Der Menschenfeind - Staatstheater Mainz
Spiel mir das Lied vom Gossip
1. Mai 2023. Mit seinem Magdeburger "Woyzeck", den er in die Ästhetik eines 3D-Videospiels übertrug, gastiert Jan Friedrich gerade beim Münchner Nachwuchsregie-Festival "Radikal Jung". Molières Misanthropen schickt er jetzt an ein Filmset zum Western-Dreh – und in den Kampf gegen Rückgratlosigkeit und virulente Floskelei.
Von David Rittershaus
1. Mai 2023. Der Cowboy kennt nur sein eigenes Gesetz, seine eigene Moral. Er handelt nach seinen eigenen Regeln, und zwar mit größtmöglicher Entschlossenheit, denn: Wer zuerst schießt, gewinnt. Wer zögert, verliert. Der Schnellere kann weiterziehen, einsam durch die Weiten der Prärie reiten. So ist der Cowboy frei von Zwängen und niemandem Rechenschaft schuldig. Er ist der Inbegriff der Selbstgesetzlichkeit.
Misanthrop in Cowboystiefeln
Regisseur Jan Friedrich, Jahrgang 1992 und in diesem Jahr mit seinem Magdeburger "Woyzeck" zum Festival "Radikal jung" eingeladen, schließt diese uramerikanische Figur ausgerechnet mit einem französischen Misanthropen aus dem 17. Jahrhundert kurz. In seiner Inszenierung von Molières Komödie "Der Menschenfeind" am Staatstheater Mainz tritt Alceste, die zynisch-melancholische Hauptfigur, in Cowboystiefeln und mit Cowboyhut auf. Doch Alceste, verkörpert von Henner Momann, ist auf Friedrichs Metabühne kein Cowboy, er soll nur einen spielen.
Schon während des Einlasses darf das Publikum den Akteur:innen bei den letzten Vorbereitungen zusehen. Es werden Teile des Bühnenbildes arrangiert und per Durchsagen Darsteller:innen in die Maske gebeten. Im Vordergrund prangt auf einem Standaschenbecher prominent das Logo einer Zigarettenfirma, die es geschafft hat, das Rauchen mit dem Unabhängigkeitsethos des Cowboys bis auf alle Ewigkeit zu verschwistern.
Offensichtlich soll ein Western gedreht werden. Es gibt eine Saloontür und neben Alceste noch einen weiteren Cowboy, seinen Kumpel Philinte (Daniel Mutlu). Das Publikum kann nur einen Ausschnitt des Filmsets sehen, während Alceste etwas von Einschränkungen wegen Knieproblemen murmelt und alles sich sortiert. Kurz darauf stehen Alceste und Philinte an der Rampe und setzen mit Molières Dialog in Versform ein.
Metatheatrale Anspielungen
Schon die verwendete Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens von 1983 hat Molières Reime nicht nur in eine andere Sprache, sondern auch in eine andere Zeit geholt, versetzt die Handlung vom französischen Hof in die bundesrepublikanische Schickeria. An die amüsante Textfassung knüpft Regisseur Jan Friedrich geschickt an und schafft eine weitere, pointierte Übersetzung in seine selbstgeschaffene Welt. Dabei hilft ihm die Verschachtelung von Filmset und Theaterbühne. Das Publikum kann darüber genauso angespielt werden wie die Souffleuse und der Inspizient, ohne dass Handlung und Reimschema abbrechen. Metatheatrale Anspielungen, die unterhalten, aber nie das Ganze ins Wanken bringen.
Der Menschenfeind Alceste kämpft unterdessen gegen sein eigenes Umfeld. Zu viele Floskeln, zu viel Heuchelei und kein Rückgrat. Das sind die Vorwürfe an seine Mitmenschen. Mit seiner unverblümten Direktheit eckt er allerdings heftig an, und mit seiner Célimène (Leandra Enders) hat er dauernd Streit, weil er eifersüchtig auf ihre Verehrer ist. Sie wiederum scheint sich gerne mit Freunden und Verehrern zu vergnügen. Dabei wird nicht nur gefeiert, sondern auch ordentlich gelästert. Besonders wenn die stets präsente Live-Kamera Célimène und ihre Gefolgschaft bis in ein Schlafzimmersetting verfolgt, erinnert das doch sehr an die zahlreichen Realityshows von "Germany‘s Next Topmodel" bis zum "Bachelor", die den Gossip zu ihrem Unterhaltungskern erhoben haben.
Dem Sonnenuntergang entgegen
Kein Wunder also, dass Alceste genervt die Augen verdreht. Doch mit seinem Überlegenheitsgefühl lässt Friedrichs Inszenierung Alceste nicht so einfach durchkommen. Einerseits weil Célimène selbstbewusst seine Besitzansprüche entlarvt und dagegen aufbegehrt. Andererseits läuft Alceste bis kurz vor Schluss als Cowboy herum, auch wenn es nur ein Kostüm ist, für einen Film, der nicht gedreht wird. Am Ende bleibt ihm zwar seine Moral, aber eben auch nichts anderes übrig, als einsam dem Sonnenuntergang entgegenzureiten – im übertragenen Sinn. Ein schauerlich anachronistisches Bild – und eine gelungene Pointe.
Der Menschenfeind
Von Jean-Baptiste Molière
Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens
Regie und Kostüme: Jan Friedrich, Bühne: Louisa Robin, Musik: Nicki Frenking, Licht: Dieter Wutzke, Dramaturgie: Boris C. Motzki.
Mit: Henner Momann, Daniel Mutlu, Holger Kraft/Lorenz Klee, Leandra Enders, Carl Grübel, Iris Atzwanger, Johannes Schmidt, Benjamin Kaygun
Premiere am 30. April 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-mainz.com
Kritikenrundschau
"Es ergibt Sinn, dass Friedrich die Handlung in Mainz in die Scheinwelt von Film, Funk und Fernsehen verlegt: Buhlte man damals um die Gunst des Sonnenkönigs, so geht es heute um Warhols berühmte '5 Minuten Ruhm', um einen Platz im Spiel aus Sehen und Gesehenwerden", schreibt Johanna Dupré in der Allgemeinen Zeitung (2.5.2023). Die Inszenierung sei sehr amüsant, kurzweilig und rege doch zum Nachdenken an.
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