Krieg im Kopf

26. Februar 2024. Helena und ihr erwachsener Sohn nehmen eine geflüchtete ukrainische Familie bei sich auf. Alle sind besten Willens im Auftragsstück der ukrainischen Dramatikerin Oksana Savchenko – und dennoch heillos überfordert. In Simone Geyers Uraufführung treffen harte Kriegstraumata auf weiches Flokati-Mobiliar in Pastell. 

Von Sarah Kailuweit

"Meine Hölle (Моє пекло)" von Oksana Savchenko am Theater Heidelberg © Susanne Reichardt

26. Februar 2024. Die gemeinsame Erzählung beginnt am Bahnhof. Also in einem Transitraum: Niemand möchte dort bleiben, alle sind nur zeitweise hier. Olena will zurück in ihr altes Leben. Jetzt aber ist sie hier. Und bei ihr ist Tochter Marysja. Ihr Mann Jaruk aber ist nicht in diesem Transitraum, ist nicht in diesem Dazwischen, weit weg von zu Hause. Jaruk ist daheim geblieben. Er kämpft gegen die russischen Invasor*innen.

WG des Jahres 2022

Olena und die 15-jährige Marysja fliehen vor dem Krieg und landen in Heidelberg, wo Helena und ihr Sohn sie bei sich zu Hause aufnehmen. Laut eines Berichts des DeZIM gemeinsam mit der Plattform "Unterkunft Ukraine" konnte 49.000 geflohenen Menschen über die digitale Plattform in Deutschland eine Unterbringung vermittelt werden. Auch Helena öffnet ihr Zuhause, um zu helfen. Sie will das Richtige tun. Das fühlt sich schließlich auch toll an – erstmal. Und so entsteht eine WG des Jahres 2022: Voll des guten Willens, bis zum Überlaufen gefüllt mit unterschiedlichen Bedürfnissen – und krisengebeutelt.

Gleicher Wille, unterschiedliche Bedürfnisse: Hans Fleischmann und Kateryna Kravchenko in Mona Marie Hartmanns Flokati-Szenario © Susanne Reichardt 

Wie lebt man mit traumatischen Kriegserfahrungen – den eigenen oder denen der anderen? Die Frage steht im Zentrum des Stücks "Meine Hölle Моє пекло", das die ukrainische Dramatikerin und Journalistin Oksana Savchenko im Auftrag des Theaters Heidelberg geschrieben hat. Es ist nicht ihr erstes Stück an diesem Haus: Bereits 2017 war Savchenko mit Lora zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. Die jetzige Uraufführung findet nun fast genau zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine statt – wobei die Autorin in ihrem Text nicht vergessen lässt, dass der Krieg bereits 2014 mit der Annexion der Krim begann.

Pastellträume und Lebenshärten

Auf der Bühne ziehen zwei Familien zusammen – in der besten Absicht, alles gut und richtig zu machen. Der Raum ist geprägt von Pastell-Tönen und übergroßen flauschigen Flokati-Möbeln. Vorhänge in sanftem Lila schirmen den schwarzen Studiobühnenraum ab, Federn umarmen die Hängelampe. Der weiche Raum, der von Mona Marie Hartmann gestaltet wurde, kontrastiert die thematische Härte in den Erzählungen der beiden Ukrainerinnen. Wie Spatenstiche reißen ihre Erlebnisse immer wieder Gräben in den wohligen deutschen Wohn-Traum von Helena und ihrem 25-jährigen Sohn Luka.

Nicole Averkamp spielt die sehr deutsche, sehr bürgerliche und sehr korrekte Helena mit einer zarten Fürsorge, in die sich aber nach und nach Härte einschleicht im Zusammenleben mit den doch so anderen Menschen: Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass Olena in der Wohnung bleibt, um den Gas-Abzähler hereinzulassen, solange Helena arbeiten ist? Und warum läuft eigentlich schon wieder die Waschmaschine, obwohl nur zwei Blusen darin sind? Vladlena Sviatashs Olena bemüht sich, macht aber doch alles falsch. Dann werden Vorurteile gefüttert, die man eigentlich gar nicht haben will, und Alltagskleinigkeiten führen zu verbalen Explosionen: Leben in einer Wohngemeinschaft eben. Nur dass hier ganz klar ist, um wessen Zuhause es sich eigentlich handelt. 

Verschiedene Blickwinkel zulassen: Kateryna Kravchnko und Simon Mazouri auf der Heidelberger Studiobühne © Susanne Reichardt

Zwei rote Fäden ziehen sich durch den Abend: Einmal leben da unterschiedliche Familien mit diversen Erfahrungen und Erwartungen zusammen, die sich alle bemühen und doch scheitern. Zum anderen setzt sich Savchenkos Text in der Regie von Simone Geyer mit Lebensrealitäten nach Kriegserfahrungen auseinander. Die Überforderung mit dieser Aufgabe wird im pastell-weichen Bühnenraum umso schmerzhafter spürbar. Alle Spieler*innen schaffen in der kleinen Studiobühne eine Nähe zum Publikum, die fast bedrückend persönlich wirkt. Vor allem Kateryna Kravchenko als junge Marysja spielt mit einer geradezu erschlagenen Direktheit und großer Verletzlichkeit all die Ebenen aus, auf denen – wie sie sagt – der Krieg "den Kopf fickt": Da ist dieser tote russische Soldat, der verbrannt am Straßenrand liegt, als sie im Auto mit Freunden aus der Stadt fahren. Sie sind gekommen, um sie zu töten, sagt Marysja. Aber sie hat Mitleid mit dem Toten. Warum? Sie hasst sich auch dafür. Mit der russischen Invasion wurde Marysja eine für uns selbstverständliche Sicherheit genommen. Sie hat die Kontrolle über ihr eigenes Leben verloren und zählt jetzt – nach alternativen Kontrollmöglichkeiten suchend – Kalorien. 

Andere Blickwinkel zulassen

Zurzeit befinden sich laut Ausländerzentralregister 1.139.689 aus der Ukraine geflohene Menschen in Deutschland. 65 Prozent der Geflüchteten sind Frauen. Und bei einer Befragung des Deutschen Jugendinstituts gaben rund 35 Prozent der befragten Mütter aus der Ukraine an, bis Kriegsende in Deutschland bleiben zu wollen. Ihre Erfahrungen und ihre Geschichten sind auch Teil unserer Wirklichkeit. Und Simone Geyer zeigt mit Savchenkos Stück, wie nahe wir einander sind, auch wenn wir ein unterschiedliches Verständnis von Ruhezeiten haben.

Der Regisseurin gelingen trotz der thematischen Schwere immer wieder leichte Momente zum Durchatmen. Vor allem schafft sie es, das Neben-, Mit- und Gegeneinander der unterschiedlichen Perspektiven nicht nur klar zu orchestrieren, sondern auch nahbar zu gestalten. Die Schwierigkeit, andere Blickwinkel zuzulassen, auch wenn man sie vielleicht nicht nachempfinden kann, wird zum Leitmotiv der Inszenierung. So können Savchenkos Figuren auch als Stellvertreter*innen der aktuellen politischen Lage in Deutschland gelesen werden – und gleichzeitig als Aufruf, miteinander zu sprechen statt übereinander.

Meine Hölle (Моє пекло)
von Oksana Savchenko
Uraufführung
Regie: Simone Geyer, Bühne und Kostüme: Mona Marie Hartmann, Musik: Jel Woschni, Dramaturgie: Jürgen Popig, Paul Berg, Theaterpädagogik: Mareike Schneider.
Mit: Vladlena Sviatash, Kateryna Kravchenko, Nicole Averkamp, Simon Mazouri, Hans Fleischmann.
Premiere am 25. Februar 2024
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

Manfred Jahnke von der Deutschen Bühne (26.2.2024) schreibt: "Savchenko baut im Kleinen ein Szenarium auf, das aufzeigt, wie eine 'gutgemeinte' Haltung in Enttäuschung umschlägt und doch wieder, wenn es hart an die Existenz geht, ein Zusammenleben möglich ist. Simone Geyer nimmt in ihrer Uraufführungsinszenierung die von der Autorin gelegte Fährte, das Publikum erst einmal mit den Mitteln der Farce abzuholen, auf.“ Allein wegen der Schauspielerleistungen, die die Schrecken des Alltags und die traumatischen Erfahrungen von Krieg und Flucht in ihren Widersprüchlichkeiten offenlegten, sei der Abend sehenswert.

Größtenteils bleibe die Inszenierung von Simone Geyer leider in der Farce stecken. "Es gibt wenige Kipp-Momente, bei denen einem das Lachen im Halse stecken bleibt", so Marie-Dominique Wetzel vom SWR (26.2.2024). "Auch wenn die Konzeption des Stücks nicht überzeugt, ist es dennoch ein wichtiger Theaterabend. Denn wann erfahren wir schon mal, wie es den aus der Ukraine geflüchteten Menschen hier inzwischen in unserem Alltag geht?" Zudem gehe der Text auch der interessanten Frage nach, wie sinnvolle Hilfe unsererseits in Deutschland aussehen könnte. "Das Theaterstück 'Meine Hölle' ist damit auch ein wichtiger Beitrag zur Zeitgeschichte."

 

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