In die Ecken der Vergangenheit

15. September 2023. Vergewaltigung, Abtreibung, Hausfrau und Mutter sein: Annie Ernaux ist für ihre Fähigkeit, weibliche Lebenserinnerungen zu Literatur zu machen, berühmt geworden. Stina Werenfels inszeniert einen Bühnentext, in dem vier Werke der Autorin zusammenlaufen – und lässt den Ungeheuerlichkeiten ihren Raum.

Von Valeria Heintges

"Ein Leben" nach Texten von Annie Ernaux an den Bühnen Bern © Annette Boutellier

15. September 2023. Jeanne Devos trägt eine von diesen Samthosen, denen man jede Berührung ansieht, weil der Stoff die Farbe zu ändern scheint, wenn die Fasern gegen den Strich gebürstet werden. Bei Devos' Modell sieht es zwischendurch so aus, als hätte sie sich die Knie befleckt. Dabei ist der Stoff dort nur durch zu ausgiebes Sich-hin-Knien glänzend geworden. Man kann das Modell vielleicht noch kaufen, aber nur Jeanne Devos' Exemplar hat diesen spezifischen, glänzenden Pseudofleck am Knie.

Ein Leben in vier Werken

Die Hose ist ein gutes Bild für das Leben der namenlosen Ich-Figur, von dem in "Ein Leben" in der Vidmar 1 der Bühnen Bern erzählt wird. Es ist das typische Leben einer Frau aus einfachsten, ärmlichen Verhältnissen, geboren in den 1940er-Jahren, aufgewachsen in Frankreich. Typisch – und doch ein spezifisches Leben, nämlich das von Annie Ernaux, das sie in den vier Werken "Die Jahre", "Erinnerung eines Mädchens", "Das Ereignis" und "Der junge Mann" vor den Leser:innen aufblättert. Ernaux, Nobelpreisträgerin von 2022, erzählt von ihrer Jugend vor dem Hintergrund des Algerienkrieges, ihrer Vergewaltigung in der "Ferienkolonie", von ihrer Abtreibung, ihrem Leben als Ehefrau und Mutter und ältere Frau, die sich endlich traut und Zeit findet, Schriftstellerin zu sein.

Stina Werenfels ist Filmerin, sie verfilmte etwa 2015 Lukas Bärfuss' Drama "Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" mit Victoria Schulz, Lars Eidinger und Jenny Schily, und 2006 den Spielfilm "Nachbeben". Die Handschrift der Filmerin ist ihrem Theaterdebüt in vielen Momenten anzumerken. Wenn zu Beginn, nach totalem Black, Nikola Weisse im Spotlicht steht, als ältere Schriftstellerin am Schreibtisch. Und dann in neuen Spots Isabelle Menke, Jeanne Devos und Genet Zegay als ihre jüngeren Alter Egos aus dem Dunkel auftauchen.

Ein Leben 3 1200 Annette Boutellier uDie Versionen eines Lebens: Jeanne Devos, Isabelle Menke, Genet Zegay © Annette Boutellier

Oder wenn einige der Spieler:innen am Tisch sitzen und zugleich der Tisch scheinbar verdoppelt von oben gefilmt wird, aber doch eine andere Szenerie zu sehen ist. Auch die Arbeit mit den Schauspieler:innen ist filmisch, wenn sie oft den Text bebildern; etwa von einer Frau sprechen, die wartet, und sich dafür abwartend hinstellen. Ein Klopfen erwähnen und dazu auf den Boden klopfen, einen Sturz beschreiben – und sich hinstürzen. Das wirkt, als misstraue jemand seinen eigenen Mitteln; eine Spannung erzeugt es jedenfalls nicht.

In der guten Stube

Genauso wenig wie die Tatsache, dass alle in beinahe jedem Moment ins Publikum sprechen und so keine Spannung zwischen den Figuren aufkommt. Auch das Bühnenbild von Magdalena Gut birgt nur mässige Überraschungen: Der Holzquader in der Mitte zeigt sein Eigenleben, wenn aus ihm unten links das Wohnzimmer, die sprichwörtliche "gute Stube", rechts ein weiteres Zimmer, später ein Bad herausgezogen werden. Monika Goerner-Vogt hat dazu die Akteur:innen in monochrome Kostümkombinationen gesteckt, die die biedere Mode der Erzählzeit spiegeln, aber ebenfalls etwas langweilig wirken. Erst als sich die alt gewordene Annie Ernaux als Schriftstellerin verwirklicht, zieht sie einen schwarzen Mantel über, der ihr ein bisschen Stil und Eigensinn verleiht. Auch die Musik von Joel Mathys entwickelt kein Eigenleben, unterstreicht nur die Stimmung der Szenen.

Unerbittlichkeit des Erzählens

So lässt der Berner Abend viel Raum, um die Ungeheuerlichkeiten der Ernauxschen Erzählung auszubreiten. Weil Armin Kerbers Fassung vier Romane in 110 Minuten packt, können die einzelnen Werke nicht für sich selbst wirken, sondern werden fast ein wenig oberflächlich, jedenfalls ereignisgetrieben abgehandelt. Annalisa Engheben etwa hat sich im Rangfoyer des Deutschen Schauspielhauses Hamburg lediglich "Das Ereignis" vorgenommen und wurde mit ihrer Arbeit, die zum Festival "Radikal Jung" eingeladen wurde, auch der Ernauxschen Schreibweise gerechter, ihrer soziologischen, sich selbst nicht schonenden Genauigkeit, ja: Unerbittlichkeit, mit der sie immer wieder neu auch in die unbequemen Ecken ihrer Vergangenheit leuchtet.

Ein Leben 4 1200 Annette Boutellier uTrautes Heim, Glück allein: Jan Maak, Jeanne Devos, Isabelle Menke © Annette Boutellier

Dass der Abend dennoch nicht abfällt, ist der Ungeheuerlichkeit der geschilderten Ereignisse und der guten Schauspielleistung vor allem von Jeanne Devos, Genet Zegay und Isabelle Menke zu verdanken. Sie teilen sich die Rollen zwar oft auf, geben die Sätze von einer zur anderen weiter. Aber doch spielt Zegay tendenziell die junge, ungestüme Annie aus "Erinnerung eines Mädchens", Devos die mit sich selbst gestrenge Annie der mittleren Jahre aus "Das Ereignis" und Menke die ältere, die das Leben auch zu genießen lernt aus "Der junge Mann". Jan Maak muss alle Männerfiguren (Vater, Vergewaltiger, Ärzte, Ehemann) meist unsympathisch spielen und ist kaum mehr ist als Stichwortgeber. Nikola Weisse steht als Schriftstellerin an ihrem Tisch, um Text aus "Die Jahre" zu sprechen. Warum sie dann plötzlich verschwindet und erst zum Ende wieder auftaucht, erschließt sich nicht recht. Sie hat – als Schriftstellerin – das letzte Wort mit ihrem Wunsch, "Etwas von der Zeit retten, in der wir nie wieder sein werden". Das jedenfalls ist ihr auch in Bern gelungen.

 

Ein Leben
Nach den Texten "Die Jahre", "Erinnerung eines Mädchens", "Das Ereignis" und "Der junge Mann" von Annie Ernaux
Regie: Stina Werenfels, Bühne: Magdalena Gut, Licht: Rolf Lehmann, Musik: Joel Mathys, Kostüme: Monika Görner-Vogt, Bearbeitung: Armin Kerber, Dramaturgie: Felicitas Zürcher.
Mit: Jeanne Devos, Jan Hensel, Jan Maak, Isabelle Menke, Genet Zegay, Nikola Weisse.
Premiere am 14. September 2023
Dauer: 1 Stunde, 50 Minuten, keine Pause

www.buehnenbern.ch