Learning from Bitterfeld

28. September 2022. Mit dem "Bitterfelder Weg" wollte die DDR Künstler und Arbeiterschaft zusammenschweißen. Warum es lohnt, das Programm heute wieder neu zu beleben und Kultur in randständigen Gebieten zu reaktivieren.

Gastbeitrag von Aljoscha Begrich

28. September 2022. Die Zeiten sind undurchsichtig, aber es ist ziemlich klar, dass business as usual auch in den Theatern nicht länger funktionieren wird. Die Häuser und Festivals reagieren programmatisch und künstlerisch auf die aktuelle multiple Krisensituation sehr unterschiedlich. Aber überall ist die Angst vor sinkenden Publikumszahlen zu spüren und der Schwund in den Sälen schon zu sehen. Dass niemand mehr ins Theater will, wenn seine Welt sich gerade neu ordnet und der Alltag schon voller Tragödie, Komödie und Farce steckt, war bereits nach dem Mauerfall 1990 zu erfahren. Aber bevor ein Theatersterben wie in den 1990ern einsetzt, sollten die Theater ihre großen Qualitäten als Raum von Begegnung, Öffnung und Realitätsverständnis ausspielen und eine neue Beziehung zum Publikum entwickeln.

Vielleicht ein Moment, um vom Osten zu lernen? Radikaler Strukturwandel und das Leben im Umbruch, im permanenten Neuerfinden wurden hier in den letzten Jahrzehnten schmerzhaft geprobt und erlernt. An kaum einem Ort vielleicht so stark wie in Bitterfeld, dem einstigen Zentrum der DDR-Chemieindustrie. Dort sind zwar die Erfolge der Renaturierung sichtbar (und riechbar). Doch Tausende Menschen waren immer wieder zum Neuanfang gezwungen und Quadratkilometer vertrauerter Architektur wurden abgetragen. Ein Ort, an dem auch die Kultur, die den Alltag prägte, dann ganz verschwand. Mittendrin stand einst der ehemalige Kulturpalast "Wilhelm Pieck", stolzer Prachtbau der DDR mit über 1000 Plätzen, in den 1950er Jahren von 5000 Arbeiter:innen inmitten des Chemiekombinats errichtet. Heute steht der strahlende Palast umgeben von Wiesen außerhalb des Stadtzentrums und ist seit zehn Jahren geschlossen.

Die Zeit der Arbeiter-Dichter:innen

Beim Festival OSTEN im Sommer dieses Jahres wurde versucht, diesen Ort zu reaktivieren. Erklärtes Ziel des Festivals war, Anlass der Begegnung und des Austausches zu werden, Räume über vertraute Wohlfühlbubbles hinweg zu öffnen und den Zustand des Ostens heute von möglichst unterschiedlichen Seiten zu betrachten und zu befragen. Wenn wir uns unsere Narben nicht zeigen, werden wir nicht lernen uns zu verstehen, hatte Steffen Mau so treffend in "Lütten Klein" geschrieben. Tatsächlich kamen sehr viele und sehr unterschiedliche Menschen zu diesem Festival. Und die Verflechtungen wuchsen jeden Tag ein bisschen mehr wie die Wimpelkette auf dem Platz – bis am letzten Tag über 200 Bitterfelder:innen mit Kaffee und Kuchen kamen, um sich von ihrem Festival zu verabschieden.

Wenn es fuer alle 805 Falk Wenzel u"Frage des Tages: Wenn es für alle nicht reichen wird, dann wenigstens für uns?" Gespräch im Festivalzentrum am Kulturpalast © Falk Wenzel

Dieser umwerfende Erfolg hat sicher auch historische Gründe: 1959 fand im Kulturpalast die Bitterfelder Konferenz statt, auf der SED-Parteifunktionäre den "Bitterfelder Weg" als Leitlinie der DDR-Kulturpolitik ausgaben. Dahinter stand der Versuch, die unsichtbare Grenze zwischen Intellektuellen und Arbeiter:innen, zwischen Kultur und Industrie aufzuheben. Arbeiter:innen sollten in ihrer Freizeit zu Künstler:innen werden, Künstler:innen sollten in Betrieben arbeiten, um dort Erfahrungen und Anregungen zu sammeln. Wenig später wurde die Idee wieder aufgegeben. Die Arbeiter:innen schufen nicht die erwartete heroische Kunst und die Intellektuellen beschrieben die Arbeitserfahrungen teilweise so schonungslos, dass ihre Werke unter Verschluss gehalten wurden.

Beispielhaft sei nur das Schicksal von Werner Bräunig genannt, dessen Aufruf "Greif zur Feder, Kumpel!" zum Leit-Slogan des Bitterfelder Wegs wurde. Sein Roman "Rummelplatz" jedoch samt seiner Schilderungen der Arbeitsrealität im Uranabbau der DDR wurde als "Beleidigung der Werktätigen" beschimpft und konnte erst 2007 erscheinen. Der Bitterfelder Weg galt seitdem als ideologisch vernagelter und gescheiterter Versuch der frühen DDR, Kunst und Bevölkerung einander anzunähern – ein Weg, den man dann eher mied und der so verwilderte, bis er dann langsam verschwand.

Der neue Bitterfelder Weg

Doch angesichts zunehmender Sprachlosigkeit, Lagerverhärtung und Verständnislosigkeit in der heutigen Gesellschaft stellt sich die Frage, ob nicht Teilstrecken des Bitterfelder Wegs neu belebt und produktiv hinterfragt werden könnten. Wenn man den ideologischen Überbau der damaligen Zeit beiseite schiebt, wird ein Konzept sichtbar, das heute, mit Bourdieu und Ernaux gelesen, Lebenswelten über Klassengrenzen hinweg zu öffnen versucht und Werkzeuge für intersektionale Begegnungen und gesellschaftliche Teilhabe bietet.

Wie könnte ein Bitterfelder Weg 2.0 aussehen? Und wo könnte er hilfreich sein? Viele Künstler:innen arbeiten mit sozialer Praxis und Partizipation, doch welche Menschen werden da wie eingebunden? Im Gegensatz zu den meisten Orten der einstigen DDR lebten in Bitterfeld viele der damals gegründeten ursprünglich fast hundert Zirkel bis zum Ende der DDR fort. Dort zeichneten, schrieben, sangen, tanzten und musizierten Menschen unter professioneller Anleitung; einige wenige sogar bis heute. Und diese gelebte Erfahrung der Bewohner:innen ermöglichte es im Sommer, an Formen von Austausch und Begegnung anzuknüpfen. Ist es vielerorts sehr schwer, Menschen jenseits der eigenen Bubble und Klasse zu erreichen, war es in Bitterfeld spürbar leichter, Offenheit zu finden und Vertrauen zu entwickeln.

In einem langen Vorlauf wurde eine Beziehung zur Stadt und ihren Bewohner:innen erarbeitet. Jedes Werk, jedes Gespräch, jede Performance wurde in der lokal konkreten Auseinandersetzung entwickelt und dadurch auch immer schon im Kontakt mit und oft unter Beteiligung lokaler Menschen. Den aus New York stammenden Komponisten und Musiker Ari Benjamin Meyers beispielsweise inspirierten der Ansatz des Bitterfelder Weges und die Frage “Wer lernt von wem?” zu der Idee, dass junge Musikschüler:innen älteren Menschen ein Musikinstrument beibringen könnten, um dann gemeinsam ein Werkorchester zu gründen. Über ein Jahr lang trafen unterschiedliche Menschen und Erfahrungen aufeinander, sie erlernten neue Abhängigkeiten und Techniken, hörten zu – und wuchsen gemeinsam. Aus den musikalischen und sozialen Ergebnissen schuf Meyers eine Inszenierung, die auf dem Festival aufgeführt wurde. Diese Mischung aus Uraufführung neuer Musik und Mitmachtheater schuf eine Kontaktbasis für Publikum, die sich ins Festival verlängerte.

Morning Club Buchstabenperform 805 Falk Wenzel u"Morning Club: Buchstabenperformance", eine Produktion von Cécile Belmont © Falk Wenzel

Zu unverhofften und ungeplanten Begegnungen verhalf aber auch die Architektur von Benjamin Foerster Baldenius von Raumlabor Berlin, der mit Jan Schlake und Christian Göthner einen Schubkarrenparcours durch das Gebäude legte. Das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein beim Transportieren der Karre die Treppen in den zweiten Stock hinauf bis zur Rampe auf dem Balkon, wo sie herabgestoßen werden konnten, führte zwangsläufig zur Interaktion. Und so entstand ein Austausch, bei dem hippe Studierende aus Halle und ehemalige Arbeiter:innen, die die Ecken des Gebäudes noch aus ihrer Jugend kannten, ins Gespräch kamen. Die willkürlich gebildeten Schubkarrenteams mussten sich aber auch über den Rhythmus der Fortbewegung durch die Ausstellung einigen: Bleiben wir noch bei der Murmelbahn der Schüler:innen aus Wolfen oder gehen wir schon zur Installation von Tobias Zielony?

Während des Festivals gab es eine Menge dieser eher kleinteiligen Formate wie Workshops, Ausflüge mit eine:r Künstler:in und einer lokalen Expert:in oder den sogenannten "Morning Club", bei dem täglich ein:e Künstler:in den Tag mit einer Aktion am Goitzschesee begann. Zu all diesen Aktionen zwischen Synchronschwimmen, Sandburgbau, Radausflügen zu Müllkippen oder gemalten Mosaiken in Industrieruinen, Spaziergängen in Schrebergärten oder Blickübungen in die Bergbaufolgelandschaft kamen nicht nur Studierende und Großstadtgäste, sondern auch lokale Bewohner:innen und Besucher:innen. Oft waren es kleine Gruppen, aber die künstlerische und theatrale Intervention war fast immer Anlass zu Begegnung und Gespräch zwischen Besucher:innen und Bewohner:innen.

In der Tradition der Zeichenzirkel des VEB Steinkohlekraftwerk

Bei einem Workshop von Henrike Naumann beispielsweise fand sich eine überraschende Schnittmenge von Menschen zusammen: Die heute in Düsseldorf, Kyjiv und New York ausstellende Künstlerin hatte selbst in einem der Zirkel ihres Großvaters zeichnen gelernt. Karl Heinz Jacob leitete fast 30 Jahre lang den Zeichenzirkel im VEB Steinkohlewerk Martin Hopp in Zwickau. Beim OSTEN Festival stellte Henrike Naumann keine ihrer großräumigen Möbelinstallationen aus, sondern schlug vor, selbst einen Zeichenzirkel anzubieten. Die Künstlerin lud dazu ein, das Interieur des Hotels "Bitterfelder Hof" zu porträtieren, das im Möbeldesign der 1990er Jahre über die Zeiten nach der Wende, Strukturwandel, Orientierungslosigkeit und Gewalt erzählen kann. Die Vorstellungsrunde zeigte, wer gekommen war: eine junge Abiturientin aus Wolfen, zwei Studierende der HGB aus Leipzig, vier ältere Frauen aus Bitterfeld mit 30 Jahren Malzirkelerfahrung, ein Psychologe mit Migrationshintergrund aus Berlin und eine über 70-jährige Rentnerin aus Stuttgart.

All diese Formate sind keine Neuerfindungen. Ich habe vieles schon bei vielen Festivals erleben dürfen, aber in Bitterfeld waren sie kein Rahmenprogramm unter sonstigem, sondern das zentrale Ereignis und inhaltlicher Glutkern des gesamten Festivals. Vielleicht gelang deshalb der Austausch und damit das gesamte Festival so gut? Wie oft hatte ich zuvor gehört, dass das sogenannte "Kerngeschäft" (die Ensemble-Inszenierungen auf der großen Bühne) vorgeht, dass zuerst die großen Produktionen gesetzt werden müssen und dann diese Formate "nice to have" seien, nettes Beiwerk, das im besten Fall dazu führen kann, etwas mehr Aufmerksamkeit zu erwirken, aber als Ziel immer haben sollte, die Menschen in den großen Zuschauerraum zu bringen. Was aber, wenn der volle Zuschauerraum gar nicht das eigentliche Maß für Erfolg ist, sondern Form und Intensität der Beziehungen?

Impression Wimpel 805 Anna Kolata uAnwachsende Wimpelkette am Festivalzentrum © Anna Kolata

In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben die Theaterschaffenden selbst und später auch die Kulturpolitk angefangen, die Menge der Zuschauer:innen als Maßstab für Erfolg auszulegen. 90.000 statt 80.000. Einfach zu zählen, super zu vergleichen – für jeden nachvollziehbar. Und leicht umzusetzen und zu erreichen: ein bisschen Ibsen hier, ein wenig Shakespeare dort, plus zwei, drei Stars in den Hauptrollen – und fertig ist das Intendant:innenglück. Und das der Politik, die teilweise sogar Leistungsziele mit Zuschauerzahlen in Verträge schreiben lässt. Nach dieser Logik aber müssten die Rammstein-Konzerte der jetzigen Tour als die erfolgreichste Schauspielinszenierung aller Zeit gelten, sahen dieses doch schon nach nur 50 Vorstellungen mehr die 3 Millionen Zuschauer, die sämtliche Schauspielhäuser in Deutschland pro Jahr erreichen – und das ganze ohne staatliche Zuschüsse aus Steuereinnahmen.

Doch Sinn und Auftrag von staatlich gefördertem Theater bestehen meines Erachtens gerade nicht darin, große Massen von Menschen zu erreichen (da wären die so großspurig genannten Zahlen ja ohnehin lächerlich und die Förderung schlecht investiertes Geld). Vielmehr erhalten Theater per Kulturauftrag das Geld doch dafür, Dinge zu entwickeln und zu präsentieren, die anders (etwa nach ökonomischen Kriterien) keine Rechtfertigung fänden und nie realisiert werden könnten. Sollten sie deshalb nicht lieber experimentieren, provozieren, ausloten, versuchen, um, ja, was eigentlich? zu unterhalten? zu bilden? zu hinterfragen?

Gradmesser Erfahrungstiefe

Wahrscheinlich alles davon. In einer bisher nicht endgültig definierbaren Mischung. In jedem Fall sollte der Gradmesser von Erfolg aber nicht die Menge der Zuschauenden, sondern ihre Erfahrungstiefe sein. Dazu sollten die Theater vielleicht als erstes einmal die kalkulierten Publikumszahlen (und Einnahmen durch Eintrittskarten) auf null setzen. So kann jede:r einzelne Zuschauende als Erfolg gewertet werden. Als Zweites müssen die Theater weiter über die Form ihrer Beziehung zum Publikum nachdenken und diese weiterentwickeln. Vermittlung und Theaterpädagogik sollte nicht beauftragt werden, die Menge der Zuschauenden zu erhöhen, sondern die Form ihrer Beteiligung zu vertiefen.

Diese unsichere Welt mit ihrem immer kleiner werdenden und immer hermetischer voneinander abgeschotteten Bubbles braucht den Austausch mehr denn je. Denn in einer Zeit multipler Krisen, die unseren Alltag erschüttern, ist die bürgerliche Abendunterhaltung eines klassischen Schauspiels immer weniger gefragt. Wer will sich mit der Neuinterpretation von "John Gabriel Borkman" beschäftigen, wenn vor den Türen der Rhein versiegt, die Angst vor Heizkostenabrechnung den Weg zum Briefkasten bestimmt oder die Nudeln im Supermarktregal vergriffen sind?

Vor wenigen Wochen ist Hans Thies Lehmann gestorben. Wie wenige Menschen hat er das Theater in seiner Entwicklung im letzten Jahrhundert geprägt. Mit seinen Theorien hat er die Bühnentore für die Realität geöffnet und die Inhalte der Spielpläne durcheinandergewirbelt. Aber er steht auch für die gegenteilige Bewegung: Vom Theater raus in die Stadt, vom Finden des Theatralen in der Realität und eine radikale und stetige Erweiterung des Verständnisses, was ist Theater ist und sein kann: Bootfahren mit Radiolectures, Synchronschwimmen mit Musik, Schubkarrenausflüge durch Videoinstallationen oder Lyriklesungen am Gleis. All das ist möglich und gehört dazu. All das schafft Austausch und Beziehung. All das verändert die Beteiligten.

In einem Vorgespräch für das Festival in Bitterfeld wurde ich von einer Journalistin gefragt: Was gibt es dort an Theater? Nach einem kurzen Moment der Verwunderung antwortete ich: Alles. Ich glaube, dass genau diese Erweiterung des Theaters die Zukunft und Rettung des Theaters bieten kann, wenn hier ein anderes Verständnis von Beziehung zwischen Publikum und Künstler:innen zu Grunde liegt und dementsprechend die Form bestimmt. Es gilt, den Nachlass von Hans Thies Lehmann nicht zu verwalten, sondern auszuwuchern. 

 

Aljoscha Begrich 805 Felix Abraham OSTEN uAljoscha Begrich gehört seit drei Jahren der künstlerischen Leitung des Festivals OSTEN in Bitterfeld an – neben Ludwig Haugk und Christine Leyerle. Er beschreibt hier seine persönliche Perspektive. Begrich kommt aus Sachsen-Anhalt. Nach ersten Assistenzen an den Kammerspielen in Magdeburg, am Schauspiel Dresden und in Frankfurt am Main, arbeitete er als Dramaturg am Schauspiel Hannover und am Maxim Gorki Theater Berlin. Er war am Berliner Herbstsalon kuratorisch beteiligt und bei der Ruhrtriennale. Seit über 10 Jahren ist er international unterwegs mit Rimini Protokoll und vielen anderen. (Foto: Felix Abraham)

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