Faust, eine Lektion

von Hartmut Krug

Hannover, 19. Oktober 2007. Keine Pfosten, keine Bretter sind aufgeschlagen. Leer ist die Bühnenwelt, offen für alle Theorie. Eine Videowand droht bühnenbreit, und neben dem Klavier am Bühnenrand steht das Verlautbahrungsmikrophon. An dem Mephista, nachdem sie Franz Liszts Teufelswalzer gespielt hat, Sätze von Giorgio Agamben über den Kapitalismus als "immense Akkumulation von Bildern" verliest, "in der alles unmittelbare Erleben in eine Repräsentation verschoben" wird.

Denkspiel, Suchspiel

Baudrillard hat es diesmal nicht nur ins Programmheft geschafft, und Boris Groys bekommt auf der Bühne das letzte Wort – auf der Leinwand (Dramaturgie Carl Hegemann). Am Anfang aber ergießt sich eine Bilderflut über die Projektionswand, Feuersbrünste, Soldaten und Börsendaten verbinden die alte mit der neuen Zeit. Mephista, mit viel Witz und etwas Wut, mit Charme, Verzweiflung und suchender Bedeutung fulminant gespielt von Sonja Beißwenger, präsentiert uns unter dem Titel "Faust. Kunstwerk Mensch" einen "Cursus in mehreren Teilen". Das Ganze: ein Denk- und Erklärspiel.

Am Anfang war das Philosophenwort, und das Kunstwerk erscheint als Werkstück, montiert aus disparatestem Material. Wer da nicht auf der Höhe zeitgenössischer Diskurse und nicht Filmkenner ist, kann immer noch auf Schnitzeljagd nach Goethes oft neu montierten Texten gehen. Das Ganze: Ein Suchspiel.

"Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen", behauptet Mephista und wirft ihren Spickzettel fort. Der Hof des Kaisers, mit dem Baumgartens "Faust" beginnt, steht in Russland ("Faust", ein frühes Dokument des Kommunismus!?), man trägt Fellmützen, und während das Papiergeld mit wüster Fingerfarben-Schmiererei hergestellt wird, werden am Mikrophon Kapitalismus und Privatisierung beschworen. Der alte Faust (Werner Rehm, sachlich und zurückhaltend, spielt schön unpathetisch, während Fabian Gerhardt als junger Faust vor allem blass ist) schreibt seinen Auftrittsmonolog in den Computer.

Theoriensteinbruch und Revue

Keine Zueignung, kein Prolog, kein Vorspiel, kein Durchspielen des Textes, sondern ein szenisches Durchdenken wird geboten. Goethes Text, als bekannt vorausgesetzt, ist der Steinbruch, aus dem die Theorien gehauen werden. Zehn Schauspieler gehen auf einen Trip durch beide Teile des "Faust", und nach wenig mehr als drei Stunden ist alles vorbei. Doch der Kopf brummt, und alle Fragen bleiben offen.

Faust und die schöne Mephista, eine Beziehung der unterschiedlichsten Arten von gegenseitiger Anziehung. Wunderbar, wie die junge Frau dem alten Herrn beim Pakt seine Unterschrift abschmeichelt: "Kannst Du mir das bitte noch schriftlich geben?" Kann er, aber nicht, ohne sich am Stift zu verletzen, worauf sie das Blut gierig vom Tisch leckt.

Der Abend besitzt auch Revuecharakter. In der Hexenküche, die im globalisierten Südamerika zwischen Apfelsinensortierern spielt, singt die Hexe (Susanne Jansen) "Si la muerte", und Gretchen (Kathrin Angerer, schön kess und ironisch) kräht später Friedrich Holländers "Wenn ich mir was wünschen dürfte". Faust trifft auf Grete im Käfig-Raum eines Nachtclubs, wo sie, in Leder ausgezogen, sich mit Männern in Nazi-Uniformen sexuell vergnügt. Auch hier: Goethes "Faust", gesehen mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.

Eine didaktische Wundertüte

Dieser Abend ist mit seinen vielfältigen Anspielungen, mit Filmzitaten aus "Frühstück bei Tiffany", "Taxi Driver", "Apocalypse Now" und Fritz Langs "M", mit Marx-Zitat und Heinz Erhardts gedichteten Kalauern, mit seiner geplant sprunghaften Szenenfolge eine didaktische Wundertüte. Auch schauspielerische Kabinettstückchen gibt es, so, wenn Kathrin Angerer an einem Drehtisch ganz allein ein Gespräch und zwei Haltungen vorführt, oder wenn ihr Bruder Goethes Reimzwang in seinem Monolog witzig ausstellt.

Ob Grete gerettet ist oder nicht, ist hier nicht die Frage. Sondern dass es für alle am Ende des ersten Teils ein langer Tag war. So sitzt man beieinander, ohne zueinander zu finden: Grete spricht Goethe, Faust gruppendynamische Phrasen. "Faust II", ohne klassische Walpurgisnacht, führt die scheiternde "Idealfamilie" mit Helena im Zeitraffer vor, untermalt von der Applausmaschine. Mephista verzweifelt schier an einem Faust, der einfach wieder arbeiten will und sein Ende unter der Schlafmaske erträumt. Der Tod kommt bei gemeinsamer Autofahrt. Ein Unfall, kein Kunststück.

Wo Hoffnung fehlt, bleibt Jubel

Denn das Kunstwerk gibt es nicht mehr, irgendwie und nicht richtig, erklärt Boris Groys im Videointerview, dessen Botschaft den Abend beschließt. Einen Abend, der auf neue Weise doch wieder nur Goethes "Faust" als Bildungsveranstaltung präsentiert: als ein überschlaues, kritisches Diskurstheater mit vielen Erklärungen und einigen Fragen.

Die Grobheit des Springteufelchens, das zwischen den Szenen immer wieder auf der Leinwand erschien, fehlte an diesem bemühten Abend auf der Bühne leider meist. Der uns gelehrt erklärt, was wir längst wissen: Viel Hoffnung bleibt nicht. Sie ist zugrunde gegangen in den weltgeschichtlichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Doch immerhin lassen sich mit Goethes "Faust" die alten Diskurse immer wieder neu führen. Das Publikum war davon begeistert. Jubel in Hannover.


Faust
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Natascha von Steiger, Kostüme: Ellen Hofmann.
Mit: Kathrin Angerer, Sonja Beißwenger, Holger Bülow, Matthias Buss, Mila Dargies, Fabian Gerhardt, Benjamin Höppner, Susanne Jansen, Werner Rehm, Oda Thormeyer und Boris Groys (per Video).

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Max Glauner findet (Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 21.10.2007) grundsätzlich den Ansatz prima, Faust als Phänotyp eines Globalisierungsheroen zu interpretieren – die Idee ist aus seiner Sicht von der Regie aber dann doch insgesamt zu unentschlossen und "seminaristisch aufgeladen" umgesetzt. Schließlich schrumpft der Abend vor seinen Augen zum "dürftigen Baumgarten-Goethe-Gestrüpp". Besonders Faust II treibt ihm nach einem furiosem Auftakt als "Oligarchenposse mit Russenmützen" den Schweiß auf die Stirn. Lob bekommen nur zwei Schauspielerinnen, die klavierspielende souveräne Spielmacherin Sonja Beißwenger als Mephistopheles und Kathrin Angerer als trällerendes Gretchen. "Das war großartig!" seufzt Glauner.

Vielleicht, sinniert Christine Dössel (Süddeutsche Zeitung, 23.10.2007), sei Faust "der moderne Mensch par excellence". Baumgarten greife jedenfalls (fast) alle Aspekte des modernen Menschen auf und "klickt sie an wie Links auf einer Goethe-Website". Man sehe daher einen "frei assoziierenden 'Faust'-Diskurs". Es sei eine "Textrecherche, Fußnoten-Theater, ein philosophisches Schlaumeier-Seminar mit Revue-Charakter". Da wundere es kaum, dass Carl Hegemann, einst Chefdenker an der Berliner Volksbühne, die Dramaturgie übernommen habe, schließlich sehe auch sonst "Vieles" nach Castorf aus. "Sinnliche Sogkraft" habe diese "intellektuelle Schnitzeljagd" aber dennoch, wobei die "szenischen Highlights" der Gretchen-Geschichte gehörten, "weil die Castorf-Schauspielerin Kathrin Angerer einfach ein sensationelles Mädchen ist".

Kommentare  
zum Hannoveraner Faust: Volksbühne pur
Auch hier muß man sich wieder Frage, in welcher Premiere der Rezensent gesessen hat, sprich wo und wann Herr Krug "Das Publikum [..] begeistert" erlebt und "Jubel in Hannover" vernommen haben will? Wenn es dem Kritiker gefallen hat, ist das absolut in Ordnung (wenn auch schwer verständlich), aber warum dieser de facto unwahren Aussagen, um die eigene Anschauung mehrheitsfähig zu machen? So was braucht kein Leser - und auch kein Theater. Zum "Faust" selbst: Der Wertung "Schlaumeierseminar" von Frau Dössel kann ich mich nur anschließen, der Abend war Volksbühne pur; Dialektik, Dialektik, wir klugen und ach so gesellschaftssachverständigen Theatermacher. Mit Herrn Hegemann im Boot hat Herr Baumgarten eine denkbar schlechte Wahl getroffen. Denn Herr Hegemann hat auch nach seinem Ende an der Volksbühne, doch eines mit ihr gemein: Beide sind mittlerweile von vorgestern. Groys blabla, Baudrillard blabla... Immer dieselben Kamellen. Bald gibts dann doch sicher das Büchlein zur Inszenierung: "Kapitalismus und Krampf". Diese Art von verquaster Weltfremde ist in ihrer Aufgesetztheit inzwischen nur noch ein Relikt, das bestenfalls in die Requisite gehört.
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