewagte Ansage, denn Rau hat zur Vorbereitung seiner ersten Festivalausgabe 2024 nur unwesentlich mehr Zeit als Slagmuylder damals für die seine).
Und dann wäre da noch das Burgtheater, dessen Besetzung nicht der Stadt Wien, sondern dem Bund obliegt, aktuell der von den Grünen nominierten Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer. Im Falle von Martin Kušej war es eher die andere Seite der Medienlandschaft, die ihn zum Teufel schicken wollte. Wenigstens an einer Stelle die Kontinuität zu wahren, die Wien zu brauchen scheint, wirkte wie das einzige Argument für eine Verlängerung des Direktors – eines, das auch er selbst brachte: Die Kosten eines Intendanzwechsels seien enorm, das Burgtheater ohnehin schon so gebeutelt. Doch Kušej ist scheinbar selbst bei der eigenen Belegschaft derart unbeliebt, dass die Findungskommission ihn nicht unter die infrage kommenden Bewerber:innen für die Amtszeit 2024–2029 reihte.
Dies offenbarte Mayer Ende Dezember, als sie nach zahllosen falschen Gerüchten, etwa, dass die Burgschauspielerin Maria Happel in der engeren Auswahl gewesen sei, den Kölner Intendanten Stefan Bachmann als neuen Burgtheaterdirektor präsentierte. Mittlerweile hat Kušej eine Untersuchung wegen seines Vorgehens in der Causa Teichtmeister am Hals und traut sich daher nicht, die potenziell befreiende Meldung gleich zweier Einladungen des Hauses zum Berliner Theatertreffen so unüberhörbar zu feiern, wie sein Kollege Voges es ein Jahr zuvor im vergleichbaren Fall getan hatte.
Wenigstens keine Deutschen
Eine weiße Weste bringt auch Bachmann nicht mit, was den Mitarbeiter:innen der Burg wohl Sorge bereitet. Die ersten Reaktionen der potenziellen Zuschauer:innen waren insgesamt dennoch erfreut. Bachmanns Wiener Inszenierung von Wajdi Mouawads Stück Verbrennungen aus 2007 haben viele noch als packendes Erzähltheater in nostalgischer Erinnerung. Bei anderen materialisierte sich die Steilwand aus dem Bühnenbild zur Jelinek’schen Winterreise 2012 im Gedächtnis.
Für Bachmann wird das Wiener Publikum bereit sein, die ihm inhärente Skepsis vor Neuem vorübergehend abzulegen, für Rau vermutlich auch. Dass beide Schweizer sind, ist Zufall, aber vielleicht spielt auch ein "Na wenigstens keine Deutschen" irgendwo mit. Schon im Herbst 2023 starten auf der Mittelbühnenebene gleich vier neue künstlerische Leitungen in Wien: ein Kollektiv um Marie Bues am Schauspielhaus, Anna Horn am Dschungel, Esther Holland-Merten im Werk X (dann wieder einschließlich der fünf Jahre lang künstlerisch unabhängigen Spielstätte Werk X Petersplatz) und als ihr Nachfolger bei WUK performing arts Andreas Fleck. Sie alle wurden nach fälligen Neuausschreibungen und Bewerbungen besetzt.
Es wuselt also vorerst weiter in Wien. Ab 2024 könnte dann für einige Zeit wieder Ruhe einkehren. Ob die Wien guttut? Aus der Sicht der meisten Wiener:innen bestimmt.
Martin Thomas Pesl, geboren 1983 in Wien, arbeitet von ebenda aus als Sprecher, Übersetzer aus den Sprachen Deutsch, Englisch und Ungarisch sowie als Autor, u.a. seit 2011 für nachtkritik.de und seit 2016 für den Falter. Seit 2019 Beiträge für Deutschlandfunk Kultur. Zudem ist Martin Thomas Pesl seit 2021 Mitglied der ehrenamtlichen Jury zum Wiener Theaterpreis NESTROY, für die Sommer 2022 und 2023 im künstlerischen Board des Festivals Kultursommer Wien für Theater zuständig und für die Ausgaben 2024 bis 2026 in der Jury zum Berliner Theatertreffen.
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