Penthesilea - Der große Entschlacker Michael Thalheimer präsentiert am Schauspiel Frankfurt eine schlüssige Essenz der Monstre-Tragödie von Kleist
Liebestanz zum Tode
von Grete Götze
Frankfurt am Main, 4. Dezember 2015. Wer anderes könnte die Rolle der liebenden Kannibalin spielen als Constanze Becker, die Lady Macbeth, unter deren Rock die Dämonen schlummern, die Antigone, lebendig Begrabene, oder die Kindsmörderin Medea (was dem Schauspiel Frankfurt 2013 eine Einladung zum Theatertreffen brachte)?
Und so sind sie nach Frankfurt gekommen, die Juroren und Erstbesetzungen der deutschen Feuilletons, um zu schauen, ob der Tragödien-Entschlacker Michael Thalheimer wieder einmal ästhetisch wertvoll entschlackt hat. Der Regisseur hat dieses Mal "Penthesilea" gewählt, den Text des Romantikers Heinrich von Kleist, dessen Inhalte in ihrer Brutalität so viel mehr zur Antike und also auch zum Regisseur passen als in das humanitäre 19. Jahrhundert von Goethe und Schiller.
Blut und Licht auf der Spitze
Und so funktioniert auch dieses Mal die Setzung einer wuchtigen, begrenzenden Bühne, aus der heraus eine Vielfalt des Spiels, der unterschiedlichen Sprechakte, entstehen kann. Olaf Altmann hat eine pyramidenförmige Schräge auf die riesige Bühne des großen Hauses gebaut. Auf ihrer Spitze thront: Penthesilea. Es ist das erste Bild, in dem die Amazonenkönigin ihren Achilles in den Armen hält. Aus ihrem Mund trieft Blut, er ist nackt und nur durch Kunstblut vor der völligen Entblößung geschützt. Thalheimer stellt das Ende, wenn Penthesilea ihren Geliebten erlegt hat, in seiner Inszenierung an den Anfang. Und sogleich wird klar, wer hier die Macht hat. Die Königin lässt Achill die Schräge herunter purzeln. Seine Schuhe poltern auf dem schwarzen Untergrund, bis er nackt in der Mitte der Bühne liegen bleibt. Sie sitzt oben, barbusig, stolz hebt und senkt sich ihr Brustkorb, gelb leuchtet ihr Rock, alles Licht auf Penthesilea.
Jedes Wort
Es folgt die Geschichte eines Kampfes zwischen dem griechischen Heerführer und der Amazonenkönigin, in deren Verlauf auch Penthesilea in elisabethanischem Kleid die Pyramide hinunter stürzt. Entgegen der Logiken ihrer Heere führen die Liebenden Krieg miteinander. Auf dem Pyramiden-Schlachtfeld tragen sie ihn nur mit Worten aus. Der Text ist umgestellt, teilweise neu zugeordnet, aus neun Figuren sind in dieser Fassung drei geworden.
Und auf den Zuschauer trifft eine solche Textwucht, dass er sich kaum traut zu atmen. "Die Lust, ihr Götter, müsst ihr mir gewähren, / Den einen heißersehnten Jüngling siegreich / Zum Staub mir noch der Füße hinzuwerfen", lässt die Rasende uns wissen. Jedes Wort ist verständlich, der Zuschauer hat nichts als die Sprache und ein paar Bewegungen der Schauspieler. Zwei Protagonisten, dazu eine Frau (mit blutverschmiertem Mund, weißem Kleid und klarem Wort überzeugend: Josefin Platt), die ein paar der Botenberichte spricht, und einige der vielen weiteren Rollen.
Umschlungen, erotisch, wild
Aber das Neue, das Schöne an dieser Inszenierung ist, dass Constanze Becker hier mit Felix Rech jemand an die Seite gestellt ist, der es mit ihr aufnehmen möchte. Er ist neu im Ensemble, er hat den Bösen in der "Geschichte vom Franz Biberkopf" gespielt. Den Achill, der Penthesilea zwar liebt, ihr aber doch enthüllen will, dass nicht sie ihn, sondern er sie im Kampf besiegt hat, erfüllt er mit einem unbedingten Willen zur Macht, aber auch mit einer erotischen Begierde, die der Eigentlich-alleine-Spielerin Becker noch zusätzliche Kraft verleiht. Der Kampf, den die beiden miteinander ausfechten, eng umschlungen, einander animalisch beißend, schlagend, er ist ein ebenbürtiger, er ist erotisch. Doch dann: "Ich – gefangen – Dir?" Becker beugt sich zurück, sie schreit gen Himmel. Diese Liebe kann nur glücklich sein, wenn Sie die Herrscherin ist.
Klassisch, wunderschön, wohltuend
Rech ist ein junger, ein wilder und von seinem Verlangen getriebener Achill. "Was fehlt Dir?" fragt er einmal mit ruhiger Stimme, aber völlig entwaffnend seine wahnsinnige Geliebte. Und dann kommt er ohne Waffen zu ihr, zeigt sich schutzlos. Doch sie tötet ihn, übergießt den nun wieder Nackten mit Kunstblut, dazu ein musikalisches Stimmenwirrwarr, wie ein weißes Rauschen. Und dieses Mal, nach 100 Minuten und dem Miterleben der Geschichte auf der Bühne, fährt einem ein Schauer über den Rücken, obwohl das Kunstblut noch so künstlich ist wie am Anfang. Das Licht (Johan Delaere) steht inzwischen nicht mehr weit entfernt an der Spitze der Pyramide, es ist immer mehr in den Zuschauerraum gekrochen, wo es sich unangenehm breit macht. Die Zuschauer sind Zeugen, als sich Penthesilea ihren Achill ganz einverleibt. Und ihr Leben beendet.
Eigentlich ist diese "Penthesilea" nur eine strenge Inszenierung eines grandiosen, fast unspielbaren Textes mit ein paar langen Strichen und Neuzuordnungen. Aber Michael Thalheimer kann das einfach sehr gut. Der unerträglichen Tragik, die den Figuren innewohnt, entkommen die Schauspieler, in dem sie die Perspektive wechseln, mal in der ersten und mal in der dritten Person sprechen, mal als sie selbst, mal aus anderer Perspektive. Dieser Abend ist Texttheater und Schauspielertheater pur. Er ist eine konzentrierte Wohltat nach all den gelungenen und weniger gelungenen postdramatischen Abenden, die landauf und landab auf den Bühnen sich abspielen. Es ist ein klassischer Theaterabend. Man möchte wieder hinein gehen, um noch mehr von diesem antiquierten, wunderschönen Text zu verstehen und zu sehen, wie er sich einschreibt in die Münder und Körper dieser hingebungsvollen Schauspieler. Nicht enden wollender Applaus.
Penthesilea
von Heinrich von Kleist
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Nehle Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Constanze Becker, Felix Rech, Josefin Platt.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Kritikenrundschau
Eine "minimalistisch blickscharfe und schnörkellos anrührende Interpretation", die ihre Nachricht "wie unter einem Mikroskop für feinste Seelenschwingungen" herausarbeite, "sprachgenau und bildkräftig zugleich", hat Cornelie Ueding gesehen und gibt auf Deutschlandfunk (5.12.15) zu Protokoll: "Das Schlachtfeld, die verbissenen Kämpfe zwischen Trojanern, Griechen und dieser dritten, ganz und gar aus der Kriegslogik fallenden Streitmacht, dem Heer der Amazonen, finden nur in Berichten und in den Köpfen der Zuschauer statt." Doch die Besessenheit des Kampfes sei nahezu körperlich zu spüren: "Denn all das Wüten findet auch in den Protagonisten selbst statt." Und die politische Aufklärung finde im Kopf des Zuschauers statt, "nicht auf den üblich gewordenen Projektionsflächen".
Judith von Sternburg schreibt auf FR-Online, der Website der Frankfurter Rundschau (6.12.2015): "Der Mann und die Frau in dem gelben Rock lieben sich und balgen sich darum wie Hunde, das ist nicht dahergesagt, vierbeinerhafter können sich zwei Menschen nicht miteinander beschäftigen, nacheinander schnappen, sich umeinanderwickeln." Es sei zu sehen, "dass es böse enden muss". Thalheimer setze ins Bild, "dass ohne Sprache nichts wäre außer stummem Entsetzen". Mit Sprache werde das Entsetzen nicht weniger, aber es werde zu "einer menschlichen Situation". Die Schauspieler sprächen "auf Draht, aber ohne Geschrei. Betroffen, aber reflektiert, verwickelt und beobachtend zugleich." Die Bewegungen, "Laufen, Staksen, Taumeln, Stürzen, Kriechen, Rollen", seien "kalkuliert, aber nicht manieriert, auch keine Rituale". Die Schauspieler benötigten "keinen Aufwand", um "ihre Präsenz zu untermalen". Constanze Becker sei eine "große Penthesilea aus sich selbst heraus". Rech zeige "ganz zart, wie ein Mann die Lage falsch einschätzt". Die "berühmte Unspielbarkeit" löse sich "in Luft auf".
Hubert Spiegel jubelt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.12.2015): Der Theaterabend entfalte für Kleists Tragödie der Maßlosigkeiten eine "strenge, ganz auf die Wucht der Worte vertrauende und deshalb faszinierende Form". Es sei, "als würden siebenhundert Premierenbesucher hundert Minuten lang den Atem anhalten". Alles vollziehe sich "allein in der Sprache. Das muss man sprechen können. Constanze Becker, Felix Rech und Josefin Platt können es. Und es ist ein Genuss". Constanze Beckers Penthesilea sei mehr Königin als Kriegerin, "träumerisch zuweilen, von somnambuler Eleganz, sich für ganz kurze Momente ... ins Mädchenhafte hineintastend", bevor ihr "verletzter Stolz" jäh umschlage "in gellende Wut". Felix Rech sei ein "vor Selbstbewusstsein strotzender Achill, kein viehischer Schlächter, sondern ein nur gelegentlich aufbrausender Diplomat". Ein "großer Theaterabend".
Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (7.12.2015) von Thalheimers Inszenierung als einer "heiß-kalten Tragödie". Sie finde für die "atemlosen, hochgespannten Verse" eine "ungemein dichte, bezwingende Form". Für die "Kraft, Klarheit und Unverschnörkeltheit ihres Spiels" sei Constanze Becker "nicht genug zu bewundern". Felix Rech sei "ihr ebenbürtig an Intensität und Direktheit". Josefin Platt ersetze "mühelos ein ganzes Heer". Thalheimers "Verdichtung" gehe "so faszinierend" auf, weil sich "drei überragende Schauspieler durch diese Gefühlsgewitter katapultieren und dabei den treibenden Rhythmus der Kleist-Verse" virtuos beherrschten und in jedem Augenblick "das Geschehen als reale, schreckliche Erfahrung beglaubigen". Sie hätten es dabei nie nötig, "feierlich zu tönen oder sich aufzublähen". Thalheimers Theater wiche den "harten, auch ausweglosen Konflikten" nicht aus. Es überhöhe und übersetze sie in eine "harsche, steile Form". Gegen den verbreiteten "Ironiezwang" könne man bei Thalheimer sehen, dass "das Theater härtere Wahrheiten und Erfahrungen zu bieten hat".
"Das Wunder der Aufführung liegt in der Sprechweise von Constanze Becker", jubelt Peter Michalzik in der Neuen Zürcher Zeitung (8.12.2015). "Sie kann Worte hinstellen, interpretationsfrei gibt sie monströsen Worten Raum." Allerdings schaffe Kleists Text "einen hyperbolischen Bildraum von solcher Grösse, dass es kein reales Theater gibt, ihn umzusetzen". Thalheimer komme mit dieser Sprech- und Bildaufführung diesem Bereich nah, aber das Wesentliche fehle doch: "Der emotionale Abgrund dieses Stückes, das Liebe und Kannibalismus in eins setzt, bleibt unberührt."
"Einmal mehr erweist sich Thalheimer als begnadeter Tragödien-Flüsterer", schreibt Shirin Sojitrawalla in der taz (9.12.15). "Die Sprache gewordenen Gewaltorgien Kleists übersetzt er in zeitlos archaische Bilder und Bühnenmomente und kann dabei auf seine bewährte Crew sowie Hauptdarstellerin Constanze Becker vertrauen, die bei ihm schon als Klytaimnestra, Antigone und Medea brillierte." Die Amazonenkönigin als übermächtige Egomanin scheine in der Gestalt von Constanze Becker "nur aus Stimme und Körper zu bestehen", ist Sojitrawalla vor allem vom "urgewaltigen Spiel" der Titeldarstellerin beeindruckt.
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Die Vorstellung beginnt - und schon mit der ersten Anordnung der Darsteller auf der steilen Pyramide und Constanze Beckers ersten Sätzen hat es mich gepackt.
Die Darsteller sprechen hervorragend und sind ausdrucksstark, das Licht ist toll gesetzt und die Figuren werden zu wunderbaren Bildern arrangiert. Die Aufführung vergeht wie im Flug.
Ich war sehr lange nicht im Schauspiel Frankfurt (weil ich viele Aufführungen zu gleich und wiederholend fand), aber - vielleicht auxch durch den zeitlichen Abstand - war es für mich alles andere als ein Gähn-Abend.
Wenn ich ihn auch fast eher eine "szenische Lesung" nennen würde.
Die „Penthesilea“ ist ein unverkennbarer Thalheimer-Abend: in seiner Wucht, in seinen düsteren Farbtönen, in seinen Strömen aus Kunstblut und in seiner Haltung, sich ohne ironische Brechungen unbedingt auf die großen Gefühle, den dionysischen Wahn und die Ekstase seiner Figuren einzulassen, die auf den ersten Block so erschreckend fern wirken.
Ein bemerkenswerter Abend, der die Einladung zum Berliner Theatertreffen 2016 verdient gehabt hätte. Dass Thalheimer und Becker dort schon 2013 zum Eröffnungsabend mit ihrer „Medea“ gastierten, ist zwar eine mögliche Begründung, aber keine Entschuldigung für die Entscheidung der Jury.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/05/penthesilea-constanze-becker-in-michael-thalheimers-frankfurter-inszenierung/
Felix Rech gibt ein grandioses Porträt eines Mannes ab, der die Unterwerfung des anderen verinnerlicht hat, aber, getrieben von der Stimme der „Vernunft“, diese vorurteilsfreie Liebe versucht. Seine Hilflosighkeit, die sich erst verflüchtigt, wenn er seine angelernte Position wieder einnimmt, berührt vielleicht mehr als alles andere an diesem strengen, stillen Abend, an dem Bert Wredes sonst oft omnipräsenter Soundtrack erst spät einsetzt und dann aufdreht, wenn alles schon vorbei ist, sich die Mörderin und die Leiche in einem (Alb-)Traum gegenseitiger Aneignung und Auflösung verschlingen. Ansonsten ist der Abend ungeheuer statisch. Man steht, sitzt, kauert, ringt mit dem eigenen Körper um Kontrolle, schnürt sich ein, kämpft um die eigene Geschichte. Meist wird erzählt, ringt man – besonders eindringlich Constanze Becker – um das Ich, das Vorherrschaft will über die dritte Person, die hier der Feind ist, weil sie Fremdbestimmung meint. Man wechselt sich ab in der erzählung, fordert die Kontrolle ein, die eigene Stimme. Lichtkegel bestimmen und kommentieren die Machtverhältnisse, machen in jedem Moment klar, dass es kein Wir gibt, sondern immer nur Ichs.
Und so bleibt am Ende nur die animalische Natur. Immer wieder entlocken die Darsteller*innen ihren Kehlen tierähnliche Laute, kriechen sie über ihre Welt, fallen sie zurück auf das, was der „Kultur“ vorausging und ihr wahrscheinlich auch nachfolgt. Thalheimer ist kein optimistischer Betrachter der menschlichen Natur und er fängt an diesem Abend auch nicht damit an. Er ist formstrenger, statischer, abstrakter, auch distanzierter als frühere Tragödieneindampfungen des Regisseur. Und geht doch ungeheuer nahe. Im Erstaunen, Erschrecken über sich selbst, im Ringen um eine Stimme der Vernunft, die bei Becker zu virtuosen und erschütternden Zwiegesprächen mit sich selbst führen, in denen die Stimmen – wütende, herrschsüchtige, aber auch staunende, sehnende, flehende, miteinander Ringen, um sich zuletzt gemeinsam in den stillen Abgrund des einzigen Friedens zu stürzen der denkbar scheint: die Auslöschung als Nichts. denn die, die sich das Herrschaftsprinzip der Welt zu eigen machten, müssen am Ende aus ihr fallen. Ihre Unbedingtheit, ihre Grenzenlosigkeit sind nicht gesellschaftsfähig. Das Machtprinzip lässt sich nur gewinnbringend anwenden, wenn es sich nicht als solches zu erkennen gibt. Darin fehlen Penthesilea und Achilles, deshalb fallen sie. Und wie, die wir am Schluss im kalten, fahlen Licht sitzen, mit ihnen.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/15/freier-fall/
so isses.
b behrendt