Alles auf Distanz

26. November 2023. Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffigkeit, MeToo sind die Themen in Virginie Despentes' "Liebes Arschloch". Regisseurin Yana Ross hat den Mail-Brief-Roman, in dem die Figuren kein Blatt vor den Mund nehmen, nun im Zürcher Pfauen inszeniert – und papieren gehalten. 

Von Valeria Heintges

Virginie Despentes' "Liebes Arschloch" von Yana Ross am Schauspielhaus Zürich inszeniert © Gina Folly

26. November 2023. Sie stehen im Dunkeln, und sprechen als vereinzelte Stimmen aus dem Internet. Zoé betreibt einen feministischen Blog, hat aber bisher keine Namen genannt. Jetzt beschuldigt sie Oscar Jayack des Missbrauchs. Oscar Jayack beschimpft in einem Instagram-Post die Schauspielerin Rebecca Latté als alte Frau am Ende ihrer Karriere. Die wehrt sich wütend, ebenfalls unter der Gürtellinie.

Dann trauen sich Oscar und Rebecca aus dem Dunkel. Er gesteht ihr, dass sie sich von früher kennen: Sie war die Freundin seiner Schwester, er ihr ewiger Bewunderer. Ist es auch heute noch, da sie es längst zur gefeierten Schauspielerin gebracht hat und er zum bekannten Schriftsteller. Aber sie ist jenseits der 50 und bekommt kaum noch Rollen. Er hat eine Schreibblockade und einen Shitstorm am Hals. Zoés Vorwürfe, er habe vor zehn Jahren übelst gemobbt, leugnet er vehement.

Ungetüme in Watte gebettet

Rebecca und Oscar geben sich wenig, aber sie nähern sich an, trauen sich aus dem Dunkel. Vorher aber wappnen sie sich in der Uraufführungsinszenierung von Virginie Despentes' "Liebes Arschloch" am Zürcher Pfauen mit Kleiderschichten, mit Watte, Falten, Rüschen. Die oberste Schicht: Ein Harnisch aus Plastik, bei ihm inklusive anhängendem Penis. Alles orange, denn das ist die Farbe der Kampagne gegen Gewalt an Frauen (Kostüme: Zane Pihlström). Matthias Neukirch verschwindet zusätzlich in einem orangen, wurmartigen Plüschgebilde, und Karin Pfammatters Unterleib wird von drei riesigen Ringen bedeckt, die das Licht spiegeln und einen Pseudo-Einblick in ihr Inneres ermöglichen.

In Plüsch-Kostümen: Karin Pfammatter und Matthias Neukirch in "Liebes Aschloch" © Gina Folly

Sie nähern sich langsam an: Er liest einen Teil ihres Texts, sie liest einen Teil des seinigen. Und langsam legen sie die Schichten ab, bis sie im superkurzen Kleidchen dasteht, und er in orangener Hose und ebensolchem Hemd. Bis eine echte Unterhaltung möglich ist. Und er gesteht, dass er Zoé, die einst Praktikantin in seinem Verlag war, mit Mails bombardierte. Und bis sie beide nach langen Drogenbiographien bei den Narcotics Anonymous landen. Weil er Alkoholiker war, und sie immer Drogen nahm, meist Heroin.

Muster eines Missbrauchs

Virginie Despentes' gefeierter Roman ist durchweg in Mailform gehalten, die sich Oscar und Rebecca nicht zuletzt während des Corona-Lockdowns schicken. Die Mails werden immer wieder unterbrochen von Zoés Blogbeiträgen, in denen sie Oscar öffentlich beschimpft und ansonsten versucht, endlich ein normales Leben zu führen. Es gelingt ihr nur mit Rückschlägen.

Despentes hat keine direkte Begegnung von Rebecca und Oscar, keine Dialoge geschrieben, deshalb verweigert sich der Roman jedem wirklichen Miteinander. Dramaturgin Katinka Deecke (die im Programmheft schreibt, dass das Zürcher Publikum Yana Ross nicht verstanden habe) und Benjamin von Blomberg bleiben in ihrer Uraufführungsfassung sprachlich wörtlich bei Despentes' letztlich untheatralischer Vorlage. Sie verleugnen die Briefform zunächst nicht, versuchen aber bald, sich von ihr zu emanzipieren.

Doch wirkt die Uraufführung über weite Strecken sehr papieren. Auch weil die Zürcher Fassung das 330-Seiten-Werk in anderthalb Theaterstunden quetscht. Da geht viel verloren; man versteht etwa nicht, warum sich Oscar und Rebecca erst übelst beschimpfen, sich aber trotzdem weiterschreiben und fast Freunde sind. Oder welche Rolle Oscars Schwester Corinne spielt. Der Lockdown, die Auseinandersetzung mit der ärmlichen Abstammung in der Provinz, Rebeccas Karriere als Schauspielerin – das alles fällt in Zürich hintenüber.

Feministisches Manifest

Denn Regisseurin Yana Ross interessiert sich vor allem für die feministischen Seiten des Werks, den Machtmissbrauch der Männer, die Flucht aller in die Drogen. Zentrale Themen natürlich, keine Frage, doch beraubt seiner Seitenstränge bleibt vom Roman mehr ein politisch-behauptetes Manifest als ein überzeugender Theaterabend übrig.

Die stärkste Szene ist denn auch prompt, als Zoé darüber sinniert, dass die Frauen in ihrem Kampf "ziemlich großmütig" seien. Schließlich würden männliche Wesen nicht abgetrieben, nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nicht vom Bildungssektor ausgeschlossen, nicht auf der Straße getötet. Undsoweiter und so weiter. Die Passage ist nicht kurz, doch von jedem einzelnen Aspekt lässt sich sagen: Männer hingegen machten oder machen mit Frauen genau das.

Die im Dunkeln: Matthias Neukirch in "Liebes Arschloch", im Hintergrund Madga Drozd © Gina Folly

In diesem Theoriekonstrukt kämpfen Karin Pfammatter und Matthias Neukirch wacker darum, aus ihren Rollen Charaktere zu stricken. Karin Pfammatters Rebecca ist stark angelegt, zeigt aber immer wieder Schwäche und hat auch keine Scheu, die Blessuren zu benennen, die ihr von Kindheit an zugefügt wurden. Neukirch balanciert gut zwischen Macho-Mann und verlorener Seele, zwischen großen Sprüchen und tiefer Einsamkeit. Doch ist auch das Zusammenspiel von der Tatsache geprägt, dass sie faktisch nicht zusammenkommen.

Magda Drozd muss den Abend mit Musik unterlegen und gleichzeitig Zoé verkörpern. Warum sie den Eingangstext so hölzern vorträgt (obwohl sie es viel besser kann, wie sie später beweist) und den zweiten Beitrag unverständlich, dafür aber laut herausschreit, bleibt ein Geheimnis zwischen ihr und dem Regieteam. Dafür verwandelt sich der Abend zwischenzeitlich in eine Disko samt Modenschau, wenn Kate-Perry- oder Billy-Eilish-Songs beinahe in Gänze ausgespielt werden und die Akteure in immer neuen orangen Kleidervarianten auftreten. All das ist letztlich viel Aufwand für wenig Kern.

 

Liebes Arschloch
nach Virginie Despentes
Übersetzt von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis
Inszenierung: Yana Ross, Live-Musik/Musik: Magda Drozd, Kostümbild: Zane Pihlström, Licht: Frank Bittermann, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Matthias Neukirch, Karin Pfammatter, Magda Drozd.
Premiere am 25. November 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Yana Ross gehe das #MeToo-Thema diesmal anders an, "spielerischer, abstrakter, mit viel Lust am Symbolischen", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (27.11.2023). "Karin Pfammatter und Matthias Neukirch tragen praktisch durchweg Orange." Die Inszenierung verstehe sich sozusagen als Beitrag zur UNO-Women-Kampagne "Orange the World". Aber die Bissigkeit der "Vernon Subutex-Trilogie" fehle dem Stoff, bei aller Gegenwartskritik. Fazit: "Das Duo Neukirch/Pfammatter bricht den schweren Symbolismus, die laute Konzepthaftigkeit mit seinem leichtfüssigen, flottmündigen Spiel. Da geht man mit. Man könnte auch sagen: Die beiden retten den Abend."

"Die reduzierte Bühne tut gut und gibt den explosiven Themen den Platz, den sie brauchen", so Leonie C. Wagner in der Neuen Zürcher Zeitung (27.11.2023). Die Kostüme stünden auch für die Rollen, die hier verhandelt werden. "Rebecca gürtet sich den idealen Frauenoberkörper um: flacher Bauch und volle Brust. Oscar hampelt wie eine Marionette in einem riesigen Jackett mit breiten Schultern, Waschbrettbauch und Penis." Antworten gibe das Stück keine. "Dafür aber Hoffnung. Denn allen Konflikten zum Trotz reisst das Band der Freundschaft zwischen Oscar und Rebecca nicht."

Auch die Figuren in in der Inszenierung bleiben in einer vorlesenden Haltung, in einem vermittelten Dialog, so Andreas Klaeui im SRF2 Kultur (27.11.2023). Sie symbolisieren typisierte Haltungen. "Das ist von der Regisseurin Yana Ross klug gedacht, kommt aber auf der Bühne nicht so ganz in Fahrt." Die rauschhafte Dimension des Romans komme zu kurz. "Gleichwohl ist der Inhalt, der hier mit großem Engagement vermittelt wird, immer noch nur allzu aktuell."

Die geteilte Sucht werde zu einer tieferen Verbindung zwischen den beiden, so Salomé Meier in der FAZ (14.12.2023). "Schauspielerische Glanzmomente, in denen der Stolz von Rebecca und Oscar anderen Gefühlen weicht: der Scham, der Einsamkeit, der Verletzlichkeit." Dramaturgisch gesehen zeige das Stück seine Tücken, die nicht zuletzt in der Anlage selbst liegen. "Denn wie inszeniert man einen knapp dreihundert Seiten starken Mail-Brief-Roman, in dem sich die Figuren nie begegnen? Vieles ist bei der Raffung verloren gegangen." 

 

 

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