Berlin Alexanderplatz - WLB Esslingen
Den Knast im Blut
13. Januar 2024. Die Geschichte des Franz Biberkopf, der aus dem Knast kommt, durch Berlin taumelt und im kleinkriminellen Milieu untergeht, hat Alfred Döblin mit "Berlin Alexanderplatz" auf einige hundert Seiten Buch gebracht. In Esslingen in der Regie Alexander Müller-Elmau wird's knapper, aber nicht leichtgewichtiger.
Von Steffen Becker
13. Januar 2024. Auf YouTube finden sich viele Filmchen, die Literaturklassiker mit Comic-Animationen oder Lego-Figuren auf ein paar Minuten herunter brechen: Nibelungenlied, Faust, Hamlet – alles to go. An der Württembergischen Landesbühne war man etwas weniger ehrgeizig. Regisseur Alexander Müller-Elmau dampft die Epik von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" auf immerhin noch anderthalb Stunden ein.
Rasiert und beschleunigt
Grundlage ist die ohnehin schon reduzierte Hörspielfassung des Romans. Aber auch die Erzählstimme, die diese trägt, kommt auf der Esslinger Bühne nur sporadisch zum Einsatz – ganz nach dem Motto: ihr Bildungsbürger auf den Sitzen kennt die Geschichte ja. Die "Sinfonie der Großstadt", die Döblin in langen Bewusstseinsströmen in den Köpfen der Leser abspielte – auf wenige Takte rasiert.
Die Bühne ist frei von urbanen oder überhaupt irgendwelchen Elementen. Der politische Kontext der Weimarer Republik und ihres hauptstädtischen Tanz-auf-dem-Vulkan-Lebensgefühls – lost in reduction. Passend zum Gesamtkonzept wird die Swing-Musik der 1920er in einem Fast-Forward-Remix kurz reingeballert. Was dem Abend erhalten bleibt, ist die Reinform der Geschichte von Franz Biberkopf und die Frage: Funktioniert "Berlin Alexanderplatz" ohne Berlin? Überraschenderweise ist die Antwort: Ja.
Stählerne Hülle
Die Bühne (von Regisseur Alexander Müller-Elmau selbst eingerichtet) besteht aus einem Verhau, der wie Betonmauern aussieht. Als Franz Biberkopf zu Beginn aus dem Gefängnis entlassen wird, schmiegt er sich an sie, als wollte er die Sicherheit der Haft nicht verlassen wollen. Doch auch nachdem er sein Selbstvertrauen wiedergefunden und den Willen, ein anständiger Mensch zu sein, gewonnen hat, bleiben die Mauern ständiger Begleiter. Als Symbol, dass dieser Mensch dem Gefängnis seines (kriminellen) Milieus nicht entfliehen kann.
Videoeinblendungen auf der Oberfläche suggerieren zu den Wendepunkten der Geschichte Einschläge in eine Stahlhülle – ein passendes Bild dafür, dass der strukturelle Knast des Franz Biberkopfs ihn nur bremst, aber umgekehrt nicht vor Nackenschlägen schützt. Franz Biberkopf verliert seinen Arm, seine Geliebte, den Glauben an das Gute und den Verstand.
Das Tempo, das die Regie ihm auf dieser Schussfahrt vorgibt, birgt die größte Gefahr für den Abend – dass die Beziehungen der Figuren in der Hast oberflächlich bleiben. Regisseur Müller-Elmau macht aus der selbst gewählten Not eine Tugend und macht die Geschwindigkeit zum Teil der Erzählung. Als Franz Biberkopf im Krankenhaus vom Weltschmerz gepackt wird, zieht sich seine erste Freundin parallel an den Bühnenhintergrund zurück. Biberkopfs Monolog wird von ihrem Flirt mit dem Arzt überlagert – starkes Symbol, dass Reflexion und Besinnung im schnelllebigen Fressen-oder-Gefressen-werden-Universum keinen Platz haben. Das Leben geht weiter und brutal darüber hinweg.
Opfer ihrer Prägung
Trotz der schnellen Szenenwechsel gelingt es den Schauspielern, ihre Figuren und deren Beziehungsgeflecht auszuspielen. Antonio Lallo als Franz Biberkopf ist genau der Kerl, den man sich für eine all about Biberkopf-Version des Romans vorstellt. Viril und laut – letzteres vor allem, um Unsicherheit zu überspielen. Eine Marke. Eine Wucht, die aber verpuffen muss.
Eva Dorlaß als Freundin und Halt von Biberkopf ist anders als in der 100 Jahre alten Vorlage eine selbstbewusste Frau. Sie hätte das Zeug, um Biberkopf einen schützenden Rahmen zu bauen. Aber auch hier zeigt sich der tiefere Sinn der leeren Bühne. Die negativen Einflüsse stürmen ohne Hindernis auf Biberkopf ein.
Als Gegenspieler Reinhold schickt die Inszenierung Kristin Göpfert ins Rennen. Sie macht aus ihm am ehesten den unsympathischen Sympathieträger, den Döblin als DNA all seinen Figuren eingeschrieben hat. Der Mord an Mieze passiert ihm/ihr wie aus einer Laune, aus gekränktem Ego heraus – auch Reinhold ist letztlich kein Bösewicht, sondern ein Gefangener seiner Prägung. Zugleich unterstreicht das Spiel mit den Geschlechterrollen in seinem Fall noch die erotische Anziehungskraft, die die Skrupellosigkeit auf Biberkopf ausübt.
Die weiteren Rollen verteilt die Inszenierung en bloc. Markus Michalik etwa übernimmt mit stetig eingezogenem Kopf die passiv-aggressiven Mitläufer wie den Meck. Daniel Großkämpfer die schmierig-arroganten Trickser. Das reduziert die Komplexität der Rollenwechsel und macht diesen "Berlin Alexanderplatz" verdaulich auch für die Generation YouTube im "der Deutsch-LK geht ins Theater"-Alter. Was mit Blick auf die Zukunft der Bühnen nicht das Schlechteste ist, was sich über eine Inszenierung sagen lässt.
Berlin Alexanderplatz
nach Alfred Döblin
Regie und Bühne: Alexander Müller-Elmau, Kostüme: Katrin Busching, Dramaturgie: Anna Gubiani, Video: Niklas Zidarov.
Mit: Antonio Lallo, Eva Dorlaß, Kristin Göpfert, Markus Michalik, Daniel Großkämper, Reyniel Ostermann, Feline Zimmermann.
Premiere am 12. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause
wlb-esslingen.de
Kritikenrundschau
"Alexander Müller-Elmau hat eine Großstadtstudie choreografiert, die sich auch ins Berliner Nachtleben der Gegenwart übertragen ließe", schreibt Elisabeth Maier in der Stuttgarter Zeitung (15.1.24, €). Die Stärke der Inszenierung liege "in der Milieustudie", der Regisseur lenke den Blick "auf gebrochene Menschen, die am Rand ihrer Existenz taumeln und Halt suchen".
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