Kleiner Mann, was tun?

von Julia Nehmiz

Konstanz, 26. September 2020. Es ist kein pompöses Theaterfest, es ist ein Auftakt mit Ansage. Leise, eindringlich, intensiv: Man muss sich einmischen. Jede und jeder muss eine Haltung haben. Und man kann sich entscheiden, zu handeln. 

Karin Becker und ihr Team beginnen die neue Intendanz am Theater Konstanz mit einem politischen Ausrufezeichen: mit Hans Falladas großem Widerstandspanorama "Jeder stirbt für sich allein". Fallada hat den 700-Seiten-Roman 1946 in nur vier Wochen geschrieben, basierend auf den Prozessakten eines wahren Falles, dessen völlige Trostlosigkeit ihn nicht mehr losließ. Das Ehepaar Hampel, bei Fallada Quangel, beschließt, nachdem der einzige Sohn in Frankreich gefallen ist, Widerstand zu leisten. Sie schreiben Postkarten gegen den Krieg und verteilen sie in Berliner Wohnhäusern. Nach zwei Jahren, 276 Postkarten und 9 Briefen werden sie verhaftet, 1943 hingerichtet. 

Kampf gegen die Vernichtungsmaschinerie

In Konstanz greifen Regisseurin Schirin Khodadadian und Dramaturgin Doris Happl auf die Theaterfassung von Luk Perceval und Christina Bellingen zurück, die Perceval 2012 am Thalia Theater Hamburg inszenierte und mit der Perceval 2013 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Die Konstanzer Intendantin Karin Becker kennt diese Arbeit, sie war zuvor künstlerische Betriebsdirektorin am Thalia Theater. Für Konstanz musste die Hamburger Fassung nochmals straff gekürzt werden. In nur zweieinhalb Stunden entrollt sich nun die Geschichte von Otto und Anna Quangel, ihrem kleinen großen Kampf gegen die unentrinnbare Grausamkeit der Vernichtungsmaschinerie. 

Jeder stirbt fuer sich allein 1 560 IljaMess uAllein gegen das System im Zuschauerraum-Bühnenbild von Carolin Mittler © Ilja Mess

Bühnenbildnerin Carolin Mittler spiegelt den Zuschauerraum auf der Bühne wider. Die hölzernen Wandpaneele mit den roten Samtvorhängen gehen einfach weiter, unterbrochen nur durchs Bühnenportal. Auf einer steil aufsteigenden Rampe sind rote Theatersessel platziert – genau wie im eigentlichen Theatersaal mit den enormen Coronaabständen zwischen Sitzen und Reihen. Und auf dem Fussboden liegen hüben wie drüben leere graue Postkarten verteilt, unbeschriftet. Ein überdeutliches Bild: Diese Geschichte könnte uns allen passieren, wir alle könnten selber auf der Bühne sitzen, ja, eigentlich sitzen wir auf ihr. Da stürzen die Schauspielerinnen und Schauspieler auf die Bühne, rutschen den Abhang hinunter, klammern sich krampfhaft an Stühlen fest, bis jeder einen Platz erobert hat. Dann schauen sie stumm die anderen an, die ihnen da auf denselben Stühlen gegenübersitzen. Das Spiel beginnt.

Beim Reflektieren zuschauen

Schirin Khodadadian braucht nur vier Schauspieler und drei Schauspielerinnen, um das Panorama von Angst, Widerstand und Mitläufertum mit 14 Figuren zu erzählen. Die Figuren wechseln unmittelbar von Dialog zu Erzählpassagen, mit denen sie das Publikum direkt ansprechen. So wird die Handlung vorangetrieben, die Figuren erscheinen vielschichtiger, und es entsteht episches Erzähltheater: Indem sie von sich in der dritten Figur berichten, schaut man ihnen beim Beobachten und Reflektieren zu. 

Dass Khodadadian die Tragik der Geschichte durch Slapsticknummern bricht, kommt dann manchmal bemüht daher. Auch manche Bilder wirken allzu platt. Wieder und wieder müssen die sieben auf der Bühne nach dem richtigen Platz suchen, irren heimatlos durch die Reihen, suchen nach ihrem Platz in der Gesellschaft – ja, der ist halt schwer zu finden.

Jeder stirbt fuer sich allein 3 560 IljaMess uEpisches Erzähltheater mit Platzsuche: Ingo Biermann und Jana Alexia Rödiger spielen Kommissar und SS-Obergruppenführer © Ilja Mess

Doch die Inszenierung entfaltet Kraft. Bei Khodadadian im Zentrum: Kommissar Escherich (Ingo Biermann), der den Quangels auf die Spur kommen muss – der SS-Obergruppenführer verlangt Ergebnisse – und, um seinen eigenen Kopf zu retten, dabei auch über Leichen geht. Ingo Biermann spielt einen aalglatten, selbstsüchtigen Ehrgeizling, der an nichts und niemanden glaubt. Seine Wandlung zum Geläuterten wird ausgelöst durch die brutale Demütigung des SS-Obergruppenführers (mit kalter Schärfe: Jana Alexia Rödiger), der ihn in Malerfolie fesseln lässt und auf ihn scheißt.

Ein gutes Leben, dieses Leben? 

Auch bei Otto und Anna Quangel gelingt Khodadadian eine genaue Figurenzeichnung. Tischler Otto von Beginn an mit einer seltsamen Gefasstheit, die immer größer wird. Anna Quangel, die zuerst die Postkarten eine wichtige Gegenreaktion findet, dann aber zweifelt und lieber nach dem Krieg kämpfen möchte, für etwas, das sich lohnt, ohne viele Gefahren. Sebastian Haase und Katrin Huke spielen das mit großer Klarheit, loten zarte, bittere Untertöne aus. 

Der Abend endet leise: "Ein gutes Leben, dieses Leben", sagt Anna Quangel, blickt in den Himmel – und dann direkt ins Publikum. Ob das eigene Leben wirklich ein gutes ist? Von den vielen grauen, noch zu beschreibenden Postkarten, die auf dem Fussboden im Zuschauerraum ausliegen, nimmt fast niemand eine mit.

 

Jeder stirbt für sich allein
nach Hans Fallada
Fassung von Luk Perceval und Christina Bellingen
Regie: Schirin Khodadadian, Bühne: Carolin Mittler, Kostüme: Charlotte Sonja Willi, Musik: Johannes Mittl, Dramaturgie: Doris Happl, Licht: Lukas Dikomey, Ernst Schieszl.
Mit: Sebastian Haase, Katrin Huke, Ingo Biermann, Jana Alexia Rödiger, Burkhard Wolf, Pauline Werner, Miguel Jachmann.
Premiere am 26. September 2020
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.theaterkonstanz.de

 

Kritikenrundschau

"Autoritäre Regime scheitern nicht an ihren Gegner, sondern an sich selbst", diese Botschaft zieht Kritiker Johannes Bruggaier vom Südkurier (28.9.2020) aus der Inszenierung. Es sei eine ernüchternde Wahrheit, die Khodadadian "in so wunderbarer Klarheit wie beklemmender Ironie" entfalte. "Sie verstört, weil sie politische Widerständigkeit in Zweifel zieht, statt sie im üblichen Brustton der Überzeugung einzufordern. Und sie beglückt, weil sie ein neues Licht auf altbekannte Fragen wirft." Nur manchmal wirke das Spiel überzogen, so der Kritiker über die "eindrucksvolle" Produktion.

"Das Eine oder Andere wäre unter Umständen modifiziert auf die Bühne gekommen, wenn die strengen Hygienemassnahmen nicht Abstand eingefordert hätten. Die leicht statische Haltung ist wohl unausweichlich, aber überraschenderweise tut das dem Stoff sogar recht gut. Ist sie doch Garant für eine ruhige, konzentrierte Handlungsführung, die jedem Wort, das gesprochen wird, Bedeutung verleiht", schreibt Brigitte Elsner-Heller auf thurgaukultur.ch. "Eine gefährliche Ruhe kennzeichnet die Szenen, in denen die einfachen Leute ihr Leben meistern", "als wollte die Regie den Opfern eine stille Würde zukommen lassen". Die Seite der Täter hingegen werde schonungslos vorgeführt oder sogar der Lächerlichkeit preisgegeben "– eine Haltung, die zwar Tempo in die Inszenierung bringt, aber auch ein wenig Magengrimmen".

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