Das Glück, der Krampf und die Erstarrung

von Dirk Pilz

Berlin, 20. Dezember 2008. Andererseits hat dieser Abend dann doch viel weniger mit "Onkel Wanja" zu schaffen, als es zunächst scheint. Anfang Januar war es, als Jürgen Gosch am Deutschen Theater Tschechows Onkel Wanja in einen lehmfarbenen, engen Vorführkasten verlegt hat, den die Schauspieler binnen dreieinhalb Stunden Spieldauer nicht verließen. Die Figuren: Verzweiflungsgymnastiker. Die Szenen: Exerzitien der Trostlosigkeit. Und diese Intensität, die Dringlichkeit des Spiels.

Jetzt hat Gosch Tschechows Komödie "Die Möwe" inszeniert, im Auftrag des Deutschen Theaters, das aus Sanierungsgründen in der Volksbühne gastiert. Wieder ist es ein Spiel über Vergeblichkeit, wieder haben die Figuren tiefe, unheilvolle Züge aus dem schier unerschöpflichen Reservoir an Trostlosigkeit genommen. Und wieder findet das Drama auf einer schmalen Spielfläche statt, bleiben fast alle Schauspieler fast immer anwesend. Diesmal allerdings sind sie nicht in den Zeugenstand versetzt, sondern werden zu Zuschauern eines Geschehens, das einer unergründlichen Logik gehorcht.

Das Drama vor dem Drama

Die Bühne von Johannes Schütz ist nämlich kein Kasten, sondern eine hohe, schwarze, samtig wirkende Wand, dicht an die Zuschauerreihen herangerückt. Während bei "Onkel Wanja" die Raumsituation vorgab, dass ein Entrinnen für die Darsteller aus dem Spielgefängnis nicht möglich ist, verharren sie nun gleichsam in frei gewählter Knechtschaft, hocken hinten an der Wand auf der Bank oder stehen am Rand, recken die Hälse, wenn zwei Unglückliche sich raufen, beäugen und belauschen alle Schrecken und Schaudereien wie Voyeure es tun. Als ob ein seltsamer Zwang es ihnen auferlegt hätte. Als ob vor dem Drama bereits etwas Unnennbares sich ereignet hat.

So fängt das Spiel auch an. Von rechts marschiert das Ensemble ein, zwei schleppen einen Stein, ein schwerer, schwarzer Vorhang wird hereintransportiert, Mascha keucht und Semjon schwitzt, als hätte er bereits ein Drama hinter sich. Semjon ist jener Lehrer, den Mascha heiraten wird, obwohl sie ihn ausdrücklich nicht liebt, und der Stein dient als Bühne für jenes die "neuen Formen" proklamierende Theaterstück, das Konstantin verfasst hat und Nina wiederum spielen wird, indem sie nackten Fußes auf dem Stein balanciert, die Arme gen Himmel wirft, die langen Haare schüttelt und ihrer Stimme eine Tränennähe verleiht, so dass die "neuen Formen" schwer nach altem Pathos riechen. Irina, Konstantins Mutter, geht das auf die Nerven, ihr Bruder Pjotr bestaunt es stumpf, ihr Geliebter, der Dichter Trigorin, belächelt es und der Arzt weiß nicht, warum es ihm gefällt.

Dieses Theater auf dem Theater ist, natürlich, für jede "Möwe"-Regie die Probe aufs Exempel – an ihr offenbart sich, was neu, was Form, was Theater heißen soll. Bei Jürgen Gosch ist es ein Bekenntnis zum Unfertigen, Schroffen, Brüchigen.

Ein Wunder an Transparenz

Denn so, wie die junge, dünne Kathleen Morgeneyer ihre Nina spielt, so unerhört seelenzittrig und herzwund, so tränenübervoll und stirnfaltenreich, wie sie in jedem Satz die Interpunktionen übergeht, dass es wirkt, als huschten ihr die Silben wie unfassliche Gespenster über die Lippen, wie sie mit ihren dünnen Fingern am Rock zupft und noch heult, wenn sie längst die Szene verlassen hat – bei alledem ist sie eine Blankspielerin von seltener Schutzlosigkeit. Ulrich Matthes hat im "Onkel Wanja" auch geweint. Seine Tränen aber waren erst auf dem langen Umweg der Distanzierung und Reflexion wieder zum scheinbaren Ausweis einer Natürlichkeit geworden – er hat ein veredeltes Als-ob-Spiel zelebriert, er war der Virtuose der Glaubwürdigkeit.

Kathleen Morgeneyer wirkt dagegen wie ein Wunder an Transparenz. Ihr Spiel ist direkt und unvermittelt, bei ihr meint man, das wirkliche Leben ins Spiel einbrechen zu sehen. Darauf hat es Gosch diesmal offenbar angelegt – er verwischt rücksichtslos die Grenze zwischen Theater und Wirklichkeit, vermengt das Spiel und den Ernst.

Das erlaubt ihm so unerwartet komische wie erschreckend traurige Szenen. Wenn Trigorin seine Irina zu verlassen müssen glaubt, weil er Nina verfallen ist, zerrt Corinna Harfouch an den Haaren von Alexander Khuon, schreit und tobt bis ihr die Knie schmerzrot gefärbt sind und er überrumpelt am Boden liegt – das ist kein Rollenspiel mehr, das ist nacktes Existenz-Vorführen. Wenn Christian Grashof einmal mehr die Worte hervorschmatzt und die Augen verkneift, mit der Hand wedelt und jedes Wort in einen Schnarrmantel hüllt, ist ein Chargentum zu erdulden, das offensichtlich jedem Kunstanspruch in die Quere kommen soll.

Stolpersteine für die Kunst

Überall baut Gosch vorsätzlich die Kunst und das Theater unterbrechende Störmomente ein, mit der in die sonst eher geschlossene Fiktion Fenster zur Wirklichkeit gerissen werden. Den Regiehospitanten wurden kleine Rollen zugeteilt, was sie verblüffend gut meistern, weil sie ihr Laientum weder kaschieren noch ausstellen, sondern belassen. Die viel zu selten gewürdigte Meike Droste darf ihrer Mascha die Figurengrenzen sprengende Zornes- und Wutattacken erlauben, Christoph Franken schenkt dem Semjon seinen Schwabbelbauch, ohne so zu tun, als sei er ein notwendiges Übel, und Jirka Zett drückt dem Konstantin seine Nervosität und Unerlöstheit auf, als gäbe es jenseits seiner Bühnenexistenz kein Dasein mehr. Was eigentlich geschieht diesen Figuren, den Schauspielern hier?

Wenn die Begriffe und Implikationen nicht so missverständlich wären, müsste man behaupten, dass die Schauspieler ihre eigene Verletzlichkeit, Unsicherheit, Brüchigkeit ungeniert zu Figuren verwandeln, statt diese durch ihr Eigenes zu nobilitieren. Das, so scheint's, ist jenes Unnennbare, das vor dem Drama bereits geschah – das allerhöchst Private und Unfertige der Darstellerbiografien selbst. Und das verleiht diesem Abend seine seltsame Unangreifbarkeit, allerdings auch seine Sogwirkung. Einerseits.

Am Ende einfrieren im Standbild

Andererseits ließe sich nicht ohne Gründe behaupten, dass die Figuren schlicht nicht präzise genug gearbeitet, die Szenen nicht ausreichend gestaltet, der gesamte dreieinhalbstündige Abend nicht zu Ende inszeniert wurde. Peter Pagels Arzt schaut mitunter auch schwer nach Kunsthandwerkelei, Corinna Harfouchs Irina nach bloßem, souveränem Routinetum aus. So gesehen wäre Goschs "Möwe" doch nur der zweite Teil des "Onkel Wanja", allerdings weniger kunstvoll, genau und einleuchtend.

Aber der Schluss! Konstantin erschießt sich, der Arzt vermeldet es und das Spiel friert zum Standbild fest. Eine, zwei, drei Minuten, in denen keine Regung geschieht. Die Szene wird nicht aufgelöst, sie hört einfach auf.

Als dann zum Schlussapplaus Jürgen Gosch auf die Bühne kommt, huldigen ihm auch die Schauspieler. Wir alle wissen, dass er krank ist. Sterbenskrank. Vor dieser Tatsache sieht jede Kritik notwendig kleinkrämerisch, albern und herzlos aus. Denn sie rührt an den ureigensten Ängste aller, auch meiner.

 

Die Möwe
von Anton Tschechow. Deutsch von Angela Schanelec
Regie: Jürgen Gosch, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Dramaturgie: Bettina Schültke. Mit: Meike Droste, Corinna Harfouch, Kathleen Morgeneyer, Simone von Zglinicki, Christoph Franken, Christian Grashof, Alexander Khuon, Peter Pagel, Bernd Stempel, Jirka Zett, Ben Clark, Przemek Zybowski, Theresa Schütz.

www.deutschestheater.de
www.volksbuehne-berlin.de

 

Mehr über Jürgen Gosch: Im Januar 2008 inszenierte er am Deutschen Theater Berlin Tschechows Onkel Wanja, für viele das wichtigste Theaterereignis der Spielzeit 2007/2008. Wir berichteten auch über Goschs jüngste Uraufführungen von Schimmelpfennig-Stücken: Hier und Jetzt im April 2008 am Schauspielhaus Zürich und Calypso im Februar 2008 am Schauspielhaus Hamburg. Zuvor entstanden drei Shakespeare-Abende: im April 2007 Wie es euch gefällt in Hannover, den Sommernachtstraum am DT Berlin. Im Oktober 2007 folgte in Düsseldorf Was Ihr wollt.

 

Kritikenrundschau

Jürgen Gosch bleibe mit dieser "Möwe" "ganz auf der Höhe seiner Kunst" und knüpfe an seinen "Onkel Wanja" an, findet Eva Behrendt in der taz (22.12.2008). Der "schöne Ernst", mit dem er auf die glücklosen Tschechow-Menschen blicke, erwische einen "umso härter, als man meist gerade noch gelacht hat", z.B. über Meike Droste, die "wieder herrlich komplexbeladen ist, diesmal aber auch spröd und böse". Harfouch gebe als Arkadina nicht die Diva, sondern eine "eher zurückhaltende Frau", die die "panische Angst vor dem Misserfolg" umtreibt, vor dem eigenen und dem des Sohnes Kostja, der bei Zett in gebügelten Hemden "immer ein bisschen streberhaft" wirke. Khuon hingegen spiele "die Ironie der zufälligen Überlegenheit" Trigorins "einen Tick zu breit aus", besteche jedoch logisch, wenn er sich deshalb in Nina verliebt, weil er ihr "anders als der jede Schwäche scheuenden Arkadina, von seinen Schreibkrisen erzählen kann". "Star und zugleich Antistar des Abends" sei allerdings Morgeneyers Nina: Anfangs segele diese "Fleisch gewordene Verlegenheit auf der Grenze zur Karikatur", doch dann erlösche das Komische, bis am Ende nur noch "leer geheulte Einsamkeit" übrig bleibe.

Eine Fortsetzung von Goschs "lakonischer Suche nach dem Wesentlichen des Lebens und des Leidens" hat auch Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (22.12.2008) gesehen. Gosch nehme Tschechows Situationen und lasse diese von seinen Schauspielern "in unfassbarer Direktheit körperlich und auch emotional ausagieren". Das gehe "ganz ohne Spuk, wie sich spätestens immer dann zeigt, wenn die eben noch leidbesoffenen, liebeverkeilten Gestalten sich wie auf Befehl von einander lösen, abkühlen und als Schauspieler auf der Bühne platznehmen, um den anderen bei der Arbeit zuzusehen". In diesem (außer bei Grashof und Page) "ungelogenen, geraden, ritualisierten Spielen dürfte das Wesen des Theaters zu suchen sein", während das Wesen des Menschen, so zeige sich immer mehr, darin bestehe, Theater zu spielen. Wenn am Ende die Nachricht von Kostjas Tod die Spieler erstarren lässt, breite sich "das Nichts explosionsartig im Theater aus, die Zuschauer hören auf zu atmen, ihre Herzen stehen still".

"Mitten ins Herz getroffen" wurde da gleichfalls Christopher Schmidt von der Süddeutschen Zeitung (22.12.2008). Für ihn ist es kein Zufall, dass Gosch jetzt ein Künstlerdrama inszeniert, für dessen Stück-im-Stück er "die genialste, witzigste und wahrhaftigste Lösung" finde, indem er es "als entwaffnende Selbstparodie" auf die Bühne bringe, in der vieles an seine eigene "Making-Of-Ästhetik" erinnere. Der Stein, auf dem dieses aufgeführt werde, sei "nichts Geringeres als ein Zeichen für die Gewichtigkeit von Kunst". Gosch ziele hier "auf die Quintessenz seines Theaterlebens", die Inszenierung werde zu "so etwas wie Goschs Vermächtnis", obwohl er nichts anderes tue, "als das Stück pur und porös durch sich hindurchgehen zu lassen wie einen großen Schluck Atemluft". Er beweise hier, "dass er den Stein der Theaterweisen gefunden hat": Wie immer wolle er "keinen Verwandlungszauber, sondern die Osmose zwischen Schauspieler und Rolle. Die Spieler verschwinden nicht in ihren Figuren, sondern verdoppeln deren Gewicht um das eigene".

"Eindeutigkeitsexempel" mit Ticks hat hingegen Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen (22.12.2008) gesehen. Gosch scheine es zu genügen, "Tschechow demonstrativ zu plakatieren statt sich spielerisch in ihm zu verlieren". So werfe er "die Zweideutigen, die Viellebigen, die Tausendliebigen, kompliziert Individuellen allen Augen zum kontrollierten Eindeutigkeitsfraß vor". Da habe jeder "nur einen Ton, eine Haltung". Doch gebe es durchaus "Unterschiede im handwerklich wie immer vorzüglichen Ensemble des Deutschen Theaters". Grashofs gewohnt manierhaftes Spiel verschaffe dem alten Sorin immerhin "den Charme eines durchgeknallten Lustgreises". Harfouchs Arkadina sei eine "leicht genervte, wutentzündete Eifersuchtsfurie", Khuon das "milchbärtige, bemützte, immer lustig durch die Nase schnaubende Gymnasiastenjüngelchen" Trigorin und als solcher "doch etwas sehr juvenil fehlbesetzt". Morgeneyer locke ihre Nina "auf die Süßleimrute einer Schnief-Duse". Das alles sei "gut und schön. Nur dass sie alle zu schnell sind. Zu schnell fertig mit sich." Nach fünf Minuten sei jeder "eindeutig ausgespielt".

Barbara Villiger Heilig wiederum meint in der Neuen Zürcher Zeitung (22.12.2008), Gosch habe das Stück "fast skizzenhaft" in Szene gesetzt, wobei er vor allem eines im Sinn gehabt zu haben scheint: die Grenzen zwischen Leben und Kunst zu verwischen. Dabei huldige diese "Möwe"-Inszenierung "dem Leben", wobei die Kritikerin den "dunklen Hintergrund" von Goschs Erkrankung durchaus mitdenkt. In diese Sehnsucht nach dem Leben rücke der Abend sein "ungeschminktes Licht", andere Aspekte würden einfach ausgeblendet. "Die komplizierten Liebes- bzw. Eifersuchtsgeschichten setzt Gosch quasi in Klammern; ohne inneres Gewicht sichern sie gerade noch Zusammenhang und Fortgang der Story – die, und das steht mit dem selbstvergessen spielenden Ensemble klar im Vordergrund, vom Leben erzählt." Ungefeilt und trotzdem schwerelos laufe der Abend dahin, "Verzweiflung, Heiterkeit, Hoffnung und Enttäuschung streifend, auf der dünnen Linie zwischen Kunst und Nicht-Kunst".

Gosch verliere sich "keinen Augenblick in atmosphärischer Poesie", so Hartmut Krug für Deutschlandradio Kultur (21.12.2008), sondern führe "einfach Menschen vor". Mit der Bühnenlösung verdeutliche Gosch zweierlei: "dass es in diesem Stück immer auch um die Kunst und deren Wahrnehmung geht, und dass (…) sich die Menschen stets im Blick der anderen verdeutlichen". Wie hier "nicht etwa als-ob-Theater gespielt" oder Figuren vorgeführt, sondern "Menschen transparent gemacht" würden, das sei "ein schauspielerisch-inszenatorisches Wunderwerk". Die Inszenierung versuche "keine neue, originelle Interpretation", sondern gehe "dem Stück und dem Menschen mit den einfachen Mitteln der Darsteller-Ausdruckskunst auf den Grund". Dabei sei es Gosch gelungen, "alle Schauspieler zu enormer Präsenz in einem menschlichen Da-Sein zu bringen, deren Wahrhaftigkeit über ihr Bühnendasein hinauszureichen scheint". Indem die Aufführung dabei auch noch "hochkomödiantisch" sei, mache sie "die Tragik der scheiternden Menschen besonders deutlich".

Am Ende hat Peter Michalzik von der Frankfurter Rundschau (22.12.) gedacht: "Ja, Jürgen Gosch, ja, Sie haben Recht, Spielen ist ein Ausweg" aus dem furchtbar traurig-lustigen "Schlamassel, den man Leben nennt". Und Spielen heiße "in diesem Fall, die ganze furchtbare Lebensfülle genießen, mitmachen, bei gleichzeitigem Wissen, dass das nichtig ist. Das Furchtbare ist das Wunderbare. Im Spielen kann man darüber lächeln". Da die Theaterwelt "zur Zeit vor allem von Goschs und von Christoph Schlingensiefs Krankheit" rede und jede Aufführung "zum Vermächtnis" werde, tappe man leicht in die Falle, nämlich ins "falsche Einverständnis der Betroffenheit. Bereitwillig öffnen sich dem Kitsch die Türen. Pathos, das man sonst als unerträglich empfinden würde, scheint wahr zu werden". Gosch jedoch habe "den Versuchungen widerstanden und die Fallen umgangen". Beim ersten Akt denkt sich der Kritiker noch: "Merkwürdig hölzern ist das alles", zwar keine Totenmesse und kein Pathos, aber "unbeholfen". Doch dann… Wahrscheinlich habe jeder Zuschauer einen anderen Moment, "zu dem er begreift, wie zupackend und zart, wie verzweifelt und liebevoll, philosophisch und konkret" diese "zugleich sehr texttreue und sehr freie Aufführung" mit dem Leben spiele.

Bei Goschs offenen Riesenspielkisten sei immer auch ein bisschen "Probe, Werkstattgefühl", schreibt Reinhard Wengierek in der Welt (22.12.). Immer wieder schaffe Gosch das Wunder des "analytischen Blicks aufs fiebrige Dasein als packendes Kunststück im Theater, das sein Publikum nicht düpiert oder verstört, sondern herzensfrei und kopfklar entlässt". Kostjas Erkenntnis am Ende, dass in der Kunst alles von Herzen kommen müsse, habe Gosch "längst intus", "weshalb er sein Herzeleid (…) nicht verschwiemelt mit immer neuen, verrückteren Abstraktionen, sondern es schlicht und einfach ausstellt". Die Schauspieler hockten als "Einsamkeitskollektiv" da und schauten "amüsiert, entsetzt, verbittert, erschrocken, immer aber teilnahmsvoll auf die jeweiligen Eiertänze" der anderen. "Und diese Galerie der stummen Teilnahme der gerade nicht aktiven Spieler in diesem bitteren Vergeblichkeitsspiel rahmt dessen rabenschwarze Trostlosigkeit wie ein Wunder mit Trost. Ein großes, ein unvergessliches Theatererlebnis!"

"Diesen Abend vergisst man nicht. Er ist ein Geschenk", schwärmt auch Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (22.12.) und gewinnt sogar seinen "nie ganz verlorenen Glauben ans Theater" zurück, kann sich am Ende gar "nicht losreißen". "An diesem erschütternden, befreienden Premierenabend" blieben "die Augen nicht trocken. Ein Wunder!" Alles werde hier "so einfach, so klar": "Aus Rollen und Figuren werden: Menschen. Dramaturgie, Schauspielerei, Ausstattung, der ganze Theaterbetrieb ist ergriffen: vom Leben." Dabei sei das alles doch "nichts anderes als ein Kunstraum, anatomisches Theater der comédie humaine", in die Gosch die Zuschauer mit hinein hole. Wo das Gosch-Ensemble aufspiel, "wie man lange kein Ensemble gesehen hat", entstehe "dieses seltsame Wir-Gefühl", in der auf die Hierarchie von Haupt- und Nebenrollen gepfiffen werde. Die Figuren sind "Typen in Alltagsklamotten", die einander ins Verderben hetzten, unter Leidens- und Erfolgsdruck stehend, "Menschen von heute, keine Zeit, kein Geld, keine Ruhe". Die "Entdeckung des so überreichen Abends, der wie die Summe eines Theaterlebens wirkt", sei Morgeneyer, deren Nina von einem andern Stern komme: "keine gewöhnliche Schönheit, sondern ein Gesicht, in dem man ganze Dramen lesen kann und künftige, große Rollen".

Auf Spiegel-online (21.12.) ist von Christine Wahl zu lesen, Gosch habe die "gigantischen Erwartungen" mit diesem "'Onkel Wanja' Teil zwei" "mehr als erfüllt" und beschenke sein Publikum erneut mit "furiosen Theatersternstunden", in denen er seine "großartigen Schauspieler, die sich in diesem leeren Raum an nichts festhalten können", wieder "zu beispielloser Intensität" treibe. Im Grunde stünden hier zehn Hauptfiguren auf der Bühne, "die jede für sich eine abendfüllende, ureigene Tragödie spielen", ob sie nun gerade selbst agieren oder hinten zuschauend teilnehmen. Eigentlich müsste man "alle Akteure dieses Abends feiern", dessen überragende Leistung es sei, die Figuren radikal zu demontieren und "über das Leidensszenario gleichzeitig einen Firnis tiefer versöhnlicher Menschlichkeit" zu legen.

 

Kommentare  
Goschs Möwe: Schranke gefallen
Lieber Herr Pilz! Der letzte Satz - auf einmal das im Kritikercodex verpönte Ich - ist sehr schön. Es klingt, als wäre auch bei Ihnen, nicht nur bei den Schauspielern, die heilige Schranke zwischen "persönlich" und "privat" gefallen (und es berührt so, weil es erst dort passiert, wo es anders nicht mehr geht, nur einmal, und im letzten Satz...)
Goschs Möwe: Halleluja, welche heilige Schranke?
Verehrte Gretel! Ich würde eher sagen: Kritikerkitsch und Betroffenheitsschmalz.
"Heilige Schranke", was soll denn das sein? Haben Sie beim Baumschmücken aus Versehen Lametta verschluckt? Brrrr.
Goschs Möwe: Darf der Kritiker sich nicht menschlich zeigen?
wieso muss man ehrlichkeit immer wieder sofort mit ignoranz und intellektueller großmauligkeit niederknüppeln?ein kritiker zeigt sich plötzlich menschlich - "kitsch" hin oder her, darf man das nicht?
streiten sie doch über das stück an sich, über goschs arbeit, aber lassen sie doch andere auch ihre meinung äußern, ohne sich immer gleich darüber lustig zu machen und unnötig persönlich zu werden.
Goschs Möwe: Statt Kitsch über's Weinen auf der Bühne
Weder Baum noch Lametta. Gemeint ist die Grenze, von der Dirk Pilz in seiner Kritik spricht (er nennt es "Rollenspiel" versus "nacktes Existenz-Vorführen") oder die postings zu den Matthes'schen Tränen im Wanja. Da geht es immer wieder um gerade diese Grenze. Ein simples Beispiel (freilich ist es in Wirklichkeit meist komplizierter): Auf der Bühne sagt z. B. SIE zu IHM, dass sie ihn nicht liebt. Er weint. Woher nimmt er die Tränen (oder sonstige Reaktionen)? Tränen, die weder privat noch persönlich sind, kann der Darsteller durch direktes in den Scheinwerfer Starren erzeugen, oder durch die berühmte Zwiebel. Das andere Extrem- ganz und gar private Tränen - wären es z.B., wenn ER SIE auch im Leben liebte, und sie direkt vor dem Auftritt einen Anderen hätte küssen sehen. Solche Tränen würden durch ihre völlige Echtheit das Publikum vermutlich sehr berühren- die Situation hat aber einen gewaltigen Nachteil: Nach diesen wunderbar authentischen Tränen würden in ihm viele weitere, für den Verlauf des Stücks unpassende, private Gefühle hochsteigen. Schauspiel braucht Wiederholbarkeit und Kontrolle - deshalb sind solche privaten (unkontrollierten) Gefühle meist schädlich. Die dritte Variante: in einem langen und komplizierten Probenprozess hat sich der Schauspieler mit der Figur auseinandergesetzt, so intensiv, dass in dem Moment, in dem die Figur erfährt, dass sie nicht geliebt wird, im Schauspieler etwas angerührt wird, das ihn zum Weinen bringt. Er muss es nicht mehr "machen", es "übermannt" ihn aber auch nicht. Es ist nicht das Weinen der Figur (die ja ohne den Schauspieler nur Text ist), sondern etwas sehr Persönliches, das aus dem Wesen des Schauspielers in der Auseinandersetzung mit Stück, Regisseur und allen anderen Mitwirkenden entspringt. Das ist das arg vereinfachte Ideal. Aber...! Alles auf diese Weise "Persönliche" war einmal privat. Der Mut zur Privatheit- zumindest auf den Proben- ermöglicht erst das Persönliche. Viele Schauspieler sehnen sich nach diesem Risiko. Und die Zuschauer sehnen sich nach dem offensichtlichen Einbruch des Privaten, der ihnen das Persönliche erst beglaubigt (denn, wer weiß, vielleicht hat er ja doch nur in der Gasse an einer Zwiebel gerochen?). Theater ist doch immer ein Ort, wo Voyeure aus dem Dunkeln gebannt auf die Entäußerungen von Exhibitionisten warten, aber in größerer Tiefe und Komplexität als bei einer bloßen Realityshow. Deshalb ist die Grenze zwischen privat und persönlich so etwas Prekäres. Wenn sie fällt, kann alles ins Banale stürzen, Ihre Überschreitung kann aber auch großartig sein.
P.S.: Der Begriff "Kitsch" beinhaltet Unaufrichtigkeit. Nicht jede Betroffenheit (obwohl das ein furchtbares Wort ist) ist automatisch unaufrichtig. Ich bin überzeugt davon, dass weder die Äußerung von Dirk Pilz noch meine Reaktion darauf sentimentale Lüge waren.
Goschs Möwe: sentimental
zum kitschnudeltreffen: sentimentalität wird nicht durch aufrichtigkeit besser.
Goschs Möwe: Kitsch-Enthüller, bitte Gründe liefern!
Meine Damen und Herren Kitsch-Enthüller,
merken Sie eigentlich, dass Sie keinerlei Gründe geben für Ihren Spott und Ihr Ätzen? Derweil alle andren Teilnehmer des Gesprächs sich um Gründe bemühen.
Goschs Möwe: Kitsch kann so schön sein
Hier gilt es mal einen Satz eines Kritikers und seinen langen Anlauf zu loben!
Herrn Pilz gelingen immer wieder nicht enden wollende Wortkaskaden, welche oft nichts anderes als Sprachlosigkeit verdrängende Hymnen sind.
Und der "Kitsch", ach(!), kann so schööön sein- ein letzter Satz zu einer hoffentlich nicht letzten Inszenierung von Herrn Gosch. Das wäre und ist auch so schön.
Goschs Möwe: der Job des Kritikers
Die Argumente in Ehren, aber ein Kritiker sollte kühl bleiben und nicht mitweinen. Das ist nicht sein Job. Als ob uns die Gefühle eines Kritikers interessieren würden. Uns interessiert seine Haltung zur Kunst. Alles andere ist verlogen, sentimental und heischend und hat mit Kritik nichts zu tun. Das ist dieser längst überall grassierende Veräußerlichungsvirus, der ursprünglich aus den billligen Fernsehshows stammt, und jetzt als Authentizitätsmißverständnis auch in die Hochkultur drängt. Gründe? Lautréamont (was für ein unwürdiger Deckname für Ihren schlaumeierischen Einwurf!) Von der Kritik erwarte ich, diese Dinge zu bemerken und zu beschreiben statt unreflektiert mitzuheulen, sich in Demut (oder Bescheidenheit) zurückzunehmen.
Goschs Möwe: lieber heißes Herz als kalte Schnauze
Warum soll ein Kritiker kühl bleiben? Manchmal ist mir das heiße Herz lieber als die kalte Schnauze.
Die Einwände sind nachvollziehbar, ein Gefühl ersetzt keinen Gedanken. Herr Pilz hat jedoch beim Denken etwas empfunden, das hat mich sehr wohl interessiert.
Goschs Möwe: weder heulen noch Kälte
nur gefühl und mitheulen wäre wirklich doof, aber nur kalt tun ist auch sehr albern. kritiker sind doch auch menschen und keine tüvler. außerdem stehen doch in dieser kritik beschreibungen, gründe, genug kühle sachen. was soll also die aufregung?
Goschs Möwe: die Antwort des Kritikers
Liebe Kommentatoren,
ich bin müde und erschöpft; es fehlt am rechten Schwung. Es wird Zeit für ein paar freie Tage. Aber Sie sind auch nicht mehr in bester Form. Kritikerkitsch, Betroffenheitsschmalz, Sentimentalität, Kälte hier und heißes Herz da. Ehrlich, ich bin enttäuscht von Ihnen. Ich hatte zumindest erwartet, dass sie mir mit Adorno kommen. Adorno hat gesagt, man empfinde es bei Kritikern in der Regel als Anmaßung, wenn sie Ich sagen. Das wäre was. Sie hätten natürlich auch, sehr böse!, mit Tschechow selbst kontern können: alles "Speichellecker und Feiglinge", diese Kritiker. Oder wenigstens mit George Tabori: "Wer kann, der kann, wer nicht kann, wird Kritiker."
Nichts davon. Statt dessen wird alles wild durcheinander geworfen. Ich sagen ist gleich Sentimentalität ist gleich Betroffenheit ist gleich Kitsch. Wirklich, das ist nicht sehr originell. Ich glaube, Sie brauchen auch mal ein paar freie Tage.
Vielleicht denken wir in ihnen gemeinsam darüber nach, ob jede Kritik nach einem einheitlichen Muster gestrickt sein muss. Ich dachte bisher, das Schreiben ändert sich immer auch mit dem Gegenstand, dem es sich widmet. Aber vielleicht stimmt das gerade nicht, vielleicht ist das gerade die Kitsch-Falle?
So oder so: herzliche Grüße, Dirk Pilz
Goschs Möwe: nur Mut, Herr Pilz!
Lieber Herr Pilz!
Wenn die Argumentationskette nur noch mit Fremdzitaten zu stärken ist, dann ist es nicht nur Zeit für eine Pause, sondern für ein Seminar in Selbstbewußtsein.
Also nur Mut Herr Pilz, es ist ja nichts passiert, vielleicht hilft schon ein großes "Pilz". (na gut, war auch nicht besonders originell)
Goschs Möwe: Adornos Taschentuch
nein, wir kommen Ihnen mit "adornos taschentuch".
Goschs Möwe: was fehlt
Sehr geehrter Herr Pilz,
bevor ich hier bei nachtkritik regelmäßig die Rezensionen las, war ich der Ansicht, die deutsche Theaterkritik, im besonderen die der großen Tages- und Wochenzeitungen hat ein Problem: meistens mag sie das Theater nicht, daß sie besuchen und beschreiben muß. Als Folge davon schreibt und treibt sie das Publikum aus den Theatern raus. Sie tut dies meistens aus dem inneren Gefühl heraus, die heilige Flamme zu hüten, die heilige Flamme, die dafür steht, wie Theater wirkilich zu sein hat. Nur selten habe ich das Gefühl, der Kritiker läßt sich auf das Stück unvereingenommen ein, viel häufiger vermeine ich Vorurteile im Geschriebenen an den tagen nach den Premieren wiederzufinden. Auf jeden Fall ist die Mehrheit der Kritiken negativ resümierend, Versagen feststellend.
Seit ich nun Nachtkritik regelmäßig besuche, sehe ich ein eher noch größeres Problem: Viele (nicht alle) der hier kommentierenden "Blogger" sind unsachlich und laden einfach nur Frust ab, der verletzend ist und es auch sein soll. Ich hoffe inständig, dass diese nicht einen repräsentativen Querschnitt durch das heutige Theaterpublikum darstellen.
Was mir fehlt ist eine Auseinandersetzung über die Inhalte der Stücke, über die Motivation und die Wirkung der Regiekonzepte. Und da Weihnachten ist: Diese Auseinandersetzung unter Menschen denen der Konsens gemein ist: Sie lieben das Theater.
Lieber Herr Pilz, Ihre Kritik finde ich gut und das "ich finde.." sollten wir alle endlich als Standard verwenden und den Impetus des Vollweisen im Schrank verstauben lassen.
Alles beste zum Feste.
Goschs Möwe: Polemik muss auch mal sein
ich lade hier nicht meinen frust ab, sondern beteilige mich am gespräch über theater. das wird gelegentlich recht polemisch geführt, aber das liegt in der natur der sache. auch große kritiker können und konnten polemisch und verletztend sein, siehe tucholsky oder alfred kerr. und das bedeutete nicht, daß sie das theater nicht liebten. vielmehr haben sie mehr davon erwartet, als ihnen gelegentlich geboten wurde. ihre freundliche empfehlung zur subjektivität als maß aller kritik in ehren. aber mir ist sachverstand und informierte durchdringung lieber. vom impetus des vollweisen ist das weit entfernt. mit diesen impetus trumpfen sie doch hier gerade selbst mächtig auf. "konsens unter menschen, die das theater lieben": das klingt ja furchtbar.
Goschs Möwe: Wo bleibt die Meinung über die Inszenierung?
Sehr geehrter Herr Pilz, ich gratuliere herzlichst zu ihrem Status. Über ein Dutzend Kommentare - kein einziger (inklusive diesem) zu der Inszenierung, alle zum Thema Dirk Pilz. Und das bei der wichtigsten Premiere des Monats in Berlin. Da wird einem an Weihnachten doch warm ums Herz. Die Menschen denken an einen. Oder auch Gratulation zu einer Eintrittskarte, die sonst scheinbar keiner ergattern konnte. Waren ja selbst unter Mitarbeitern heftig limitiert. Also Leute, hat noch jemand eine Meinung?
Goschs Möwe: doppelbödige Offenbarung
Meiner Ansicht nach war die Inszenierung - Literaturhistorie hin oder her - ein "Onkel Wanja, 2. Teil", wobei ich dies ausdrücklich positiv meine. Mir hat Goschs Wanja sehr gefallen, gleiches gilt für die Möwe. Der Grund liegt darin, dass Herr Gosch die Doppelbödigkeit beider Werke herausgearbeitet hat, ohne sich über die eine oder die andere Ebene lustig zu machen. Offenbarung / -legung im besten Sinne. Mit gebotener Ernsthaftigkeit oder Distanz befasst er sich mit "armen" Charakteren und stellt sie (und somit auch uns) konstruktiv bloß. Dass dies auch noch verständlich umgesetzt wird, hat er den teils herausragenden Darstellern zu verdanken. Atemberaubend die Damen Morgeneyer und Harfouch, wobei ich der ersteren im letzten Akt eine nicht ganz so naive Stimmung gewünscht hätte. Wieder einmal überkandidelt Herr Grashoff, sein Gebahren ist für mich immer ein Schuss zu zappelig, dadurch unglaubwürdig. So, und nun das: Man (Ich) konnte sich beim Schlussapplaus schlicht nicht der denkwürdigen Stimmungslage entziehen, nicht wissend, ob man lachen oder weinen sollte. Es wurde eine tolle Inszenierung beklatscht, ja, aber es eben auch einem gezeichneten Menschen gedankt, der kaum seine Fassung wahren konnte. Dem entging niemand, es sei denn, ein kleiner Er oder eine kleine Sie hätten noch knickerige, alte Rechnungen zu begleichen. Daher: ein Dank an Herrn Pilz, der noch in derselben Nacht hat rezensieren müssen. Und wen die Menschelei stört, sollte besser nicht den TS lesen. Der entrückte Herr Schaper scheint sich auch tags darauf noch völlig vergessen zu haben.
Goschs Möwe: das bloße Konstrukt
Hallo Herr Steinebrunner, das ist ja mal eine interessante Beobachtung: die Charaktere werden konstruktiv bloß gelegt. Sehr interessant. Ich habe die Inszenieurng noch nicht gesehen, aber, was Sie da sagen, scheint mir einen zentralen Punkt bei Gosch zu treffen - er setzt den Leuten die Maske ab, aber man sieht dann nicht "das Natürliche", sondern das "bloße Konstrukt". So werde ich mir den Abend jetzt mal anschauen. Danke.
Goschs Möwe: traurig, dieser totale Konsens
herr gosch ist gerade so dermassen konsens und angesagt - es wäre absolut undenkbar, dass die kritiker ihm nun nicht einstimmig zu füssen liegen - es würde sich niemand wagen, da auszuscheren - in der regel machen diese berliner kritiker ohnehin alles gleichstimmig - man lese mal laudenbachs kritiken - (...) hoppelt jeder mode hinterher - wachsen da irgendwann mal junge originelle kritiker nach? bei den autoren und regissueren wachsen ja auch immerhin mal junge talente nach - wieso geht das nicht auch bei den kritikern? wieso schreiben immer göpfert, laudenbach, schaper in berlin - das ist doch traurig!
Goschs Möwe: Kritiker wahnsinnig eingefahren
Na aber die Besprechung von Herrn Göpfert sprudelte aber nicht gerade von Begeisterung. Im Grunde ist der Mann aber auch wahnsinnig eingefahren. Sein Hassobjekt Nummer eins ist Dimiter Gotscheff...achtet drauf! ist immer ziemlich amüsant.
Goschs Möwe: genug zu nörgeln
@ 19: Wenn über eine niveauvolle Inszenierung die Kritiken überwiegend wohlwollend schreiben, ist das doch in Ordnung. Traurig ist eher Ihre Ansicht, dass nur aus Gründen der Meinungsmache jemand einer anderen Meinung zu sein hat. Dann dürfe sich derjenige als jung und talentiert bezeichnen. Etwas Traurigeres, Berechnenderes und Kälteres habe ich schon lange nicht mehr gehört. Warum lesen Sie nicht Herrn Stadelm. in der faz, der hatte auch dieses Mal genug zu nörgeln. Und kommen Sie mir bitte nicht mit Herrn L. Für den kann ich nichts. Der ist halt irgendwie außer Kontrolle geraten. Außerdem: dies ist auch Ihr Forum, schreiben Sie doch I h r e Kritik zur Möwe hier hinein. Warum hat Ihnen die Inszenierung nicht gefallen?
Goschs Möwe: undenkbar für manchen
Was hier so manchmal passiert - toll. Jetzt sind die Kritiker nicht originell genug, weil sie unisono die Aufführung loben. Ganz, ganz vielleicht war es ja doch der bewegende Abend, von dem alle berichten. Undenkbar für so manchen, ich weiß. Winzige Randnotiz: die Kritik für die SZ wurde nicht von Herrn Laudenbach geschrieben.
Goschs Möwe: überkandidelt, pathetisch, ausufernd
Ja, das mit dem deutschen Kritikernachwuchs ist alles ganz doll furchtbar traurig und wir sind alle ein Stück weit betroffen! So! Können wir jetzt wieder über die Inszenierung sprechen, anstatt zu behaupten, wir wüssten, was in Dirk Pilz' Kopf und Herz wirklich vor sich geht?

Steinebrunner hat schon einiges wesentliches genannt: Gosch interessiert sich offenbar für den Balanceakt zwischen Komik und Tragik. Er läßt sein Ensemble vor pechscharzer Fläche agieren, deutlich überkandidelt, pathetisch und ausufernd. Die Mittel halten sich in Grenzen; Wasser, Mehl oder Blut fehlen hier vollkommen. Offenbar liegt der Fokus auf dem körperbetonten Miteinander der Akteure: man hilft sich, schiebt sich, rauft und umarmt sich.
Das alles hat mich persönlich(!!!) allerdings weitaus weniger berührt als etwa seinerzeit MACBETH oder ONKEL WANJA: das Komödiantische bleibt im Netten stecken. Man denkt sich: Tja, so ist das halt. Irgendwie grausam, irgendwie furchtbar, aber auch irgendwie nett. Was MACBETH oder zum Teil den SOMMERNACHTSTRAUM so attraktiv und aufregend machte, war weniger der exzessive Kunstbluteinsatz oder die Nacktheit (die hier übrigens gar keine Rolle spielt, sieht man einmal von einem dicken Männerbauch ab); es war die Erfahrung, dass auf der Bühne entgegen aller offenkundigen Absurdität des Theaters stundenlang weiter gespielt wurde, bis zuletzt, alle Mittel ausschöpfend, alles theatralisierend. Diese "nette" Absurdität, das Bewusstsein, dass es halt bloß Theater ist und daher ebenso gut auch nicht sin könnte, fehlt mir in der MÖWE so ziemlich. Hier wechseln sich Goschs eingeforderte Anarchie im Spiel und das Innehalten für die ruhigen Momente brav ab, aber das Spiel, d.h. die Aufführung des Stückes selbst wird zu keinem Zeitpunkt direkt in Frage gestellt. Das gelang bei vorherigen Arbeiten wesentlich interessanter. Rein subjektiv gesehen, natürlich. ;-)
Goschs Möwe: die Leistung der Schauspieler
Nun muß ich doch, rein persönlich natürlich, nach dieser ausufernden Diskussion doch kurz anmerken, wie verwunderlich es ist, daß die Leistung der Schauspieler bisher unkommentiert geblieben ist. Dabei zählt Gosch doch zurecht als "Schauspielerregisseur". Ich möchte gerne lobend erwähnen : Wie mutig, in Zeiten der ironischen Distanz und lockeren Attitüde auf der Bühne, eine derart zarte, durchlässige, schmerzvolle und rührende Nina zu zeigen : Kompliment an Kathleen Morgeneyer. Und wie Corinna Harfouch um die Liebe des Trigorins winselt, heult, kämpft,klammert, sich windet -ein schauspielerischer Höhepunkt. Christian Grashofs Manierismus ist für mich persönlich nur schwer zu ertragen, aber Bernd Stempels trockener Humor umso sehenswerter.
Goschs Möwe: altbacken
ich finde die möwe kann doch nicht ernsthaft heute so altbacken und reaktionär inszeniert werden.ein graus.eitel und selbstreferenziell."wo bleiben die neuen anderen formen"?fritz kortner hätte es nicht besser inszenieren und liselotte pulver nicht besser spielen können.und das an castorfs volksbühne.
Goschs Möwe: Widerspruch?
Versteh ich nicht. Ist das nicht ein Widerspruch?
Goschs Möwe: altbacken?
"altbacken"? weil sich die schauspieler nicht mit kunstdarm einschmieren und dem publikum der vorderen reihen auf die köpfe urinieren?
was bitte ist denn daran "reaktionär"? und was für "neue formen" fehlen ihnen denn, frau morgeneier?
Goschs Möwe: alberner Maskenspuk Aufklärung
fräulein morgeneier vermisst offenbar die extremen mittel der dekonstruktion. sie möchte masken herunterreißen, die aufklärungsarbeit als albernern maskenspuk entlarven und sich ihrerseits daran weiden, wie albern das theater im grunde doch eigentlich ist.

leider wird da nichts draus. denn goschs arbeit lebt bereits vom spiel mit den theatralen mitteln und legt sich als ersters offen bloß.
Goschs Möwe: herrliches Reinsteigern
Ach, wie herrlich sich hier alle auch ein bißchen reinsteigern in ihre Bewertung dieses großartigen Theaterwunders, dieser "Möwe" von Jürgen Gosch des DT an der Berliner Volksbühne. Redet nur alle drüber, ich lasse es lieber einfach auf mich wirken, - spüre die Emotionen auf der Bühne - und in mir. Da freut es mich, dass auch professionelle Kritiker mal spüren lassen, wie tief bewegt sie waren. Ich jedenfalls werde mir diese "Möwe" bestimmt noch mehrmals ansehen, immer wieder neue Freunde mitbringen. Und dankbar bin ich auch, dass ich mit dieser Inszenierung zwei für mich neue Talente auf einer Berliner Theaterbühne kennen lernen durfte: Kathleen Morgeneyer und Jirka Zett, der mich besonders beeindruckt hat. Wie heißt es oben irgendwo so richtig: Jirka Zett "drückt dem Konstantin seine Nervosität und Unerlöstheit auf, als gäbe es jenseits seiner Bühnenexistenz kein Dasein mehr. Was eigentlich geschieht diesen Figuren, den Schauspielern hier?" Ja, was ? Und was geschieht uns, den Zuschauern? Ich wünsche vielen, dass sie sich emotional so treffen lassen können von dieser "Möwe" mit diesem hervorragendem Ensemble, so, wie es mir vergönnt war.
Goschs Möwe: denken, nicht nur fühlen
Ich lese aus Kommentar 29 heraus, dass jeder ein stumpfer Thor ist, der nicht emotional erlegen ist, dem es also nicht "vergönnt" war, sich berühren zu lassen. Ist doch immer leicht, sich auf seine Gefühle zu berufen, aber genaue Argumente zu finden, ist interessanter. Welche Qualität ist denn "emotional getroffen sein" genau? Klar hätte jeder Kritiker einen Fehler gemacht, wenn er kühl und sachlich über den Abend schreiben würden.
Goschs Möwe: gute Gefühle nicht zerreden
... nein, oh je, wie man mißverstanden werden kann! Kein "stumpfer Thor" - so war das auf keinen Fall gemeint - ich wollte nur andeuten, dass man mit vielen Worten auch gute Gefühle, tiefe Emotionen "zerreden" kann ... mehr nicht. Sorry,sorry, dass das mißverständlich war. Eigentlich wollte ich sogar nur mein großes Lob für Jirka Zett und Kathleen Morgeneyer und alle anderen im Ensemble los werden - und meinen imaginären Hut ziehen vor Jürgen Gosch - und ihm gute Besserung wünschen.
Goschs Möwe: wie behebt man menschliche Blödheit?
Endlich Möwe. Tschechow ein toller Autor, das so zu sagen, klingt vielleicht dünn, aber egal, ich bin immer wieder erstaunt wie seltsam gut ich mich da orientieren kann, obwohl ich denke, was habe ich schon mit diesen Russen von vor hundert Jahren zu tun, aber nein, ich sehe und denke, er kennt die Menschen. Kennt sie auf eine Weise, das ich lachen muss: wie geht das, sich so zu kennen und doch bescheuert bleiben? Aber so ist es eben auch, aus Schadensbeobachtung wird einer nicht gleich klug und lebt sogleich ein besseres Leben. Vielleicht ist menschliche Blödheit überhaupt nicht so, durch Beobachtung, zu beheben. Vielleicht besprechen? Ich vergleiche natürlich, das was das Stück sagt, mit dem was die Schauspieler machen. Die sind sehr gut, aber das Stück sagt mir immer noch mehr und an manchen Stellen sagen auch die Schauspieler etwas wovon das Stück noch nichts weiß und das gefällt mir besonderes, weil ich damit ja gar nicht gerechnet habe, eine Überraschung also, so was ist leider selten. Das Stück ist irre, weil es auf so engem Raum auf so viel Leben schauen kann. Jung, alt, dumm, klug, eng und weitherzig, schmerzlich, albern und pathetisch. Das wird so verknotet, das ein jeder als gefangener seiner Dispositionen erscheint und die Dispositionen wiederum finden ihren Grund in den Tiefen der vergangen Versuche mit den Möglichkeiten klar zu kommen. Manchmal wirkt das auch moralisierend, oder wir werden auf die Fährte gelockt, es ginge dabei auch um moralische Kompetenz, aber das ist Quatsch, das ist nur was für Leute die nicht damit klar kommen, das den Schwierigkeiten nicht mit bloßen Urteilen beizukommen ist.
Goschs Möwe: der Assistent vom Bühnenbildner
die möwe ist genau das, was es mir verunmöglicht, theater als kunst zu akzeptieren. hier sehe ich kunsthandwerk und manierierte schauspielerei par excellence. die vielgelobte kathleen morgeneyer, die durch die üblichen standards und stereotypen der "empfindsamen schauspielerin" auffällt und einem jegliche lust auf diese figur nimmt, ist das beste beispiel, wie man leute aus dem theater bekommt. wenn schon highlight dann ist es des abends der assistent vom bühnenbildner, der mit seinem bart und seiner physionomie aussieht, als wäre er dem skizzenblock tschechows entsprungen. großes theater hier, keine übertreibung, keine standards, alles echt. der rest sollte schweigen oder zeigen, wie kreativ man mit einem schwarzen kasten (bühnenbild) umgehen kann: großes lob, wie toll man umdeuten kann, was die situation ist: mal bett, mal bank, mal wartesaal - gute übung für schauspielschüler. nichts ist an diesem abend live. alles aufgesagt, auswendig gelernt, in standars gepackt, nichts tut weh, nichts ist lustig, exakt neutral wird hier ein tschechow in aspik gezeigt, ungesalzen, für die gute hausfrau. schade.
Goschs Möwe: geblendet von kultivierten Lügen
lieber pfaff, die menschheit ist eben noch nicht reif für das wahre theater. vielleicht in hundert jahren. vielleicht werden dann die erkenntnisse der theaterwissenschaft aus den köpfen in die herzen gewandert sein oder vielleicht gibt es dann keine herzen mehr, keine verwirrung. heute noch lassen die menschen, besonders die hausfrauen sich blenden von einer angeblichen schauspielkunst, d.h. von der kultivierten lüge. (es ist ja schier unmöglich eine karte für dieses doofe möwenstück zu kriegen. man sieht die bühne vor lauter hausfrauen nicht!) aber in hundert jahren wird es keine hausfrauen mehr geben, sondern nur noch die theaterwissenschaft! tschechows hausfrauenmöwe wird man umbenennen. in einer neuübersetzung wird es "die möse" heißen und alle hausfrauenfiguren, alle hausfrauenhandlungen werden daraus gestrichen sein. dann wird der nackte mensch erscheinen.
Goschs Möwe: Wer hat hier Angst vor Giessen?
Mich überrascht, dass in diesem Forum zunehmenderweise (Gießener) Theaterwissenschaft und nachvollziehbare Argumentation gleichgesetzt werden. Oder andersherum gesagt: Mich wundert, wie sehr ausgerechnet diejenigen, die gegen die Theaterwissenschaften wettern (Wieso eigentlich gegen eine Wissenschaft wettern?), sich in besonderem Maße selber logischer Argumentation verwehren. Da wird nur polemisch gegenan gestänkert, aber gar nichts erklärt, beschrieben, erläutert oder ähnliches. Was ist das für eine hässliche, reaktionäre Haltung? Das schmeckt alles so voraufklärerisch verbrämt - also einer Zeit, wo wissenschaftliche Diskurse oder zeitgenössische Forschungen zu Gunsten "einer großen unerklärlichen Wahrheit" (hier: Theater) abgelehnt werden. Gießen scheint dafür so eine Metapher geworden zu sein. Wer hat hier Angst vor Gießen und warum?
Goschs Möwe: Hausfrauen und Theaterwissenschaftler
Richtig! Immer auf die Theaterwissenschaftler. Die machen doch schöne Sachen. Sie schenken dem Theater den Moment wieder. Und was hat sich denn ansonsten im Theater der letzten Dekade bewegt? Schluß mit dem Theaterwissenschaftsgericht! Und gibt es nicht auch Hausfrauen, die Theaterwissenschaft studieren? Wie zum Beispiel stdlmr, wie allen bekannt sein dürfte.
Goschs Möwe: die Konkurrenz der Urteile
…dieses Verlangen nach Kunst und nach Echtheit. Im Theater passiert etwas, was sonst weniger stark während des persönlichen Kunstselbstdestillation passiert, dass nämlich der Betrachter parallel zum Geschehen auf der Bühne seine eigene Vision des Ablaufs Imaginieren kann - Wenn ich das Stück nur lese, gilt auch allein meine intuitive Vorstellung von ihm, sehe ich es aber aufgeführt, werde ich, ob ich es will oder nicht, meine (wenn ich eine habe) mit der gerade zu sehenden vergleichen. (weswegen ich zum Beispiel Hörbücher nicht leiden kann, weil sie die intuitive Eigenimagination stumpfen) Überrumpelt mich die Aufführung und läßt mich meine vergessen, dann hat sie so zu sagen gewonnen, bleibe ich aber bei meiner Vision, dann zähle ich nur noch die furchtbaren Nicht-Entsprechungen. Und da auch ich auf mein Urteil zählen will , bestimme auch allein ich, zu wem ich hinauf und auf was ich hinabschaue. Wird nicht auch im Stück von dieser Konkurrenz der Urteile gesprochen? Von den Schmerzen die empfunden werden, wenn jemandem Anerkennung gezollt wird, der nach dem eigenen dafürhalten doch eher mit Schmähungen und Missachtung bedacht werden sollte. Der Zauber der Verführung ist kein zu verallgemeinernder, ihm haftet doch immer was sehr individuelles an. Manche vernarren sich Assistenten, andere in Debütantinnen. Ein Zweites ist, vielleicht sind die Kinder zu sehr und zu lange Kinder, sie wollen oder können scheinbar nicht erwachsen werden, und sie suchen lieber mit Erfolg, Verständnis, Zuneigung und Anerkennung beim Zuschauer. Und nicht Ophelia geht ins Wasser, sondern Hamlet erschießt sich.
Goschs Möwe: die Visionauten und der Unschärfequotient
claudia du bist eine frau. deshalb versteht man dich nicht ganz genau. und heute ist es gut, nicht so genau verstanden zu werden. der unschärfequotient ist jetzt ein muß im theater. du als frau hängst noch den geschriebene stücken nach. geschriebene stücke sind 19. oder höchstens 20.jahrhundert. zukunft ist was wir visionauten im gorki machen. wir lassen die zuschauer das stück schreiben. wir kriegen von denen zukunftsvisionen geschickt und basteln daraus ein bißchen so was wie das zukünftige theater. es wird bestimmt ganz lustig. der intendant armin petras findet uns toll oder vielleicht ist er nur froh, daß er keine ernsthafte konkurrenz an seinem haus hat. aber egal. wir machen es ja sowieso fast umsonst. kommst du?
Goschs Möwe: die Guten zeigen uns Guten was Gutes
Mal sehen. Ich versuche eigentlich nur es mir nicht so einfach zu machen. Klar es gibt so einen Sog immer in Richtung Daumen rauf oder runter, das scheint in der Natur der Sache zu liegen, sich und andere zu fragen, wie fandest du‘s? und irgendwie schlägt das Gemüt sich dann in die eine oder andere Richtung und kaum ist die eingeschlagen unternimmt nun der Verstand den Versuch seinen so genannten Eindruck zu stützen. Ich mach das auch so. Also die Frage Vergangenheit oder Zukunft - kommt ja auch in der Möwe vor - ist ein wenig Quatsch, oder? Also sich einzubilden, es wäre damit viel was anderes gewonnen als eine veränderte Form von Schwierigkeiten. Klar, die Abstoßungsernegie muss irgendwo her kommen, verstehe. Ich hatte zum Beispiel das Gefühl zu spüren, das alle , auch und besonders ich, den Abend als sehr modern und gediegen zugleich erlebt haben : so also sieht es aus, wenn die die Guten uns Guten was Gutes zeigen. Es war so ein wenig Gosch goes Thalheimer. Kühl laut schnell, mit einer leichten Tendenz darauf zu verweisen das hier mit Kraft und moralischem Verstand zu Werk gegangen wird. Ohne Tiefe. Erinnerte in der Ästhetik auch an die Werbespots von Apple, die Ausgeschnittenen Figuren vor der weißen, oder schwarzen Wand suchen sich pointiert zu geben. Und fürs Produkt zu werben, wie du für deines.
Göschs Möwe: visionäres Mitmachtheater
Worum geht‘s denn in dem Stück? Diese Menschen werden alle hauptsächlich gezeigt in Situationen wo sie sich damit herumschlagen mit wem sie gerne intim wären oder vielleicht lieber nicht und es stellt sich heraus, das das scheinbar gar nicht so leicht ist, die passende Verbindung zu finden und weitergehend heißt es auch, das die Intimität, kommt sie denn mal tatsächlich zustande, wieder nicht sehr viel Bedeutung im Sinne einer verbesserten Drift in die gehobene Richtung des Lebens hat, im Gegenteil, danach geht es höchstwahrscheinlich um so rasanter Abwärts. Also mit „Erfüllung in der Liebe“ sieht es schlecht aus. Karriere, Arbeit, weinen und einfach weiter machen sind da sie schon mit mehr Früchten gesegnet. Das wirkt, als wären alle nicht ganz dicht, warum zum Teufel ist das so saumäßig kompliziert. Verfluchte Intimität. Das ist das, was ich mit Blödheit meine. Es scheint ein völlig überflüssiges Problem zu sein. Mädchen vom Land sollten sich nicht in ältere Schriftsteller verknallen, sondern lieber in ihren Jugendfreund von der anderen Seeseite. Ein Arzt, der die Frauen geliebt hat, sollte vielleicht eine von ihnen behalten haben. Ein Justizbeamter in Rente sollte sich früher um eine Geliebte bemüht haben und so weiter. Irgendwas ist aber an diesen Qualen und Enttäuschungen auch dran, sie lassen sich unter Umständen in Kunst verwandeln. Das wird dann manchmal mit Karrierepunkten belohnt. An sich eine gute Sache. Nina hat Pech, sie muss in die Provinz. Kostja… irgendwie auch (wobei, das ist was schlimmeres als bloß Pech), ihn will nun überhaupt niemand verstehen… Aber wir Zuschauer holen sie da raus, wir korrigieren diese Schicksale. Auch eine gute Sache. Also ist auch dieses Theater visionäres Mitmachtheater.
Goschs Möwe: Herzen sprechen
astrov, du sprichst mir aus dem herzen. das ist doch toll. da hätten wir wenigstens der möwe etwas abgewonnen: herzen sprechen lassen!
Goschs Möwe: Kostjas Beispiel
Kostja, ich denke mal, es ist wie im Stück geschildert, die jungen Menschen wollen ihre eigene Karriere machen (wobei ich das in einem weiteren Sinn gefasst sehen möchte, als dem, bloß einen lukrativen Job zu ergattern - es geht, wie wir ja wissen, immer um Status) und ahnen gleichwohl, das diese Aufgabe nicht jenseits des Gegebenen bewältigt wird. Und so wächst die Lust an der Fiktion, allerdings turnen die Utopisten heute kaum im Theater, die arbeiten lieber am Computer und gehen gut essen. Wärme und Verständnis in kleinen Gruppen genossen bildet hier und dort eine Alternative fürs bedrohte Gemüt, das ist richtig. Und deswegen leuchten seine gebrochenen Augen nicht mehr, Kostja, meine Zuneigung gilt dir.
Goschs Möwe: der Staub von DEFA und Fernsehspiel
Über diese "Möwe" hat sich aller Staub gelegt, der sich in Ost und West angesammelt hat. Der Ton von DEFA und deutschem Fernsehspiel, das gespielte Gefühl; hier wächst zusammen, was zusammen gehört. Der späte Gosch, ein junger Flimm. Ein Abend, den auch Dirk Pilz versteht: Jazz, Lyrik, Prosa. Und am Ende fragt man sich, ob Tschechow wirklich ein so unbedeutender Autor ist, als der er uns hier vorgeführt wird. Sicher nicht.
Goschs Möwe: Kritik selten gekonnt und unnötig geschwollen
Wie genau Dirk Pilz hier die die Schauspielleistungen beschreibt, das ist selten gekonnt! Aber dann beschreibt er doch unnötig geschwollen den einfachen Fakt, daß die Schauspieler sich mit ihren Rollen identifizieren, statt in verfremdender Distanz zu spielen. Das klingt bei ihm dann so: "Wenn die Begriffe und Implikationen nicht so missverständlich wären, müsste man behaupten, dass die Schauspieler ihre eigene Verletzlichkeit, Unsicherheit, Brüchigkeit ungeniert zu Figuren verwandeln, statt diese durch ihr Eigenes zu nobilitieren." usw.
Auch für mich liegt das Besondere des Abends darin, daß der Regisseur Gefühle wagt, entgegen der deutschen Theatertradition, in der Gefühle suspekt sind, seit dem Nationalsozialismus. Ganz anders als z.B. in Frankreich oder Italien. Daher auch der Siegeszug der Theaterwissenschaft und ihrer intellektuellen Konstruktionen auf der Bühne hierzulande. Und daher muß ein Kritiker das als eine ganz große Besonderheit umständlich umschreiben.
Goschs Möwe: Mut zum Gefühl
Wo war denn der Jazz, von dem Kommentator Joele spricht? Erwartet er vom Theater etwa mehr als "gespielte Gefühle"? Ziel beim Theater ist es unter anderem, sich in die Rolle hineinzubegeben und sie möglichst authentisch zu spielen. Am meisten gelungen ist das Chathleen Morgeneyer und Corinna Harfouch. Letztere ist wohl die Einzige vom DT-Ensemble, die ich noch nie auf der Bühne und nur im Film gesehen habe. Vielleicht war ihre Rolle nur das Ergebnis langjähriger Bühnensouveränität, aber doch ziemlich beeindruckend. Stempel und Grashof waren zwar auch gut, aber etwas artifiziell. Identifikation mit der Rolle ist notwendig - das Hineinmischen der eigenen Biographie hat im Theater allerdings nichts zu suchen. Der private Liebeskummer von Frau Harfouch interessiert mich auf der Bühne nicht. Mut zum Gefühl erlebt man oft auf Berliner Bühnen, z.B. auch in der Schaubühne. Cathomas, der sich bei seinen Auftritten endlich einmal eine XXL-Unterhose überstreifen sollte, weint und schreit und leidet gern und viel. Das ist kein Schaden. Bedenklich wird es nur bei schwächeren Akteuren, wenn alles zur Karikatur abgleitet.
Goschs Möwe: schluchtz, wimmer, Knall, DRAMATURG
Gefühl, USA/BRD,Verfremdung, Brecht,DDR,Müller,Deutschland, Russland,Tschechow Gefühl, Gefühl,Brecht, Deutschland, Sentimental,Müller,Tschechow, DDR,Russland, Sowjetunion,Verfremdung, Alphabet, Tschechow, Knall, Möwe,Gefühl,Sowjetunion, USA/BRD, DRAMATURG; deutschland, Brecht,Hunger, Gefühl,Gefühl,Tschechow, Müller,Verfremdung = Gefühl, Knall,USA/BRD, Knall, Verfremdung, Brecht,DDR,Knall, Müller,Deutschland, Knall, Russland,Tschechow Gefühl, Gefühl,Brecht, Knall, Deutschland, Sentimental,Knall,Müller,Tschechow, DDR,Russland, Sowjetunion,Verfremdung, Alphabet, Tschechow, Knall, Möwe,Gefühl,Peng, Sowjetunion, USA/BRD, schluchtz, wimmer, wimmer, Knall,DRAMATURG; deutschland, Brecht,Hunger, Gefühl,Gefühl,Tschechow, Müller,Verfremdung ! Möwe schluchtz knall knall, hunger !
Goschs Möwe: Hast du Diskursfieber, Claudi?
Sag mal Claudi, hast du Diskursfieber? Wohl zu lange in Gießen Theaterwissenschaft studiert. Dabei waren deine ersten Kommentare so schön menschlich. Wie im alten Theater, als die Rollen noch mit sich identisch waren.
Goschs Möwe: Ich weiß, was passiert ist!
Oh, ich weiß, was passiert ist, jemand der in Göttingen studiert hat, versucht sich als die menschliche Claudia auszugeben, die angeblich Göttingen studiert hat, wie die Möwe, die war ja erst ein Vogel und wurde totgeschossen von Kostja, aber dann hat der Schriftsteller ein junges Mädchen aus ihr gemacht, das ausgenutzt und weggeworfen wird, aber dann stellt sich heraus, das die Möwe doch schon das Bild des armen Kostja war, der sich totschießen muss, weil das junge Mädchen lieber einen Schriftsteller liebt der zu seiner Frau zurückkehrt, als einen Schriftsteller, der sich erschießt wenn er nicht geliebt wird.
Goschs Möwe: die Klasse 3a und Tschechows Universum
ich grüße die klasse 3a, die sich momentan mit den vegetationsmomenten im tschechowschen universum und der metaphysik einer möwe bei gosch auseinandersetzt.
viva la vida loca. auf der bühne, vor der bühne, hinter der bühne...
wir werden die wahrheit schon finden!
Goschs Möwe: Pause für die Freilichtstudien
na klar, die Klasse sollte aber ihre Freilichtstudien ruhig ab und an unterbrechen, Cola trinken und ein paar witzige Filme bei YouTube ansehen, dann Lästern und geödet neue Verabredungen treffen - ein Seminar, ja, vielleicht, z.B. ohne Naturbetrachtung, wie weiter?
Die Möwe, Berlin: stille Trauer
dieser text hat mich sehr berührt. ich habe die inszenierung damals auch gesehen und jetzt erst die kritik hier gelesen. sie ist von großer, kluger ernsthaftigkeit und auch voll stiller trauer. da steht viel zwischen den zeilen was viel mit der inszenierung zu tun hat, wahrscheinlich nicht nur, sondern auch mit dem kritiker, aber doch viel mit dem abend. vielen dank.
Die Möwe, Berlin: Prosit auf eine vielleicht großartige Zukunft!
Konstantin: Mein Schreiben hier, wenn ich mich wieder dazu aufgerufen fühle -
ist manchmal ein wenig mühsam und unbeholfen - - Anderen geht alles scheinbar leichter von der Hand. Wahrscheinlich weil sie klüger sind als ich und viel besser informiert.
Sie verstehen doch mehr vom Theater als ich und sehen sich viele Vorstellungen an,
dazu lesen sie noch die Kritiken und Kommentare. Ich aber lese immer weniger davon.
Aber auch sonst lese ich immer weniger, und will auch immer weniger aufnehmen und annehmen. Tschechov schreibt 1889 an Suvorin: Wenn ich noch vierzig Jahre leben und in diesen vierzig Jahren lesen, lesen, lesen und mit Talent schreiben lernen könnte, dann würde ich nach Ablauf dieser Zeit aus einer riesigen Kanone auf Euch alle solch ein Feuer eröffnen, daß der Himmel erzittern würde. Im Augenblick aber bin ich nur ein Zwerg wie alle anderen.
Auch ich, Nina, würde gerne aus einer ungeheuren Kanone, oder Colt nach allen Seiten auf alle schießen, und möglicherweise damit großen Erfolg haben sogar. Ja, in vierzig Jahren vielleicht, und doch lese ich immer weniger -
Nina: Früher aber hast du viel gelesen.
Konstantin: Ja, um besser auf alle schießen zu können!
Claudia: - - wie die Möwe, die war ja erst ein Vogel und wurde totgeschossen von Kostja, aber dann hat der Schriftsteler ein junges Mädchen aus ihr gemacht, das ausgenutzt und weggeworfen wird, aber dann stellt sich heraus, dass die Möwe doch schon das Bild des armen Kostja war, der sich totschießen muss, weil das junge Mädchen lieber einen Schriftsteller liebt, der zu seiner Frau zurückkehrt, als einen Schriftsteller, der sich erschießt wenn er nicht geliebt wird.
Konstantin: Dieser für mich neue Gedankengang stellt sich jetzt heraus: dass die von
Kostja totgeschossene Möwe schon das Bild des armen Kostja war, der sich totschießen muss! - jedoch, in meiner Vorstellung, liebt das junge Mädchen auch den armen Kostja, und nicht nur den negativ gezeichneten Erfolgsschriftsteller Trigorin - -
Nina (als die "Möwe"): Ich liebe Trigorin und das Theater. - Aber dich liebe ich auch,
lieber Kostja, du bist - meine Judendliebe -
Konstantin: Ach -
Dorn (zu Trigorin): Die Sache ist die: Konstantin Gawrilowitsch - hat sich nicht erschossen...
Konstantin (zu Nina): Deine - erste Jugendliebe war ich nicht, - das war ein Anderer -
Soll ich dir sagen, was Tschechov in einem seiner Notizbüchern schreibt über die Liebe?: Die Liebe ist entweder das Überbleibsel eines früheren Wertes, der heute zu entarten beginnt, oder der Teil einer großartigen Zukunft. In der Gegenwart kann sie aber nicht befriedigen, weil sie viel weniger gibt, als man von ihr erwartet. -
Also dann, geliebte Nina - Prosit auf das Neue Jahr 2012 als eine vielleicht großartige Zukunft!
Die Möwe, Berlin: Der Dichter dichtet wieder
MENSCHEN UND IHRE VERSTRICKUNGEN
... und wunderbaren Schauspielern...
die junge Frau, die wie unbeholfen, schüchtern einsteigt in ihre Geschichte:
Die gewellten Haare (in Wirklichkeit: blonde Schnittlauchfrisur), erinnern den
poetischen Luftballon-Clown, an Medusa. Der Clown will Perseus sein, aber der Würde
Medusa ja, Medusa jajaja den Kopf abschlagen, ABschlagen! Macht nichts, befindet die junge Frau, er tut ohnedies immer weh.
Kathleen Morgeneyer. Sie spielte nicht nur in den "Vier Himmelsrichtungen", Schimmel-
pfennig, Salzburg, sondern, so entdeckt der Clown, 2008 in Jürgen Goschs "Die Möwe".
- die Inszenierung: Ein Wunder an Transparenz. -
"Denn so, wie die junge, dünne Kathleen Morgeneyer ihre Nina spielt, so unerhört seelenzittrig und herzwund, so tränenübervoll und stirnfaltenreich, wie sie in jedem
Satz die Interpunktionen übergeht, dass es wirkt, als huschten ihr die Silben wie unfassliche Gespenster über die Lippen, wie sie mit ihren dünnen Fingern am Rock zupft
und noch heult, wenn sie längst die Szene verlassen hat - bei alledem ist sie eine
Blankspielerin von seltener Schutzlosigkeit."
Dem Clown ist die Schauspielerin Morgeneyer auf den Fotos zur Ur-Aufführung der
"Vier Himmelsrichtungen" schon aufgefallen, wie sie auf den breiten Schultern des
"kräftigen Mannes" sitzt, neben diesem links die dunkle Wahrsagerin, rechts der
poetische Luftballon-Clown. Sie sitzt da wie auf der Spitze eines Drei-Ecks, oder
Spitze einer Pyramide. Der Clown ist vom Ausdruck auf ihrem Gesicht überrascht, er
ist aufmerksam auf das Freudige und Siegreiche in ihrem Gesicht geworden -
mit ausgebreiteten Armen hält sie Balance - oder fliegt sie?
Sie also spielte auch die Nina, die "Möwe" in der Inszenierung von Jürgen Gosch.
Und da die Nina in Tschechovs Stück, für den Clown, eine ganz besondere Bedeutung
lange schon hat (wie identifizierte er sich doch einst mit dem unglücklichen Konstantin), denkt er jetzt an den griechischen Helden Perseus, dessen Helden-Heros-Tat sein soll, der furchtbaren Medusa, einem Sagenungeheuer, bei dessen Anblick die
Gegner versteinern, den Kopf mit den vielen Schlangen abzuschlagen...

Weitere Entwicklung: Du musst aus Dir herausgehen. Lasse Dich nicht überrumpeln.
Stelle Dich auf leichten Gegen-Wind ein.
Stell dich auf eventuell starken Gegenwind ein, aber denkt der Clown. Was um alles
in der Welt habe ich denn mit Schimmelpfennigs Luftballons zu tun? - dann schon lieber Immer noch Sturm! - doch unverwirrt und unverirrt durch die sturmumtoste Heide deines bewegten Lebens, wie ein nie alternder König Lear:
Da, eine Möwe, eine Möwe!
Die Möwe, Berlin: Fast ein Jubiläum
Bald 15 Jahre nach der Premiere (in der ich damals in der Volksbühne war) lief sie gestern und heute nach langer Zeit fast mit demselben Cast im DT. Ich hoffe, noch sehr sehr häufig!
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