Goethe auf Bier

von Matthias Schmidt

Bad Lauchstädt, 29. August 2015. In der Pause sprach mich ein älterer Herr an, und mir schwante, da er in den engen Holzbänken des Goethe-Theaters direkt hinter mir gesessen hatte, nichts Gutes. Statt schlechter Sicht beklagte er allerdings, einfach nicht in das Stück hineingefunden zu haben. Er wolle sich nur eine Zweitmeinung einholen, entschuldigte er sich, und dass es ihn wirklich beruhigen würde, wenn ein anderer Zuschauer das Problem nicht habe. Erstaunlich, so viel Vertrauen in das Theater. Ganz ohne Wut fragte er schließlich noch mehr sich selbst als mich: Warum machen die das alles? Über diese auf der Bühne verteilten Tische steigen, Goethe selbst auftreten lassen, diese Sachen? Um von der schönen Sprache Goethes abzulenken? Oha!

Tatsächlich inszeniert Henriette Hörnigk den ersten Teil der ja eigentlich der Tragödie verwandten "Wahlverwandtschaften" voller Leichtigkeit. Sie historisiert nicht und vermeidet zu viel Pathos. Zwar hat Meister Goethe an seinem Geburtstag in dem von ihm gegründeten Theater in Bad Lauchstädt das erste Wort, aber es stammt nicht aus den "Wahlverwandtschaften": "Ich bin Goethe, und ich will ein Bier", sagt er. Dann wird gespielt, was das Zeug hält. Die Möglichkeit, dass sich zwei glücklich miteinander Lebende bei passender Gelegenheit in zwei andere verlieben, kommt dabei ziemlich heutig daher.

Glücks- und Scherzkekse

Die Inszenierung bleibt zwar bei Goethe, denn natürlich ist dieses Sichüberkreuzverlieben keine Erfindung der Scheidungsgesellschaft; aber vieles wirkt eben bestenfalls komisch, streckenweise gar ironisch. Das Publikum erlebt keine bedeutungshubernden Goethe-Gedanken, sondern Szenen einer Ehe, die einer Kolumne von Stefan Schwarz oder einem Roman von Jan Weiler entsprungen sein könnten. Die Spieler verlassen ihre Rollen dafür ab und an kurzzeitig. Charlotte mault ihren Eduard an, die Badehose, die er trage, sei nicht nur deutlich zu klein, sondern auch längst von ihr aussortiert. Der Saal lacht. Er wiederum singt ein putziges Lied am Klavier, in dem sich Babel auf Ladekabel reimt. Lachen. Kurzum, das sind die Sachen, die gegen "Goethes schöne Sprache" arbeiten.

wahlverwandtschaften2 560 Falk Wenzel uDieser Goethe! Bettina Schneider und Alexander Pensel © Falk Wenzel

Und ein bisschen offenbar, zumindest für mein Pausengespräch, auch gegen die eigentliche Geschichte, in der sich ein Paar, Charlotte und Eduard, zwei Gäste ins Haus holt, Otto und Ottilie, und sich dann eben "über Kreuz" in die beiden verliebt. Wie das geschieht, ist hoch amüsant, unglaublich ideenreich und im besten Sinne studentisch inszeniertes Sommertheater. Die vier Spieler klettern auf den Tischen umher, die – eine hübsche Andeutung des Landschaftsparks von Charlotte und Eduard – das Bühnenbild sind, sie quetschen sich in die Enge zwischen Tischen und Stühlen, sie singen, sie musizieren, sie setzen sich Hippie-Perücken auf, sie essen Glückskekse und ein Luftschlangen-Shooter kommt knallend zum Einsatz. Nicht, dass man die Gründe oder wahlweise auch Abgründe des Paarungsverhaltens der vier Verliebten wirklich nachvollziehen kann, weder physisch noch psychologisch und eigentlich auch nicht verbal. Das geht schon ziemlich unter, aber man glaubt es dieser tollen Truppe einfach. Bettina Schneider als Charlotte ist die Königin dieser Gratwanderung zwischen Klamauk und Klassik.

Moralphilosophie in Ganzkörperunterwäsche

Wie raffiniert das auf den ersten Blick vor allem auf Spielfreude und Buntheit (immer wieder auch im Sinne der Goetheschen Farbenlehre!) angelegte Konzept ist, zeigt sich deutlicher nach der Pause. Nun geschieht, was geschehen muss. Es wird tragisch, also ruhiger, und der ältere Herr hinter mir kann nun nicht nur besser sehen, weil sich die Reihen bereits etwas gelichtet haben, sondern bestimmt auch besser "hineinfinden". Charlotte hatte ein Kind bekommen, und ausgerechnet ihrer Nichte (und Rivalin) Ottilie fällt es versehentlich ins Wasser und ertrinkt. Mit dem Schock wechselt die Stimmung: Ab jetzt wird mehr mit dem Kopf gespielt und mit dem Jubilar Goethe zusammen überlegt, zu welchem Grade beispielsweise Moral und Schicksal verwandt sind. Plötzlich wirkt die Sprache Goethes, die ja auch vorher schon da war, präsent und durchaus pathetisch. Hat der Abend also auch das geleistet. Dass die vier nach dem Tod des Kindes nun sichtbar nachdenklichen Verliebten jetzt in einheitlicher, aber verschiedenfarbiger Ganzkörperunterwäsche agieren, ist entweder zu albern oder zu ambitioniert. Sei's drum.

Am Ende steht Goethe noch einmal selbst auf der Bühne und erzählt, wie sein Roman ausgeht und wie er ihn gemeint hat. Jetzt wird wieder gelacht, ganz wie im Sommertheater.

Ab September ist die Inszenierung am neuen theater in Halle zu sehen.

Wahlverwandtschaften
Nach dem Roman von Johann Wolfgang von Goethe
In einer Fassung von Henriette Hörnigk
Regie: Henriette Hörnigk, Bühne und Kostüme: Angela Baumgart, Sounddesign: Bernd Bradler, Musik: Ensemble, Dramaturgie: Ralf Meyer.
Mit: Alexander Pensel, Bettina Schneider, Alexander Gamnitzer, Sonja Isemer.
Länge: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.goethe-theater-bad-lauchstaedt.de
www.buehnen-halle.de/neues-theater

 


Kritikenrundschau

Als "Kammerspiel in Romanform" erscheint dieser Abend Joachim Lange in der Mitteldeutschen Zeiung (31.8.2015). "Darauf lassen sich Regisseurin Henriette Hörnigk und ihr fabelhaftes Quartett ein und bringen es gleichsam zu sich selbst: Dicht, mit Tempo und viel Witz, von heute aus, doch immer nahe an Goethes Diktion." Der Abend sehe mithin "auf eine sympathische Weise nach einer Melange aus Goethe und uns aus".

 

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