Chill mal!

21. Januar 2024. William Shakespeares letzte Komödie ist Aufklärungsmärchen und Kolonialdrama zugleich. In Zürich haben Moved by the Motion sie in eine nahe Zukunft versetzt. Ihren Zauber entfaltet sie auch hier.

Von Leonard Haverkamp

"Der Sturm" am Schauspielhaus Zürich © Inès Manai

21. Januar 2024. How many years can a mountain exist – bis er im Meer versinkt? In der jüngsten Shakespeare-Adaption im Züricher Schauspielhaus steht der Meeresspiegel bereits an der Spitze der Alpen. Übrig ist nur noch ein kleiner pyramidenförmiger Gipfel – Prosperos Insel, eine Drehbühne inklusive Bunker, auf der vielleicht eine Handvoll Menschen Platz haben. Darauf streckt sich der vertriebene Herzog von MilanX (Sebastian Rudolph) in verschiedenen Yogaposen, während seine Tochter Miranda (Yèinou Avognon) unbeeindruckt auf ihrem Handy herumtippt. Vater und Tochter scheinen nicht mehr gemein zu haben als ihr targaryen-weißes Haar. Er trägt dunkelblaue Seide, sie Jeans auf Jeans. Während Prospero einen grünen Smoothie runterkippt und endlich die Bauchmuskeln unter einem Morgenmantel bedeckt, offenbart er seiner Tochter die für ihn so prägende Geschichte seiner Vertreibung aus dem Herzogtum. Obwohl es die Worte Shakespeares sind, wirkt der Vater-Tochter-Konflikt erstaunlich vertraut.

Wo die KI den Sturm entfacht

Das liegt daran, dass die Theatergruppe Moved by Motion um die Künstler*innen Wu Tsang, Tosh Basco, Josh Johnson und Asma Maroof den Stoff ins Jetzt holt. Vielmehr noch nimmt sie uns mit in eine post-apokalyptische Zukunft, die heute näher scheint als William Shakespeares mutmaßlicher Abgang von der Theaterbühne (Fassung: Sophia Al-Maria). 

Statt eines Luftgeistes ist Ariel hier eine KI, die einen großen Teil der Zauberkraft Prosperos ausmacht. Manchmal spukt sie um die Insel herum oder auf den daneben heruntergelassenen Leinwänden; die meiste Zeit manifestiert sie sich im Körper von Darstellerin Tabita Johannes, in silbernem Anzug, mit eisig blauem Blick und Blechfilter auf der Stimme. Nichtsdestotrotz hat Ariel wie befohlen einen Sturm entfacht, um die alten Widersacher*innen ihres Meisters an dessen Küste zu spülen.

ChatGPT verleiht dem Unterdrückten eine Stimme

Auf der Insel tummeln sich jetzt also immer wieder Alonso (Steven Sowah), König von Napple (nicht Neapel), Bruder Sebastian (Kay Kysela), Sohn Ferdinand (Sasha Melroch) und der getreue Berater des Königs Gonzalo (Max Reichert). Mit dabei ist auch Antonia (nicht Antonio; gespielt von Marie Goyette), Prosperos Schwester, die gegen ihren Bruder intrigiert und ihn um sein Herzogtum gebracht hat (was sie später auch Königsbruder Sebastian rät). Früh von den anderen getrennt, trifft Ferdinand Miranda – der Beginn einer Lovestory. Auch wenn Prospero in die Liaison seiner Tochter einwilligt, bewahrt dies Ferdinand wie auch keinen anderen Charakter davor, Teil des Marionettenspiels des Zauberers zu werden – der seine Insel fest im Griff hat.

DERSTURM InesManai 1Bergspitze? Alpenbunker? Überlebende auf einer einsamen Insel: Kay Kysela, Yéinou Avognon, Sebastian Rudolph © Inès Manai

Neben dem scheinbar allmächtigen KI-Geist hat Prospero noch Caliban (Thomas Wodianka) zu seinem Sklaven gemacht. Er ist Sohn der Ureinwohnerin und Hexe Sycorax, die bei Shakespeare keine Figur oder Stimme bekommt, dafür von Moved by the Motion aber einen Prolog als Hommage an postkoloniale Lesarten des Stückes (weil ein fünfhebiger Jambus schwer ist "und es sich respektlos anfühlte, aus einer historisch unterdrückten und ausgelöschten Perspektive zu sprechen", hat den ChatGPT verfasst).

Die Jungen verschwören sich gegen den Alten

Ansonsten bleibt der Abend in der Übertragung der Dramatikerin Gerhild Steinbuch recht nah am Originaltext. Mal wird er fast emsig vorgetragen, wie von Rudolph’s Prospero, der einen Hauch Globe Theatre verbreitet. Mal mit ein bisschen mehr Eigenheit versehen, was im besten Sinne beiläufig dahingesagt wirkt und erfrischend wenig Ehrfurcht versprüht. Ab und zu wird Shakespears Poesie dann auch um ein "chill mal" erweitert. Auch in der Handlung gibt es kleine Abweichungen – in der Adaption von Sophia Al-Maria sind es Miranda und Ferdinand, die sich mit dem unglückseligen Caliban gegen Prospero verschwören (wobei Ferdinand schnell einwendet, dass er das Original eigentlich besser findet).

Letztlich findet die Inszenierung eine stimmige Balance zwischen dem Sich-Verhalten zum Klassiker aus heutiger Perspektive und dem Herausarbeiten von dessen Qualitäten. Trotz aller Gegenwartsbezüge dürften sich Shakespeare-Liebhaber*innen durchaus ernst genommen fühlen. Der Abend macht Spaß, auch weil Moved by the Motions die Spielenden zum Glänzen bringt. Den Erfahrenen, allen voran Sebastian Rudolph, merkt man die Lust am Text an. Gleichzeitig darf sich Yèinou Avognon von der Rolle der hörigen Tochter freispielen, und einem "Mehr zu wissen, kam nie mir in den Sinn" einen eher ironischen als naiven Unterton geben. Wenn sie am Ende die "schöne neue Welt, die solche Leute hat!" ausruft, könnten auch ihre Mitspielenden gemeint sein. Obwohl die Klimakrise in dieser Inszenierung bereits voll durchschlägt, kann man sich auch in der Climate-Fiction-Apokalypse noch aussöhnen. 

DERSTURM InesManai 4Die im Schatten, die im Licht: Thomas Wodianka, Yeinou Avognon, Sasha Melroch, Sebastian Rudolph © Inès Manai

Einen Tag nach dem Züricher Publikumsgipfel, bei dem die scheidenden Intendanten Stemann und von Blomberg noch einige Highlights für den Rest der Spielzeit angekündigt hatten, haben Moved by the Motion geliefert. Vielleicht lassen sich die Wogen gegen Ende der viel diskutierten Intendanz ja doch noch etwas glätten.

Der Sturm
nach William Shakespeare, in einer Fassung von Sophia Al-Maria
Deutsche Bühnenfassung von Gerhild Steinbuch
Artistic Direction: Moved by the Motion, Inszenierung: Wu Tsang, Movement Direction: Tosh Basco, Choreografie: Josh Johnson, Musikalische Leitung: Asma Maroof, Musik: Tapiwa Svosve / Miao Zhao / Ahya Simone, Text / Fassung: Sophia Al-Maria, Bühnenbild: Nicole Hoesli / Nina Mader, Kostümbild: Kyle Luu, A.I. Video Design: Pierre Zandrowicz, Maske: Sara Mathiasson, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Helena Eckert.
Mit: Yèinou Avognon, Marie Goyette, Tabita Johannes, Kay Kysela, Sasha Melroch, Maximilian Reichert, Sebastian Rudolph, Steven Sowah, Thomas Wodianka.
Premiere am 20. Januar 2024
Dauer 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch

Kritikenrundschau

"In der beinahe dreistündigen Aufführung entfaltet sich eine unbändige Lust an der Fantasie, an opulenten Regenvisionen, an den Figuren mit ihren fiesen, ihren versöhnlichen und, ja, ihren komischen Seiten", so Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (22.1.2024). Moved by the Motion hätten sich hier fürs Gefallen, fürs Entertainment entschieden. "Wu Tsang und ihr diverses Ensemble haben sich und uns einen flirrenden Winternachtstraum gegönnt."

Man schaue dem "Treiben in diesem langfädigen Stück oft etwas ratlos zu", schreibt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (21.1.2024). Wu Tsangs Ziel scheine es gewesen zu sein, ihren Shakespeare gegenwärtigen Sensibilitäten und Interessen angepasst zu haben. "Aber weder im Stück selbst noch in der multimedialen Inszenierung, die oft mit Videoprojektionen arbeitet, finden sich zündende Ideen oder mitreissende Motive." So kalt einen die Chemie menschlicher Beziehungen lasse, so sehr fasziniere immerhin die Konstruktion der Bühne.

Kommentar schreiben