Gitarrensolo für einen Busch

2. Juli 2023. Dass das Begehren seltsamen Pfaden folgt, wissen wir aus Shakespeares "Sommernachtstraum", wo eine Waldgöttin einem Esel verfällt. In Hannah Zufalls Neuauflage werden nun vor dem Hintergrund der Naturzerstörung karge Pflänzchen auf Schrottplätzen angebetet. Aber kann im Sommertheater wirklich alles Dystopie sein?

Von Steffen Becker

Hannah Zufalls "Irrlichter. Ein Sommernachtstrauma" vom Zimmertheater Tübingen © Alexander Gonschior

2. Juli 2023. Der Wald ist ein Schrottplatz. Im hinteren Eck eines ehemaligen Schlachthaus-Geländes vermüllt das Zimmertheater Tübingen den Mythos des Shakespeare’schen "Sommernachtstraums" mit einem Container, dem Wrack einer E-Klasse, einem ausgemusterten Stocherkahn und allerlei schepperndem Krimskrams. Auch die eigentliche Natur ist auf dem absteigenden Ast.

Leiche im Kofferraum

Das Theater hatte die Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, Topfpflanzen auszurangieren. Die halb vertrockneten Requisiten-Spenden zeigen: Es gibt in der Stadt sehr viel Mangel an Liebe für Pflanzen. Aber immerhin leben diese. Die meisten Figuren aus dem Shakespeare-Original haben es dagegen nicht in das Stück "Irrlichter. Ein Sommernachtstrauma" von Hannah Zufall und die Uraufführung in der Regie von Magdalena Schönfeld geschafft. Die Elfenkönigin Titania liegt nur noch als imaginäre Leiche im Kofferraum. Von ihren Dienern ist allein der Weber "Zettel" geblieben, der nun in einer Mischung aus Goth und Mad Max Metall sammelnd umhergeistert.

                               Roman Pertl fährt als Hofnarr Puck ein Bakterium (Seraina Löschau) spazieren © Alexander Gonschior

Der Hofnarr Puck – Roman Pertl als flamboyanter Master of Ceremony - karrt als Ersatz für die Königin Titania das Tiefsee-Bakterium "Halomonas titanicae" in einer Schubkarre auf die Bühne. Die invasive Art und ihre Anpassung an menschliches Dasein sorgen allerdings für noch mehr Chaos. Und doch löst selbst diese aus den Fugen geratene Natur eine große Sehnsucht aus. "He" (Kurzform für Hermia, Helena, Helium) kämpft sich durch einen Zaun auf die Bühne. Lauretta van de Merwe spielt ihre Figur als auftoupiertes Barbie-Girl, das sich beim Campen vom Stress der Postmoderne erholen will. Überkandidelt, aber mit Raum für Tragikomik.

Triebbefriedigung ist King

Ihre Figur ist ehrlich bemüht, etwas Positives zu bewirken. Als Konsumentin der Angebote des Waldes kann sie sich vom Materialismus aber nicht lösen. Sie verkörpert die ganze Schizophrenie unseres Verhältnisses zur Natur: Wir lieben Waldbaden und übernachten gern im Stroh, lassen aber unsere Zimmerpflanzen verrecken. Ihr Geliebter Lysander ist da einfacher gestrickt – und bietet Morris Weckherlin die Möglichkeit, alle Register von Schmierig- bis Aufdringlichkeit zu ziehen. Das aufgeknöpfte Plastik-Sakko signalisiert: Triebbefriedigung ist King. Das rächt sich. Das Sommernachtstraum-Motiv des in die Augen geträufelten Liebestranks führt bei ihm zu einer Fixierung auf Pflanzen – und einem Gitarrensolo für einen Busch, der sich neben eine Schlachthaus-Treppe gequetscht hat.

                               Es kann nicht alles Dystopie sein: Das Ensemble des Tübinger Zimmertheaters © Alexander Gonschior

Seraina Löschau hat die komplexe Aufgabe, als Bakterium im Körper einer Schauspielerin auf die Menschheit losgelassen zu werden. Tatsächlich gelingt es ihr souverän, nicht nur ihre Figur, sondern ihre realen Gliedmaßen als Fremdkörper erscheinen zu lassen – außer beim kurzen Ausflug in einen Plastikteich, dem ursprünglichen Element des Bakteriums. So schrill die Einführung eines eisen- und damit zivilisationsfressenden Lebewesens am Anfang wirkt, so konsequent erweist sie sich im Verlauf. Bei "Irrlichter" spielt nicht der Mensch die Hauptrolle, sondern die Natur, die den Menschen auf eine groteske Art und Weise aus seiner Hybris zurückholt (Corona-Virus – man erinnert sich).

Flirt mit einem Bakterium

Die Limitationen von Sommertheater sind Autorin und Regisseurin dennoch bewusst. Es ist Shakespeare, es ist gutes Wetter (halbwegs), Kessler-Sekt sponsert. Also kann nicht alles Dystopie sein. Es gibt also Versmaß, ein Zitate-Medley, viel Musik (besonders passend: Toxic von Britney Spears) und Sex mit Hundemaske auf dem Autorücksitz. Am Ende stört nur der durch den Flirt mit dem Bakterium zum Kapitalismus-Kritiker avancierte Schrottsammler "Zettel" (Eva Lucia Grieser). Der wütende Rant gegen das selbstzerstörerische System hat aber keine Chance gegen das Happy-End-Gedudel des restlichen Ensembles. Das fabuliert von einer besseren Zukunft für den Schlachthaus-Hinterhof und Topfpflanzen-Friedhof dank Samenbomben und Insektenhotels. Auf dem Container steht derweil gesprayt: "Als könnte man die Zeit totschlagen ohne die Ewigkeit zu verletzen".

Irrlichter. Ein Sommernachtstrauma
von Hannah Zufall
Regie: Magdalena Schönfeld, Bühne und Kostüme: Gregor Sturm, Dramaturgie: Jana Gmelin. Technik: Stefan Pfeffer.
Mit: Eva Lucia Grieser, Lauretta van de Merwe, Seraina Löschau, Roman Pertl, Morris Weckherlin.
Premiere am 1. Juli 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.zimmertheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

"Man muss schon bereit sein sich einem herrlichen Wirrwarr auszusetzen bei diesem Stück – aber dann kommt man auf seine Kosten", schreibt Armin Knauer im Reutlinger Generalanzeiger (3.7.2023) und lobt die Darsteller – und die Musik, die Kontrapunkte setze dagegen, dass es allzu trashig werde.

Einen "sophisticated Spaß" hat Peter Ertl erlebt, "zu sophisticated für einen gewöhnlichen Sommertheaterabend, zu rätselhaft, wundersam, assoziationsstiftend. Das sind andererseits nicht die schlechtesten Attribute für Kunst", schreibt Ertl im Schwäbischen Tagblatt (3.7.2023) über die Shakespeare-Bearbeitung von Hannah Zufall und lobt den Rhythmus, die Bilder, die Spiellust der Akteure, die einen als Zuschauer am Ball hielten.

Kommentar schreiben