Wir Untoten vom Amt

3. Juni 2023. Christoph Marthaler entführt sein Basler Publikum an den Stadtrand nach Birsfelden, in eine alte Gemeindeverwaltung. Dort spuken die Telefone und Beamte hängen in der Zeitschlaufe fest. Gruselig und urkomisch. Aber nehmen Sie sich in Acht vor dem Archivar!

Von Claude Bühler

"Abteilung Leben" von Christoph Marthaler in Basel © Ingo Höhn

3. Juni 2023. Kein Applaus zum Ende dieses Marthalers. Warum auch? Was sich in der alten Gemeindeverwaltung Birsfelden, einem Vorort von Basel, in unserem Beisein abspielt, wird sich ganz bestimmt wiederholen, auch wenn kein Publikum da ist. Nachts, morgens, immerzu, im Dauerloop. Bis der Bagger irgendwann das Gemäuer endlich abreißt. So der bestimmende Eindruck eines Abends unter einer untoten Beamtenbelegschaft, deren Automatismen und Automaten ähnlich wie die Skulpturen Jean Tinguelys scheinbar ohne Anlass zappeln, hampeln, kreischen.

Wir erleben nur in Teilen eine Aufführung, wir begehen in Gruppen eine Installation: durch leere Büros, in denen Telefonhörer auf Bürotischen einen melancholischen Dialog führen ("Ich glaube, ich hörte Weinen..."), Frauen entseelt in Bürosesseln hängen oder über Ordnern liegen, in denen das Chaos aus Partyschlangen, Gläsern und Flaschen, Festgelächter ab Tape eine Belegschaftsfeier bis in die Unendlichkeit ziehen.

"Wir sitzen alle so fröhlich beisammen"

Eine Frau repetiert automatenhaft in den Telefonhörer: "Entschuldigen Sie bitte, mein Name beginnt mit B." Eine weitere Beamtin, so bieder gewandet, dass es weh tut, hält uns, immer wieder vom penetranten "Zsch" der Kaffeemaschine unterbrochen, einen Monolog: Ein fantastischer Untext aus amtlichen Formeln und PR-Floskeln, ohne Sinn und Rhythmus.

Ein Prinzip, das sich an diesem Abend öfters wiederholt. Denn Christoph Marthaler ist die Sprache als gültiges Kommunikationsmittel abhandengekommen, seine Abstraktion ist beim Zeichen angelangt. Reißen die Beamten ihre Bürotüren zur Wartehalle auf, stammeln alle nur Laute, irgendwas mit "E". Oder skandieren Wortverbindungen, "Zwangsräumung – Bandbreite – Geduldsfaden – Lastenausgleich", die sich in der Wiederholung wie Unsinn anhören. Dazu sondert ein Cellist hin und wieder dunkle Eruptionen ab, als wollte er uns sagen, dass in den steifgescheitelten Graugesichtern mit Hornbrille eingesperrtes Leben wuchert.

AbteilungLeben3 Ingo Hoehn uBeamten-Grusel mit Musik: das Ensemble des Theaters Basel spielt in einer alten Birsfeldener Gemeindeverwaltung © Ingo Höhn

Einer schreit laut nach "Rebekka", ein anderer lockt seinen Kollegen sechs Mal ins Büro, um ihm jedes Mal die Türe vor der Nase zuzuschlagen, ein dritter fällt mit einem riesigen Ordnerstapel flach auf den Boden, bleibt wie tot liegen, ein vierter steckt seine Geldscheine nur ein, um sie gleich wieder zu verlieren. Alle leben nur im eigenen Film, unentrinnbar in einer Schlaufe, wie ab Schaltuhr funktionierend.

Nur gelegentlich kommen sie zusammen, um vor einem Büro ein inbrünstiges "Happy Birthday" anzustimmen oder ein trauriges "Wir sitzen alle so fröhlich beisammen". Dazwischen schnarren absurde Durchrufe über die Hausanlage. Marthaler zelebriert virtuos die Unergründlichkeit der geheimen Vorgänge und Abläufe, die im Ganzen wie eine halbverborgene Musik komponiert wirken.

Der sinistere Archivar

Beunruhigend ist der Besuch beim Archivar, dem isolierten Eigenbrötler des Betriebs. In seiner Tasche hält er – wohl verbotenerweise – irgendein Tier, mit dem er zärtlich spricht. Die Insekten bekämpft er mit Sprühmittel, rattert Amtsbescheide aus der Archivapparatur herunter und beschimpft mit "Grrr"-Lauten das Bild des forsch ausschauenden Chefs. Dieser Untertanen-Typ erlebt auf einmal einen Bruch, erschreckt vom Klang der eigenen Stimme aus dem Archivkasten. Seine Sätze "Das ist falsch. Das ist Lauf der Dinge" erscheinen selbstbewusst – und arrogant gegenüber dem Leben.

Vieles an dem Abend erscheint bekannt aus Marthalers Repertoire: Der romantische Liedvortrag, das liebevoll inszenierte Scheitern des tapferen, aber beschränkten Subjekts am Objekt, gewisse Gags (Kastentür auf – Applaus ertönt aus dem Kasten – Kastentüre zu), die mehr zum Schmunzeln als zum Lachen anregen.

Unterschwelliger Schrecken

Neu ist der unterschwellige Schrecken, nicht nur beim Archivar, auch bei uns, den er hervorruft: Diese grotesk erscheinende, durchformatierte "Abteilung Leben" ist das Bild völliger Lebensvergeudung. Gelegentlich werden wir darin selbst zu Marthaler-Figuren unter den anderen. Das ist meisterhaft. Die komplexe, detailverliebte Durchführung, in der auch Musik oder Geräusche aus anderen Gebäudeteilen genau abgestimmt hereinklingen, erzeugt zuweilen den Eindruck eines Irrenhauses.

Da verschmerzt man die länglich geratene Monolog-Revue am Ende, die virtuose Textkomik bietet, aber kaum mehr einen substantiellen Beitrag leistet. Eine Parade vollbeladener Aktenwagen, die das Personal im Epilog durch den einstigen Parlamentssaal fährt – und sich darauf wie auf Rollatoren stützt –, bringt die Essenz dieses Marthalers nochmals auf den Punkt. Hingehen.

Abteilung Leben
von Christoph Marthaler und Ensemble
Inszenierung: Christoph Marthaler, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Sara Kittelmann, Musik: Martin Schütz, Lichtdesign: Mario Bubic, Ton: Arev Imer, Dramaturgie: Malte Ubenauf, Timon Jansen.
Mit: Jan Bluthardt, Karl-Heinz Brandt, Carina Braunschmidt, Raphael Clamer, Vera Flück, Martin Hug, Ueli Jäggi, Jacob Maison (Tasteninstrumente), Jörg Pohl, Martin Schütz (Cello), Gala Othero Winter.
Premiere am 2. Juni 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch


Kritikenrundschau

Dieser Marthaler-Abend mute "insgesamt zynischer an, noch bitterer und böser, als wir es von Marthaler kennen", sagt Andreas Klaeui im SRF (5.6.2023). "Sofern sich etwas bewegt, geschieht es in Zeitlupe und vorzugsweise zyklisch. Nur in der Musik geht manchmal ein Fenster auf: in eine andere, sinnvollere Welt. Auch das bringe der Abend zur Geltung, "in bitterer Schönheit: mit Stücken aus Schuberts 'Schöner Müllerin' und Wagners 'Siegfried', die näher betrachtet allerdings wenig Hoffnung zulassen".

"Die wahre Entdeckung des Theaterabends ist das Setting, konkret die Gemeindeverwaltung selber", schreibt Dominique Spirgi in der Aargauer Zeitung (5.6.2023). "In dieser bedienen sich Marthaler und sein Ensemble aus dem schrulligen Ideen- und Szenen-Fundus, den man als Vertrauter des Marthalerkosmos kennt." Da komme es zu witzigen und originellen Momenten. "Mit der Zeit ermüden die in Endlosschleifen vorgebrachten Skurrilitäten des Amtsalltags aber auch. Letztlich sehen wir uns lediglich austauschbaren Geistern von Beamtinnen und Beamten gegenüber."

Die "wehmütig-verblichene Atmosphäre" der ausgesonderten Amtsstube lobt Simon Strauß von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.6.2023). Als "sozialkritische Spitze" in dieser Ortsinspektionen werde über Lautsprecher die aktuelle Höhe der Bestechungssumme für Baugenehmigungen durchgegeben. "Und dann, wie immer bei Marthaler: plötzlich ein Lied." Die Träger der Ämter lebten in einer eigenen Welt, seien ihren Mitmenschen abhanden gekommen. "Der Amtsleiter schreitet durch die Tür, schmettert eine Arie aus Wagners 'Ring des Nibelungen' gegen die niedrige Bürodecke und endet mit den immergleichen Zeilen: 'Zwangvolle Plage / Müh’ ohne Zweck'. Keine schlechte Beschreibung des bürokratischen Frondienstes – vom Aktenfressen wird man nicht satt."

 

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