Das Fest - Christopher Rüpings Adaption des Dogma-Films am Staatstheater Stuttgart
Wahrheit ist Arbeit
von Verena Großkreutz
Stuttgart, 20. April 2014. "Jede Familie hat ein Geheimnis", lautet der Untertitel von Thomas Vinterbergs und Mogens Rukovs Film "Das Fest" von 1997, Gründungsdokument des dänischen Dogma-Handkamera-Kinos. Es geht darin um den sexuellen Missbrauch eines Vaters an seinen Kindern, der unter den Teppich gekehrt wurde wie in so vielen Familien – nach wie vor ein brisantes gesellschaftliches Thema. Die Dunkelziffern sind hoch. Befragungen, die nicht angezeigte Fälle betreffen, kommen stets zu katastrophalen Ergebnissen und besagen, dass 15 bis 30 Prozent aller Mädchen und 5 bis 15 Prozent der Jungen in ihrer Kindheit Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Kindesmissbrauch kommt in allen Gesellschaftsschichten vor und betrifft somit die gesamte Bevölkerung.
Lügen und leugnen
Man kann nur erahnen, wie viele Zuschauer auf den 670 Plätzen des ausverkauften Stuttgarter Schauspielhauses, wo "Das Fest" jetzt in einer Bühnenadaption Premiere hatte, selbst Missbrauchsopfer waren – ob vom Vater, Onkel, großen Bruder. Und man kennt Missbrauchsopfer im Freundes- und weiteren Familienkreis persönlich, ohne dass diese Fälle jemals vor Gericht gelandet wären. Verbrechen, die innerhalb einer Familie geschehen, stehen unter dem Bann der Verschwiegenheit. Das so genannte "Nest" beschmutzt man nicht. Die Verquickung von Sexualität und Macht ist ohnehin ein Tabuthema. In Sachen Familie potenziert sich das noch.
In "Das Fest" ist dann auch erst der Suizid eines Opfers nötig, dass einer sich traut, das Verdrängte ans Licht zu holen. Christians Zwillingsschwester Linda brachte sich um, weil sie die Erinnerung an das Trauma der väterlichen Vergewaltigung nicht mehr ertragen konnte. Auf der Feier zum 60. Geburtstag seines Vaters stört Christian die verordnete Familienidylle und beschuldigt den Vater, ihn und seine Zwillingsschwester als Kinder regelmäßig vergewaltigt zu haben. Jeder in der Familie wusste offenbar davon, aber alle schwiegen, hielten dieses Wissen streng voreinander verborgen. Die Folge seiner "Wahrheitsrede": Man überhört zunächst, dann leugnet man, lügt weiter, will sich nicht erinnern, zwingt Christian sich beim Vater zu entschuldigen, bis der Abschiedsbrief der toten Schwester auftaucht und das Gestrüpp der Lügen, des Schweigens, der Ignoranz zur Vernichtung bringt.
Dynamische Erarbeitung
Regisseur Christopher Rüping begnügte sich in Stuttgart nicht mit einer Nacherzählung des Filmes. Sein "Fest" ist eine recht freie Adaption, im groben Plot übernommen, aber in vielen Szenen und Dialogen wohl auch aus der Improvisation entstanden. Das Personal ist auf den engsten Familienkreis – Vater, Mutter, Großeltern, die drei Geschwister – zusammengeschmolzen. Die Bühne ist eine Lagerhalle voller alter Tische, die zur Festtafel oder zum Laufsteg zusammengestellt werden können.
Erzählt wird keine stringente Geschichte, sondern Schlaglichter daraus. Das psychorealistische Aufklärungs-Kammerspiel des Films mit genauer Figurenzeichnung verfremdet sich auf Bühne zu einem sehr dynamischen Erarbeitungs-Theater, in dessen Mittelpunkt eher Typen stehen als Charaktere, denn das sechsköpfige Ensemble wechselt ständig die Rollen. Und der Mann am Klavier macht Musik. Szenen des Filmes werden erkennbar und verschwimmen wieder.
Im XXL Pullover
Die Kostüme sind übergroße Pullover auf denen die Namensanfangsbuchstaben der Protagonisten eingestrickt wurden: C für Christian und so weiter, Ma und Pa für die Eltern und O für Oma und Opa. Mal trägt Paul Grill den C-, dann den Pa-Pullover, Christian Schneeweiß ist mal sabbernder Opa, mal verzweifelter Sohnemann, dann ist Christian ein Mädchen (Svenja Liesau) mit Schwarzwälder Bollenhut, die dann wieder Mutter ist und so weiter.
Soll dies Wechselspiel eine besondere Form der Familienaufstellung sein oder eher bildhafte Umsetzung des hermetischen Systems Familie, das sich immer wieder selbst erneuert wie der Schwanz einer Eidechse? Alle sind irgendwie Täter, weil sie schwiegen, und alle irgendwie Opfer. Und am Ende zieht einer alle Pullover an, und der andere steht nackt da. Kleistert sich ein, damit die Riesenkonfetti besser kleben, aber das Gemächt decken sie nicht ab bei der erneuten Frontalrede vorm Publikum.
Da muss erst Christians alte Liebe Pia kommen für den Fünf-Minuten-Dauerzungenkuss, der ihn von seinem Familienalbtraum ablenkt, derweil der Vater endlich seine Schuld eingesteht, hoch oben auf vier aufeinandergestellten Tischen. Aber niemand hört ihm mehr zu. Die Wahrheit ans Licht zu befördern war eine Heidenarbeit, aber jetzt, da sie da ist, weiß niemand mehr etwas damit anzufangen.
Offene Fragen
Die Schauspieler stehen am Ende triefend, verklebt, verschwitzt da. Die bejubelt das Publikum. Den jungen Regisseur buht es massiv aus. Wegen des Chaos und der Verwirrung auf der Bühne? Wegen der riskanten, manchmal nervigen Gratwanderung zwischen Comedy und Ernst? Zwischendurch wurde viel getanzt und gesungen – "Stand by your man" oder Matthias Reims in "Verdammt, missbrauch mich" umgedichteter Schlager – und viel gealbert und dumme Witze erzählt ("Was tut eine Blondine in der Wüste? Staubsaugen …").
Oder war es die Redundanz? Es ging ja immer um dasselbe, um die Wahrheit, die jeder kennt, erkennt, aber nicht anerkennt. Oder weil der Abend naturgemäß keine Antwort geben kann, auf die Frage nach dem Warum? Warum tut ein Vater das? Warum schweigt die Familie? Statt den Täter anzuzeigen, wird (sich) weiter gequält, oder man geht. So ist es und so wird es vermutlich auch immer bleiben. Keine erfreuliche Einsicht eines zwiespältigen Abends.
Das Fest
nach dem Film von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov Bühnenfassung von Bo hr. Hansen, in der Übersetzung von Renate Bleibtreu
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind, Musik: Christoph Hart, Dramaturgie: Bernd Isele.
Mit: Maja Beckmann, Paul Grill, Pascal Houdus, Matti Krause, Svenja Liesau, Christian Schneeweiß, Norbert Waidosch (Pianist).
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
"Am Stuttgarter Staatstheater war jetzt zu sehen, was passiert, wenn ein phantasievoller und von sich überzeugter Regisseur das Steuer herumreißt und die Vorlage gegen den Strich bürstet", so Jürgen Berger auf Spiegel Online (22.4.14). Rüping sprenge das Dialogstück und inszeniere eine große Erzähloper. Dass die Figuren laufend die Rollen wechseln "funktioniert über weite Strecken ganz gut und hat den Vorteil, dass Christopher Rüping auf keinen Fall der Versuchung erliegt, ein tonnenschwer lastendes Thema bedeutungsschwanger auf der Bühne zu platzieren."
Im Südkurier (22.4.14) schreibt Monika Köhler: "Statt auf Geheimnis, Scham und seelische Wunden, Verletzung, scharfen Tadel, Unterordnung unter Patriarchat und Familienbande, setzt Rüping auf flache laute Bilder und ein schwer erträgliches Übermaß an Spaß, als traue er den Zuschauern nicht zu, den Sinn des Werks bei einer Umsetzung mit weniger schrillem Klamauk zu erfassen." Die Schauspieler: "zuweilen knapp über Schülertheater-Niveau". "Alles bleibt auf einer Ebene, ohne dramaturgische Dichte, wird im Gegenteil überschwemmt von Albernheit, garniert mit Blödeleien und Clownshütchen".
Rupert Koppold schreibt in der Stuttgarter Zeitung (22.4.2014), die Inszenierung beginne klamaukig in Form eines "ausfransenden Kindergeburtstags". Auch danach bleibe sie "zerstreut und auf Distanz", sie baue keine Spannung auf, trete auf der Stelle. Weil es an Öffentlichkeit fehle, am Resonanzraum, in dem der Schock nicht nur die Familie erbeben lässt, sondern ein ganzes System, werde Christians Anklage verkleinert. Dieses Theater probiere zwar etwas aus. "Aber es will nichts mehr feststellen." Wenn jeder jede Rolle spiele, würden klare Positionen verwischt.
Auch Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (22.4.2014) findet, dass Rüping die gesellschaftskritische Härte des Themas verpasse. "In dem Film, immer noch so aktuell wie bei seinem Erscheinen, sieht man, wie die Erwachsenengesellschaft ... zu ignorieren versucht, was vor über 20 Jahren geschehen ist." Rüping blende die Gesellschaft aus und erzähle aus der Kinderperspektive. Feste Rollenzuschreibungen gebe es nicht: "Jeder Mensch kann Opfer und eben auch Täter sein." Es sei eine "gute Idee", diejenigen zu Wort kommen zu lassen, um "die es geht", dafür auch immer wieder "kindliche Szenen zu kreieren, Konfettiregen, wildes Tischerücken, Wasserschlachten". Dabei allerdings verfehle Rüping den "zweiten Skandal", die Ignoranz der Feiergesellschaft. Da die Inszenierung fast ohne Gäste an der Tafel auskomme, fehle eben auch die "Verleugnung dieser Missbrauchswahrheit durch die Gesellschaft".
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und dass an Stellen rumort wurde, an denen man vielleicht eine gewisse "Anstrengung" empfunden wurde, bedeutet vielleicht eine nicht erbrachte Transferleistung der gewählten inszenatorischen Mittel. Die Wahrheit kann noch "anstrengender" sein, wenn sie mit falscher Heiterkeit und Normalitaet zu ueberspielen versucht.
Ein verbreiteter Irrtum.
Das Fest ist nicht aus Improvisationen entstanden, sonder äusserst sorgfältig erdacht und Wort für Wort von Mogens Rukov und Vinterberg geschrieben. Die Produktions Bedingungen und die Wackelkamera vermitteln zwar den Eindruck der Unmittelbarkeit, aber es war alles minutiös geplant und geprobt.
Auch irgendwie beruhigend, diese Sorgfalt.
Doch gerade durch den Versuch das Schlimme durch Komik zu überspielen und der Kampf der Figuren mit diesem Thema sind, für mich jedenfalls, viel interessanter, als zirka zwei Stunden heulende Figuren zu sehen. Das wäre vielleicht die Reaktion, die viele Zuschauer erwartet hätten, doch ist dies für die Bühne uninteressant im Vergleich zu einer Figur, die zweifelt und verdrängt.
Und dann wäre da noch die Situation, dass es ein Fest zur Feier des 60. Geburtstages der Vaters ist. Zum einen ein freudiger Anlass, doch durch die Aufklärung der Taten des Vaters mutiert dieses Fest zu einem Kampf der Figuren mit sich selbst, in welcher Art sie sich verhalten können/sollen/müssen.
Fazit: Eine durchaus gelungene Inszenierung eines begabten Regisseurs und eines sehr leuchtenden Ensembles, in welcher das so schwere Thema treffend behandelt wurde.
Zu @9: Ich finde, dass die Regiearbeit von Christopher Rüping das in unserer Gesellschaft weithin tabuisierte und verdrängte Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern in gefährlicher Weise verharmlost und bagatellisiert. Wie Sie das in @9 beschreiben, ist das wirklich sehr bedenklich, gerade auch im Hinblick auf die lebenslangen Schicksale der Opfer früher sexueller Gewalt.
Gleichzeitig verweise ich auf die erstklassige und absolut themengerechte Regiearbeit von Stephan Kimmig zum selben Thema Kindesmissbrauch in 3D hin (damals in Stallerhof-3D / letzte Spielzeit von Hasko Weber in Stuttgart). Das war damals bekenntnishaft und natürlich auch beklemmend, zugleich extrem spannend und aufrüttelnd. Dabei grossartiges Theater in jedem Augenblick. Das waren noch Zeiten….
Im "Fest" weiß die Mutter vom Verbrechen des Vaters, leugnet es aber.