Sandmännchen ist abgebrannt

20. Januar 2023. Der Kinohit "Good Bye, Lenin!" ist schon 20 Jahre alt. Das Stück zum Film ist jetzt aber erstmals an einem ostdeutschen Theater zu sehen: In Meiningen erzählt Thomas Dannemann ihn als Nachdenken über den Umgang mit Vergangenheit.

Von Marlene Drexler

"Good Bye, Lenin!" in Meiningen © Christina Iberl

20. Januar 2023. Leichenblass liegt der Mann mit der Halbglatze und dem spitz zulaufenden Kinnbärtchen auf einer Matte am vorderen Bühnenrand. Plötzlich zuckt erst ein Finger, dann hebt sich eine Hand empor. Kurz darauf, wenngleich auch widerwillig, richtet sich der Körper auf. Über die Lautsprecher ertönen stakkatoartige Klänge, es ist der "Cold Song" von Henry Purcell. Der eben noch tote Mann singt: "Let me, let me, let me freeze again to death". Lass` mich wieder zu Tode frier'n.

Geschichte muss erinnert werden

So beginnt Thomas Dannemanns Inszenierung "Good Bye, Lenin" am Meininger Staatstheater. Der Mann, der dort zu seiner Auferstehung gezwungen wird, ist niemand geringeres als der Begründer der Sowjetunion: Wladimir Iljitsch Lenin (hinter der aufwendigen Maske verbirgt sich die Schauspielerin Emma Suthe). Und auch, wenn der kommunistische Revolutionär nicht zurück in die Vertikale will – er muss. Denn: Geschichte sollte erinnert werden. Und zwar die guten und die schlechten Dinge. Lenin verschwindet nach der Wiederauferstehung von der Bühne, aber die Aussage bleibt als starke, implizite Grundthese des Abends bestehen.

Passend zu einer Reise in die Vergangenheit ist das Inventar schon etwas in die Jahre gekommen. Die Bühne wird als Abrissbude präsentiert, deren Wände mit einer dicken Schicht grünem Schimmel bezogen sind. Monströs wirkende, verroste Stahlträger ragen aus den Wänden. Und apropos gespenstische Untote: Mitten im Raum steht eine Tür, die nirgendwo hinführt, dahinter nur unsichtbare Wände. Eine Attrappe, mehr Schein als Sein, die dennoch rege genutzt wird.

GoodByeLenin2 FotoChristinaIberlWenn eine alte Welt wieder aufersteht: Chor des EVG, Jan Wenglarz, Yannick Fischer, Pauline Gloger © Christina Iberl

Über zwanzig Jahre ist es mittlerweile her, dass der Film "Good Bye, Lenin!" mit Daniel Brühl und Katrin Sass in den Hauptrollen in die Kinos kam. Er entpuppte sich als Überraschungserfolg, stieß sowohl bei den Zuschauern als auch der Kritik auf großen Zuspruch. Das Theaterstück ist erst viele Jahre später entstanden. Geschrieben hat es 2021 Bernd Lichtenberg, der auch Drehbuchautor des Films ist. Nach Esslingen und Dinslaken ist das Stück in Meiningen jetzt das erste Mal auf einer ostdeutschen Bühne zu sehen.

Das richtige Leben im falschen?

Bei so einer berühmten Vorlage läuft auch eine Theateradaption Gefahr, mit dem filmischen Original verglichen zu werden und damit harter Konkurrenz ausgesetzt zu sein. Thomas Dannemann schafft es in seiner Meininger Inszenierung jedoch durch einen starken, eigenen Zugriff, neue Impulse zu setzen, so dass das Stück losgelöst vom Film für sich steht. Und das, obwohl die Figuren identisch und die Handlung bis auf kleinere Details dieselbe ist: Der Anfang zwanzigjährige Alex gaukelt seiner Mutter nach dem Mauerfall mit viel Aufwand vor, es gebe die DDR noch. Die Mutter, überzeugte Sozialistin, war zuvor ins Koma gefallen und ist laut der Ärzte nicht in der Lage, einen weiteren Schock zu überstehen. Alex baut daraufhin in ihrem Krankenzimmer eine neue alte Welt auf.

Anders als im Film wird die Geschichte nicht aus der Ich-Perspektive von Alex erzählt, vielmehr handelt es sich um ein Ensemblestück. Drei Nachbarn der Familie Kerner fungieren als Chronisten, die in Dia- und Monologen die Handlung vorantreiben. Das Publikum folgt Alex dabei, wie er alles dafür tut, dass seine nichts vom Mauerfall ahnende Mutter keinen zweiten Herzinfarkt bekommt. Er füllt die holländischen Sauren Gurken, die jetzt im Supermarktregal stehen, in alte Spreewaldgurken-Gläser. Er dreht neue Folgen der DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera". Und bezahlt ehemalige Jungpioniere für Gesangseinlagen. Dahinter steht auch sein Wunsch, dass das Lebenswerk der Mutter nicht durch die Wende zerstört oder entwertet wird. Seine parteitreue Mama habe einfach auch sehr "an das Gute im Sozialismus geglaubt", erklärt Alex. Aber kann man überhaupt ein falsches System unterstützt und trotzdem ein richtiges Leben gelebt haben?

Resonanzfelder für die großen Fragen

Gleichzeitig muss die Frage erlaubt sein: Wie kann man einfordern, Vergangenheit als grundfalsch zu brandmarken, wenn es doch das eigene Leben war? Das sind die Spannungsfelder, die der Abend nicht nur aufmacht, sondern für die er auch Resonanzräume schafft. Etwa, als eine ältere Dame (Gunnar Blume) auftritt, eine Art personifizierte Treuhand mit Friss-Oder-Stirb-Mentalität. In schriller Art und Weise beschimpft sie die Ostdeutschen gefühlt einige Minuten lang als unzulänglich und der freien Marktwirtschaft unfähig. Ein Auftritt, der die in vielerlei Hinsicht auch die rücksichtslose Angliederung Ostdeutschlands an den kapitalistischen Westen symbolisiert. Was auch nachhallt, ist eine Szene kurz nach dem Mauerfall mit einem überdimensional großen Sandmännchen. Die ostdeutsche Kultfigur hat das historische Ereignis offenbar überlebt, allerdings ist sie komplett ramponiert, voller Brand- und Platzwunden am ganzen Körper.

GoodByeLenin5ChristinaIberlDie alten Träume vor Ruinenkulisse: Jan Wenglarz, Pauline Gloger, Michael Schrodt, Michael Jeske © Christina Iberl

Spielerisch fehlt im Eifer des Gefechts immer mal wieder die Ruhe für langsamere Momente, in denen sich abseits des sprachlichen Inhalts etwas Größeres entwickelt. Jan Wenglarz verkörpert Alex mit Talent für schnelle, komische Szenen. Ernste Momente spielt er zum Teil zu sportlich weg, so dass keine Zeit bleibt, komplexe, innere Vorgänge wirklich nach außen zu transportieren. Auch von Evelyne Fuchs als Mutter hätte man neben der erschöpften, kurzatmigen und leicht hysterischen Kranken gerne noch ein paar mehr Facetten gesehen. Unterhaltsam als ungleiches Paar mit viel Temperament sind Pauline Gloger und Yannick Fischer als Alex' Schwester Ariane und deren neuer Freund Rainer. Rainer, der erste "Wessi", der in die Familie Kerner kommt, kann nicht mit viel Gehirn, dafür aber mit Föhnfriese punkten.

Als besondere Stärke des Abends bleibt am Ende die Brüchigkeit, die Thomas Dannemann schafft und die sich allem Schwarz-Weiß-Denken verwehrt. Gleichzeitig mahnt die Inszenierung auf unaufdringliche Weise, dass Erinnern, was war und bewusst machen, was ist, unser aller fortwährende Verantwortung ist.

Good Bye, Lenin!
von Bernd Lichtenberg
Nach dem Film von Wolfgang Becker und Bernd Lichtenberg
Regie: Thomas Dannemann, Bühne: Justus Saretz, Kostüme: Cornelia Kraske/Ariana Moll, Musik: Matthias Flake, Video: Andreas Klein, Dramaturgie: Katja Stoppa.
Mit: Jan Wenglarz, Pauline Gloger, Evelyn Fuchs, Gunnar Blume, Matthis Heinrich, Emma Suthe, Yannick Fischer, Christine Zart, Michael Jeske, Michael Schrodt, Matthias Herold, Kinder- und Jugendchor des Evangelischen Gymnasiums Meiningen.
Premiere am 19. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-meiningen.de

 Kritikenrundschau

Wolfgang Schilling attestiert im MDR Kultur (20.1.2024) eine "allzu wilde Hatz durch Texte und Situationen, bei der sich der Eindruck aufdrängt, dass Regie und Darsteller nicht immer beieinander waren". Es stehe alsbald die Frage im Raum, "ob die Zeit über diesen Stoff nicht hinweggegangen ist". "Fremdscham" und ein "mulmiges" Gefühl kamen dem Kritiker indes auf, "als das Publikum aufgefordert wurde, jetzt doch mal die vielleicht bessere Nationalhymne mitzusingen, die man sich 1990 ja hätte geben können – Brechts Kinderhymne". Zum Mitsingen allerdings habe die "beseelende Kraft dieses Theaterabends dann doch nicht gereicht".

"Man kann dem Theater nicht vorwerfen, dass es kein Kino ist, dass es die vielen schönen Bilder, mit denen der Sohn die imaginierte DDR für seine Mutter inszeniert, nicht wiederholen, nur manchmal zitieren kann. Aber vorwerfen kann man ihm, dass es so wenig mit dem arbeitet, was sein konstituierendes Element ist: mit der Möglichkeit des lebendigen Menschen, mit den Möglichkeiten der Darsteller", schreibt Henryk Goldberg in der Thüringer Allgemeinen Zeitung (22.1.2024). "Thomas Dannemann hält seine Leute zum mäßig flotten Lustspiel an, zu dem er die melancholische Tragikomödie herunter dimmt.“ Zu Beginn und am Ende habe der Abend "eine Höhe und ein Fragen". "Dazwischen hatte er: eine Nostalgie-Show ohne Seele."

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