Über tote Ratten stolpern

von Karin E. Yeşilada

Paderborn, 11. April 2020. Heute Abend würde er sich fein anziehen, meinte ein Kommentator des Westdeutschen Rundfunks unlängst, seine Frau zu einem Glas Wein einladen, und dann würden sie "zuhause ins Internet-Theater gehen". Das sind erfreuliche Nachrichten in einer Zeit der kulturellen Kämpfe um die Zuschauer*innen, die vor den Bildschirmen bleiben müssen.

Die Auswahl an digitalen Angeboten für den Theaterabend ist inzwischen beachtlich angewachsen. Wie zwei Königskinder, die durch den Strom der politischen Maßnahmen getrennt wurden – Theaterschließungen hier, Wir-Bleiben-Zuhause da –, bewegen sich Theater und Publikum jetzt im Netz aufeinander zu. Intendant*innen berichten, dass ihren Ensembles der Publikumskontakt fehlt. Das Publikum wiederum hält an den gebuchten Karten fest und per Internet-Click die Treue. Alle schwimmen irgendwie, aber doch festen Willens aufeinander zu.

Pest Proben 560 TheaterOberhausen uProben per Video-Konferenz: "Pest" von Albert Camus im Theater Oberhausen.  Quelle: Screenshot
Neben vermehrten Uploads von bisherigen Generalproben oder einzelnen Aufführungsmitschnitten dominieren neue Online-Produktionen das Angebot, die sich allerdings häufig als virtuelle Hausführungen mit menschelnder Beimischung entpuppen. Entweder gewähren sie Einblicke in die Abläufe hinter den Kulissen oder sie begleiten Tagesabläufe einzelner Ensemblemitglieder, gern als "Corona-Tagebuch" aufgemacht. Manche schnüren täglich neue "Überraschungspakete". Gedichte, Kurztexte, Tanzeinlagen, Kurzfilmchen, Handyvideos – erlaubt ist, was hoffentlich gefällt.

Schlüsseltexte der Krise

Andere besinnen sich in Zeiten von Corona auf das Genre der Stunde, nämlich auf Dichtung über die Pest. Aus dem 20. Jahrhundert bietet sich der französische Roman "Die Pest" (1947) von Albert Camus (1913-1960) an, mittlerweile zum Schlüsseltext der Corona-Krise avanciert. Der Roman handelt von der einjährigen Belagerung der algerischen Stadt Oran durch die Seuche in den 1940er Jahren, erzählt davon, wie eine verschworene Gemeinschaft den gemeinsamen Feind am Ende niederringt, und wurde nach dem Erscheinen schnell zum Kultbuch der Veteranen der französischen Résistance. Camus selbst, ein in Algerien geborener Franzose, war jahrelang zwischen Paris, Lyon und Oran, zwischen Europa und Nordafrika unterwegs – zur heutigen Corona-Zeit eine schier undenkbare Mobilität. Der zeitlebens an der Tuberkulose leidende Nobelpreisträger kam 1960 bei einem Autounfall ums Leben.

Der zweite Pest-Text stammt aus der Renaissance und verarbeitet die Zeit, als die Pest in Italien wütete. Giovanni Boccaccios "Il Decamerone" spielt im Florenz des Jahres 1348 und lässt zehn junge Adelige, die sich vor der Pest in ein Landhaus flüchten, Geschichten zum Zeitvertreib erzählen. Diese Geschichten bilden den eigentlichen Inhalt der Novellensammlung. Einige Motive dieser Erzählungen wurden später in anderen Fassungen berühmt, etwa die Ringparabel in Lessings "Nathan der Weise".


Ist das nun originell oder naheliegend? Sein Haus müsse jedenfalls keinen Corona-Spielplan, à la "Die Pest" und "Decamerone" auflegen, krittelte der Intendant des Züricher Schauspielhauses, Nicolas Stemann jüngst hier auf nachtkritik.de. Man möchte in Zürich die Situation erst einmal in Ruhe auf sich wirken lassen und dann Formate entwickeln. Ist es also nur eine offensichtliche Notlösung, wenn deutsche Theater mit Albert Camus oder Giovanni Boccaccio aufwarten?

Gemeinschaftsarbeit in katastrophalen Zeiten

Am Theater Oberhausen läuft derzeit ein interaktives Projekt, das den Roman "Die Pest" (1947) von Albert Camus digital adaptiert, "garantiert völlig kontaktlos", wie es heißt. Regisseur Bert Zander will mit seinem geplanten Theaterfilm die Aktualität des Romans erkunden und somit die Gelegenheit beim Schopfe packen. Die Oberhausener sind dazu aufgerufen, aktiv mitzuwirken. Netz-Premiere ist für den 27. April angekündigt. Zander hat dafür eine Art virtuelle Bürgerbühne ins Leben gerufen: Wer im Bewerbungsvideo überzeugt – gefordert ist das Einsprechen des Satzes "Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte." – darf anschließend als Laienmitglied des professionellen Ensembles Texte aus dem Roman sprechen. Im Wochenrhythmus sollen die so erarbeiteten Folgen ausgestrahlt und im Internet beziehungsweise auf sozialen Plattformen verbreitet werden.

Mit dieser Gemeinschaftsarbeit in katastrophalen Zeiten kommt Bert Zander dem philosophischen Grundprinzip des Romans nahe: Widerstand gegen die "Krankheit" schlechthin vermögen nach Albert Camus schließlich nur die in universaler Liebe Geeinten zu leisten. Das gilt auch über den Roman hinaus für die Gegenwart. "In Zeiten wie diesen ist Gemeinschaft, Solidarität und Teilhabe noch wichtiger als sowieso schon", schreibt dazu das Theater Oberhausen.

DTBerlin NiklasWetzel 560 Screenshot"Il Decamerone" im Berliner Deutschen Theater: Niklas Wetzel liest die Geschichte vom Stallknecht des Königs Agilulf  (3. Tag, 2. Geschichte) Quelle: Screenshot

Wem das absurd erscheint, hat es genau getroffen, gehört doch die Anerkennung des Absurden zur zentralen Botschaft des Romans. Auch hier positioniert sich das Theater bewusst, indem es den "beinahe grotesken Versuch" unternimmt, in Zeiten der Pandemie dem Absurden des Lebens einen Sinn abzugewinnen und gemeinsam neue Visionen zu entwickeln: "Wie wollen wir jetzt und zukünftig leben? Sind Werte wie Mitgefühl, Empathie, Solidarität und Liebe die einzige Chance darauf, als Menschen auf dieser Welt toleriert zu werden?", fragt das Projekt. Es bleibt abzuwarten, ob dabei auch ein Bezug auf den im Roman angespielten deutschen Faschismus und dessen blutiges Erbe in Halle und Hanau geknüpft wird. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung jedenfalls streckt das Theater die Hand nach dem Publikum aus "ganz ohne physischen Kontakt". Wir sind gespannt!

Revolutionierende Erzählkunst

Ein anderes Konzept, der Pandemie proaktiv zu begegnen, ist die Hinwendung zu der Pest-Dichtung schlechthin: Giovanni Boccaccios "Il Decamerone" (1349-53). Die Quarantäne der hippen Oberschicht in der Toskana des 14. Jahrhunderts schien durchaus ihre Vorzüge gehabt zu haben. Man beschließt, das Geschichtenerzählen nach bestimmten Regeln festzulegen: Jeweils eine/r der Gesellschaft ist König/in für den Tag und darf das Genre der Geschichten bestimmen, die dann reihum zum Besten gegeben werden. In zehn mal zehn Geschichten (die griechisch-italienische Wortbildung "Decamerone" bedeutet "10-Tage-Werk") geht es unter zehn verschiedenen Themenstellungen vor allem um die Liebe in allen Variationen: der glücklichen, der tragischen, der heimlichen, der saftigen, und außerdem noch um das ganze Panorama menschlicher Lust und Laster.

Boccaccios narrativer Kniff, aber auch seine stilistische Kunst trugen dazu bei, dass sein "Il Decamerone" trotz offensichtlicher Anleihen an volkstümliche Geschichten, Legenden oder an das arabische Vorbild von "Tausendundeine Nacht" höchst originell wirkte und die Erzählkunst der europäischen Literatur revolutionierte. Drei Theaterhäuser haben unabhängig voneinander Boccaccios Novellensammlung also aktuell auf den Spielplan gesetzt: Das Deutsche Theater in Berlin, außerdem das Anhaltische Theater in Dessau und die Westfälischen Kammerspiele in Paderborn.

Die Lesungen Liebesgeschichten in Zeiten von Corona am Deutschen Theater sind quasi aus der Not geboren: Gut eine Woche vor der landesweiten Theaterschließung konnte am 8. März 2020 noch die Premiere der deutsch-russischen Bühnenproduktion Decamerone unter der Regie von Kiril Serebrennikov stattfinden. Die Proben dazu waren teilweise nach Moskau verlegt worden, wo der mit Ausreiseverbot belegte Theater- und Filmregisseur und Leiter des Moskauer Gogol-Centers, mit einem gemischten Ensemble die gut dreieinhalbstündige Tanztheaterversion erarbeitete. Weitere Vorstellungen in Berlin am 18. und 19. April in Berlin mussten dann entfallen; ob die Moskauer Premiere am 24. Juni stattfinden kann, ist noch offen.

Lebenszeichen der Theater im Netz

Unter dem Titel "Liebesgeschichten in Zeiten von Corona" lesen nun also Mitglieder des deutschen Theaters einzelne Geschichten ein, und zwar von ihrem jeweiligen Zuhause aus. Dadurch bekommt jeder Text ein anderes, meist häusliches Setting, und auch die Rahmung und Tonqualität der jeweiligen Lesung variiert. Vom 23. März bis zum 1. April 2020 wurden jeweils um 18.00 Uhr die ersten Geschichten hochgeladen; Lorena Handschin präsentierte die Einführung des Autors, anschließend folgten ohne feste Reihenfolge neun Geschichten aus dem "Dekamerone" über die Liebe (gelesen von Bernd Moss, Barbara Schnitzler, Helmut Mooshammer und anderen, die bislang nicht zur Besetzung der Bühnenproduktion gehören). Der Upload neuen Geschichten läuft in dieser Woche bis Ostersonntag.

Dessau RitaKapfhammer 560 ScreenshotDecamerone in Dessau: Rita Kapfhammer vor der eingeblendeten Kulisse der Villa Palmieri in Fiesole bei Florenz, wo die Decamerone-Gesellschaft sich im 14. Jahrhundert aufgehalten haben soll. Quelle: Screenshot

Sehr persönlich wendet sich das Anhaltische Theater auf seiner Webseite an sein Publikum: die verfügte Theaterschließung sei "sehr schmerzlich", doch "wenn Sie nicht zu uns kommen können, kommen wir zu Ihnen. Über das Internet." Ebenso persönlich werden die jeweiligen "Decamerone"-Lesungen präsentiert, zu deren Beginn sich die Lesenden vorstellen. Intendant Johannes Weigand machte am 13. März 2020 den Anfang mit dem Prolog, anschließend lasen verschiedene Ensemblemitglieder, darunter auch der Kontertenor, die Souffleuse oder die Leiterin der Abteilung Kommunikation, die Geschichten in chronologischer Reihenfolge auf einer Bühne am Tisch, jeweils vor der im Hintergrund eingeblendeten Kulisse der Villa Palmieri in Fiesole, dem historischen Gebäude, wo Boccaccios Gesellschaft die Pest-Quarantäne verbracht haben soll. (Allerdings ist auf dem Bild nicht die historische Villa in Fiesole zu sehen, sondern das Zweitgebäude in Florenz, wo das Europäische Hochschulinstitut neben Fiesole seinen Sitz hat.) In jedem Fall sorgt die malerische toskanische Kulisse für einen feststehenden Rahmen, innerhalb dessen die vom Papier ablesenden Ensemblemitglieder die Geschichten für ihr Publikum darbieten.

Gratulation vom Domprobst

Am Paderborner Theater wiederum wird der Text, wie in Berlin, von den Schauspieler*innen vorgetragen. Es sei eine spontane Idee gewesen, die kurzfristig, nämlich innerhalb von vier Tagen umgesetzt wurde, berichtet Intendantin Katharina Kreuzhage. Elf Mitglieder des Ensembles der Westfälischen Kammerspiele sowie Gastspieler Gregor Weisgerber bekamen die Texte der Klabund-Übersetzung von Boccaccios Original, die auf Gutenberg.de zur Verfügung stand. Nach kurzer Besprechung und vereinzelten Leseproben für die jüngeren Ensemblemitglieder habe man sich für eine schlichte Variante entschieden: Die Schauspieler*innen lesen im schwarz abgedunkelten Raum von einem Prompter ab, was einen optimalen Kammersound erzeugt (Ton: Tim Klöpper) und streckenweise den Eindruck des direkten Blickkontakts erweckt (Video: Till Herrlich-Petry). Seit dem 21. März 2020 an wird allabendlich zum Vorstellungsbeginn um 19.30 Uhr eine Geschichte hochgeladen. Das Projekt ist bis zum 24. April angesetzt und pausiert über die Feiertage.

Sie habe gute Resonanz erhalten, berichtet Katharina Kreuzhage, die auch die Einführung spricht, über das Projekt. Selbst der Paderborner Domprobst habe ihr gratuliert. Und das will etwas heißen; immerhin hat Boccaccio etliche Spitzen gegen die katholische Geistlichkeit in seinem Decamerone abgefeuert. Man sei sich erst während der Lesungen wieder über die große Aktualität der Kirchenkritik in dem mittelalterlichen Text bewusst geworden, so Kreuzhage, deren Haus in der ostwestfälischen Bischofsstadt mehr oder weniger von der katholischen Kirche umzingelt ist.

Ausgetrocknet, trockengelegt?

Und wie ist das nun so anzuschauen bzw. anzuhören? Anders als bei den konservierten Videomitschnitten von Theateraufführungen und anders auch als bei den allerorten sprießenden Selfie-Videos vom heimischen Corona-Alltag ist der Rahmen aufgezeichneter Lesungen relativ statisch. Anders aber als bei Hörbuch-Produktionen ist der Theater-Zuschauer auf das Schauen konditioniert und starrt nun womöglich mit wachsender Enttäuschung auf das statische Bild, wogegen Hörbuch-Anhören per se zum Schließen der Augen einlädt. Tut man aber genau dieses, entfaltet sich das Experimentelle dieser Leseprojekte. Und das muss nicht immer positiv sein.

Es ist nämlich schon erstaunlich, wie schnell sich Schauspieler*innen verwandeln, sobald ihnen die Bühne unter den Füßen weggezogen wird. Allein an einem Tisch, vor dem Teleprompter oder der Handykamera, scheint es so manchem Schauspieler das Schauspiel zu verschlagen, und er verwandelt sich zurück in einen Grundschüler, der brav die Stimme absenkt, sobald sich der Punkt am Satz Ende nähert. Manche Schauspielerin wird zur Klassenbesten, die aufgeregt einen Satz an den nächsten heftet, um als erste fertig zu werden mit dem Text. Von Textgestaltung oder gar Spiel ist in solchen Fällen kaum etwas zu spüren. Das ist einigermaßen verwunderlich, bietet doch die Textvorlage mehr als genug an Ränkespiel, an Ironie, Schadenfreude und anderem. Seltsam, wie das Wort Lesung all das austrocknet und trockengelegt, was im direkten Miteinander zwischen Bühnendarstellern und ihrem Publikum zu befeuern scheint. So richtig mag der Funke da nicht überspringen.

Paderborn DanielMinetti 560 Screenshot"Il Decamerone" in Paderborn: Daniel Minetti liest Folge 17 Quelle: Screenshot

Immerhin stand Boccaccios "Il Decamerone" jahrhundertelang auf dem Index, nicht unbedingt allein aufgrund des kirchenkritischen Inhalts, sondern aufgrund von dessen deutlicher, sich in üppigen sexuellen Schilderungen ergehenden Ausführung. Wenn aber die Liebesgeschichte nur geheimnisvoll daher geraunt oder gar monoton abgelesen wird, werden jede Menge Möglichkeiten verschenkt. Dass nicht jede/r die italienischen Namen stolperfrei über die Lippen bringt – geschenkt. Doch wo bleibt die Lust und Leidenschaft des Spiels? Es scheint, als fehle den Lesungen, so gut sie gemeint sind, der Schuss Adrenalin. Da stört dann selbst das unbeholfene Umblättern (und Stimme-Absenken-am-Seitenende). Hier hätte sich womöglich mehr Regie vorteilhaft auswirken können.

Bürgerrechte in Zeiten der Notfallpolitik

Fairerweise muss auch gesagt werden, dass sich die anfängliche Unsicherheit der ersten Lesungen im Verlauf verliert und jüngere Episoden deutlich lebendiger rüberkommen. Gelungen sind etwa gestalterischen Lesungen von Markwart Müller-Elmau (Berlin), Daniel Minnetti (Paderborn) oder Rita Kapfhammer (Dessau). Herrlich ist die Lesung von Niklas Wetzel (Berlin), der als kleiner Löwe verkleidet im ländlichen Ziegengehege kauert und seinen Text einer Ziege vorliest, die begeistert an der Kamera schnuppert oder am Papier knabbert. Wie er da über die frivole Geschichte hinweg mit der Ziege schäkert, und diese die mit großem Appetit und gehörigem Rascheln ein jedes ausgelesene Blatt auffrisst, hat viel Charme. Mehr davon!

Decameron noble mealEine flämische Decamerone - Illustration aus dem 15. Jahrhundert  Quelle: BnF, Paris | Wikipedia

Während sich Hörbuch- und Filmproduktionen des "Dekameron" zeitlich begrenzen und die Auswahl auf kaum ein Dutzend Geschichten beschränken, haben die Theater in der Krise nun ganz andere Möglichkeiten: Sie können den gesamten Text als serielle Produktion auflegen und über Wochen hinweg alle hundert Novellen einlesen lassen. Ob das so geschehen wird, bleibt abzuwarten. Womöglich wird das Ende der Quarantänezeit am 19. April 2020 auch das Ende dieser Projekte bedeuten. Womöglich aber wird es neue Quarantänezeit geben.

Das alte Rezept wirkt noch

Auf jeden Fall werden die Theater mit ihrem "Corona-Spielplan" selbst zu Erzählern und Rettern in schweren Zeiten. Mit den Texten über die Pest bieten sie – wie im Falle des Theaterfilms über Albert Camus' Roman "Die Pest" die Gelegenheit, sich mit dem wahrhaftigen Feind der Demokratie zu beschäftigen, sei es der heutige Rechtsextremismus oder auch nur der schleichende Abbau von Bürgerrechten im Zeichen der "Notfall-Politik". Oder aber sie bieten ihrem Publikum Lektüre aus fernen Zeiten und verdeutlichen, dass auch schon im Mittelalter Unterhaltung das beste Mittel gegen quarantänebedingte Depression sein kann.

Und das Publikum? Es starrt auf den Bildschirm, oder – besser! – schließt die Augen, um sich ganz dem Klang der Stimme hinzugeben. Theater in den eigenen vier Wänden, im heimischen Sessel, ohne Hüsteln der Sitznachbarn, stattdessen womöglich mit einem Glas italienischen Chianti – das ist ein neuer und durchaus angenehmer Genuss. Anders als der abgekaute Hörbuch-Krimi entführt uns Giovanni Boccaccio genau dorthin, wo es uns gerade wehtut, nämlich in die Quarantäne, und siehe da, das vor knapp sieben Jahrhunderten ersonnene Rezept, die Not durch spannendes Geschichtenerzählen zu lindern (genau genommen hatte das schon die Scheherezade mit ihren 1001 Geschichten vermocht, aber sei's drum) wirkt auch in Zeiten der neuen Corona-Seuche. 


 

KarinYesilada 200 uKarin E. Yeşilada studierte Germanistik, Anglistik, Pädagogik und Italianistik in Marburg, London und München. Ihre literaturwissenschaftliche Dissertation Poesie der dritten Sprache – Türkisch-deutsche Lyrik der zweiten Generation erschien 2016 im Tübinger Stauffenburg Verlag. Die interkulturelle Literaturwissenschaftlerin, Literatur- und Theaterkritikerin lehrte an Universitäten in München, Paderborn und Bochum, sowie in Istanbul, Izmir und Tunis.

 

Kommentar schreiben