Sex auf dem Index

17. Juni 2023. Der Chor hat Konjunktur im Theater. In einer feministischen Inszenierung an der Berliner Volksbühne mutierte er unlängst zu "Die Chor". In Anne Leppers neuem Stück, das sich ums Projekt Weltverbesserung dreht, wird er nun zur Massenware: bestellbar im Internet. Regisseurin Eva Lange sucht das Gute mit ihm in der Backstube.  

Von Shirin Sojitrawalla

Anne Leppers "Jugend ohne Chor" im Hessischen Staatstheater Darmstadt © Fabian Stransky

Darmstadt, 17. Juni 2023. "Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!" Der unmögliche Satz, gern Marie Antoinette in den Mund geschoben, passt gut zum neuen Text von Anne Lepper, einem Werkauftrag fürs Staatstheater Darmstadt, der der Klassengesellschaft aufs Maul schaut und in weiten Teilen in einer Backstube spielt. Es geht ums Projekt Weltverbesserung. Hauptfigur ist Dirk, von seiner Mutter zum Gutsein verdonnert. Geschlechtsverkehr steht auf dem Index.

Sozialistisches Funkenmariechen

Aron Eichhorn gibt Dirk als flattrigen Naiven in blauen Bubihosen und Trappermütze, seine Mutter ist bei Gabriele Drechsel ein sozialistisches Funkenmariechen mit strengem Blick und Zopf. Es sind weniger Menschen als Stellvertreter:innen. In der nächsten Szene befindet sich Dirk, dessen Vorname womöglich nicht zufällig die Bedeutung "mächtiger Herrscher des Volkes" trägt, schon in besagter Backstube. Arbeits- und Parallelwelt. Von Mehlstaub und von Mehllungen ist bei Lepper die Rede, weswegen die Bühnen- und Kostümbildnerin Carolin Mittler das Ganze in einen bergwerkmäßigen Kerker steckt. Ein großartiger, aber unangenehmer Ort, in Cinemascope, der Boden ist mit Mehlsäcken belegt. Was auf den ersten Blick wie eine Wolkenwiese aussieht, erinnert auf den zweiten an im Krieg verwendete Sandsäcke, und aufgestapelt in einem Türrahmen an der Rückwand an Leichenberge. Die Assoziation drängt sich mir auf, weil die Ofenklappen auf der Bühne nicht an Backstuben, sondern an Vernichtungslager gemahnen.

JugendohneChor2 1200 Fabian Stransky uFlattriger Naiver in blauen Bubihosen: Aron Eichhorn als Dirk © Fabian Stransky

Das beschwert die Inszenierung, geht es in "Jugend ohne Chor" doch vor allem um die lang geplante Überwindung des Kapitalismus. Der Titel spielt natürlich auf Horváths Roman "Jugend ohne Gott" an, der sich der Verkommenheit des Menschen anhand faschistischer Umtriebe annimmt. Ist das die Erklärung für den Ort des Grauens auf der Bühne?

Im Kern tot, auf der Bühne quicklebendig

Um die Verkommenheit der Menschen geht es auch bei Lepper. Ihr titelgebender Chor ist dabei längst zur Massenware geworden, nichts Besonderes, man kann ihn im Internet bestellen und dann schon sehen, was man davon hat, im Kern tot, auf der Bühne in Darmstadt indes quicklebendig. Aus 60 spärlich bedruckten Seiten Text macht die Regisseurin und Co-Intendantin des Marburger Landestheaters, Eva Lange, 60 vielschichtige Minuten, die von krassen Licht- und lässigen Tonwechseln leben. Ihr Chor besteht aus sechs uniformen Menschen, die zu Anfang blonde Mireille-Mathieu-Perücken, später kahle Schädel tragen. Der Chor ist Volk, Gesellschaft, Publikum, kritisches Bewusstsein. Nichts Dramatisches mehr, sondern lediglich nice to have.

JugendohneChor1 1200 Fabian Stransky uKritisches Bewusstsein mit Mireille-Mathieu-Perücke: Der Chor mit Aron Eichhorn und Daniel Scholz im Vordergrund © Fabian Stransky

Gegen Ende lässt er Dirk mit einem 15-köpfigen Kinderchor sitzen. Dirk singt – oder summt ihm eher – ein Schlaflied vor, probiert es zumindest. Anne Lepper und Eva Lange indes denken nicht daran, uns gut schlafen zu lassen. Sie erzählen ein böses Märchen, in dem unser Optimierungswahn kein Witz ist. Bei Lepper liest sich das leichter und luftiger als auf der Bühne. Dort ist es trotz schönster Verrenkungen und munterer Gesellen in der Bäckerei (Daniel Scholz, Thorsten Loeb und Jörg Zirnstein) ein düsteres Vergnügen.

Spektakuläre Aussichten

Alles spielt sich auf der Hinterbühne ab, das Publikum sitzt auch dort und staunt, wie der Abend zum Ende doch noch Optimismus zündet. Der Theaterraum weitet sich, gewinnt an Höhe, Breite, Tiefe, hinreißend bunte Ballons wehen aus dem Schnürboden, der Eiserne Vorhang fährt hoch und gibt den Blick in den dunklen, magisch beleuchteten Theatersaal frei. Spektakuläre Aussichten und ein Hoffnungsschimmer, der langlebiger sein sollte als ein Luftballon.

Jugend ohne Chor
von Anne Lepper
Uraufführung
Regie: Eva Lange, Bühne und Kostüme: Carolin Mittler, Mitarbeit Kostüme: Flavia Stein, Dramaturgie: Deborah Raulin.
Mit: Arno Eichhorn, Daniel Scholz, Thorsten Loeb, Jörg Zirnstein, Gabriele Drechsel, Karin Klein, Hubert Schlemmer, Petra Schlesinger, Niloofaar Bijanzadeh, Agata Demel, Florentine Schirdewan.
Premiere am 16. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.staatstheater-darmstadt.de

 

Kritikenrundschau

Während die Kapitalismuskritik in den Bezirken des Naheliegenden bleibe, geschehe de facto Wunderliches, so Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (19.6.2023). "Dirk und sein Chor kommen sich näher, und sie werden gemeinsame Kinder haben. Kinderchöre. Eine possierliche Vorstellung." Als Theaterstunde werde das in Darmstadt auch possierlich dargeboten, "finster grundiert allerdings mit zahllosen Mehlsäcken, die die Bühne zum unbehaglichen Schutzraum gegen Wasserfluten oder Angriffe machen". Ein Abend auch, der dem Theater eine eindrucksvolle Hauptrolle zuweise.

"Liest sich durchaus amüsant, was Dirk da so alles durch die Birne braust, lässt dem Zuschauer aber auch schon mal den Schädel schwirren", findet Stefan Benz im Darmstädter Echo (19.6.2023). Die Figuren seien keine Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Kopfgeburten. "Anne Leppers Ideen auf Beinen kommen nicht über die erste Station hinaus, weshalb das Stück, das nur eine gute Stunde dauert, in Eva Langes lakonischer Inszenierung auch keine Minute länger tragen würde." Dirk, der so hoffnungsvoll auszog, schaue am Ende so verloren und verzweifelt aus wie die anderen Figuren, die Anne Lepper bereits früher in Darmstadt vorgestellt habe.

Die Geschichte ende ziemlich finster, so Michael Laages in Fazit Kultur vom Tage im DLF Kultur (16.6.2023). Hans im Glück, so eine Figur sei dieser Dirk. Die Figur stoße an die Zwänge, die in der Backstube herrschen. Er würde wohl alles weniger gewinnorientiert organisieren und auch die kapitalistischen Grundbedingungen würde er gerne ändern. Die Backstube mit ausgelegten Mehlsäcken ist ein bisschen Hauptdarsteller. "Optimische Lösungen lenken davon ab, dass der Text etwas krude sei." Es bleibe alles etwas sonderbar, auch wenn es viel erzählen wolle. Insgesamt sei der Abend aber sehr schön.

 

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