Europa. Illegal - Julia Hübner lässt Björn Bickers Text im Gutgemeinten versanden
Charity statt Katharsis
von Jürgen Reuß
Freiburg, 7. März 2009. Wenn das Theater Freiburg neben der zweiten Auszeichnung hintereinander "für die überzeugendste Theaterarbeit in Deutschland abseits der großen Theaterzentren" auch den höchsten Erlös aus Ticketverkäufen seiner Geschichte erzielte, liegt das unter anderem an seiner konsequenten Politik der Einmischung in die und Vernetzung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Eine der wichtigen Einmischungs- und Vernetzungszentralen ist dabei die kleine Kammerbühne. Immer wieder gehen dort Theatertexte Verbindungen mit erläuternden Vorträgen oder Kampagnen ein, um der Realität unserer "Festung Europa" auf den Zahn zu fühlen. Was dort inszeniert wird, lässt sich daher oft nicht nur als theatrale Inszenierung besprechen.
Wir sind viele, wir sind da
So auch bei der Premiere von "Europa. Illegal." Grundlage ist Björn Bickers gerade erschienenes Buch "illegal. wir sind viele. wir sind da". Bicker ist Dramaturg an den Münchener Kammerspielen. Über anderthalb Jahre hat er recherchiert und Gespräche geführt, um dem Leben von Illegalen, Menschen, die ohne Papiere und Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland leben, nachzuspüren. Daraus entstand zunächst ein Theaterabend in München, dann hat Bicker das Material zu einer rasanten und beeindruckenden Textcollage verdichtet.
Vier Einzelstimmen und einen Chor erhält das Phänomen Illegale. Der selbstbewusste Ukrainer: "wenn sie nicht wollen dass ich komme ist mir das scheißegal." Der Kurde, der sich ein Papphaus in der Betonruine an der Ausfallstraße baut. Die Ecuadorianerin, die ihr Kind legalisiert, um es zu verlieren und sich zu versklaven. Die deutsche Helferin, die sich für ihre Hilfe rechtfertigen muss.
Text als Kampagnen-Deko
Vier kunstvolle Extrakte aus unzähligen Einzelleben, die einen ungeheuren Sog entwickeln und in ihrer Ästhetisierung dem Leben näher rücken als das rein Dokumentarische. Und deren Konsequenz sich durch die Chorstimme mit der Überzeugungskraft eines Popsongs in immer größeren Schleifen durch den Text zieht: Illegale sind kein zu lösendes Übergangs- oder Randphänomen: "wir sind schneller als ihr / wir sind stärker als ihr / wir sind die neuen menschen (…) ihr seid zu teuer (…) ihr werdet die welt nicht mehr verstehen (…) ihr werdet aussortiert (…) ihr seid von gestern."
Ein toller Text, den man eigentlich nur überzeugend sprechen muss, damit er auch auf der Bühne wirkt. Das Ensemble unter der Regie von Julia Hübner hat anderes damit vor. Es möchte nicht einen Theaterabend gestalten, sondern den Text nutzen, um eine Kampagne möglichst überzeugend zu dekorieren.
Anna Böger (31) verkündet es als Moderatorin des Abends: Die Premiere ist gleichzeitig der Beitritt Freiburgs zur deutschlandweiten Bewegung "save me – Flüchtlinge aufnehmen!". Am Ende der Vorstellung wird dann auch live per Skype zu einem der Kampagneninitiatoren nach Tübingen geschaltet, um für den Beitritt zu werben. Der Programmzettel ist praktischerweise gleich ein Unterstützerformular, das man nur ausfüllen und abgeben muss.
Gut gemeint – aber gut gemacht?
Unter diesen Umständen haben es die Schauspieler, ein Profi und zwei Laien, natürlich schwer, den Text adäquat umzusetzen. Vielleicht bekommt Bickers Text deswegen auch einen märchenhaften Vorspann, für den Anna Bögers zu Beginn aus einer Art Puppenbühnenklappe die Märchentante gibt, um darauf hinzuweisen, dass dies weniger eine Inszenierung als ein bunter Charityabend wird. Umso höher ist es den beiden jugendlichen Laiendarstellern Sophia Emmerich (16) und Vincent Fach (12) anzurechnen, dass sie doch immer wieder die Eindringlichkeit von Bickers Text anklingen lassen.
Inszenatorisch bleibt allerdings der Grundeindruck, dass gut gemeint nicht gut gemacht sein muss. Andererseits haben während der Vorstellung etliche Besucher per SMS ihre Bereitschaft signalisiert, Flüchtlinge zu betreuen und sogar aufzunehmen. Da muss man sich wohl der Frage nach dem Theater als moralische Anstalt stellen. Ist es das? Und wenn ja, dient es diesem Zweck eher durch eine ästhetische Katharsis oder durch die aktive Werbung von Flüchtlingshelfern?
Europa. Illegal
Ein Ensemble-Projekt mit Texten von Björn Bicker
Regie: Julia Hübner, Raum: Moritz Müller, Kostüme: Birgit Holzwarth, Dramaturgie: Arved Schultze. Mit: Anna Böger, Sophia Emmerich, Vincent Fach.
www.theater.freiburg.de
Mehr lesen? Wenn Björn Bicker schreibt, nennt er sich mitunter auch Polle Wilbert. Unter diesem Namen wurde im April 2008 sein Stück Am Tag der jungen Talente in Nürnberg uraufgeführt. Im Sommer 2008 war Björn Bicker mit von der Partie, als Peter Kastenmüller an den Münchner Kammerspielen das verwandte Projekt Illegal realisierte.
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