Harry Lehmann: Ideologiemaschinen
Vom Erzwingen konformer Anschauungen
12. September 2024. Ideologien kennen keinen Humor. Sie wollen aussortieren, canceln. Der Kulturphilosoph Harry Lehmann untersucht in seinem Essay "Ideologiemaschinen" die Ursprünge und Wirkungsweisen solcher gutmeinenden Ausschlusssysteme, die aktuell die Freiheit von Kunst und Wissenschaft bedrohen.
Von Martin Krumbholz
12. September 2024. Ideologiekritik war einmal ein eher linkes Projekt, marxistischer Provenienz ("Deutsche Ideologie"). Sie diente dazu, Gruppeninteressen zu entlarven, die sich als übergeordnete Werte gerierten. Es ist bezeichnend, dass der Begriff kaum noch auftaucht. Ein Grund dafür könnte sein, dass Ideologien inzwischen durch andere Ideologien ersetzt wurden, die im Prinzip "gut" sein mögen, deren strukturelles Problem aber darin besteht, dass sie sich für nicht bestreitbar halten.
Am Anfang steht die Gruppenpolarisierung
Ideologien, stellt der in Luxemburg lehrende Philosoph Harry Lehmann in seinem Essay "Ideologiemaschinen" fest, sind nicht per se schlecht. Es sind Sprachspiele, die benötigt werden, um gesellschaftliche Positionen zu identifizieren. Allerdings werden diese Sprachspiele heute, dank der digitalen Revolution und vor allem des Smartphones, ungleich schneller in Umlauf gebracht als früher. In kürzester Zeit und ohne Aufwand lassen sich Feedbackschleifen erzeugen, die Existenzen vernichten können.
Am Anfang steht die "Gruppenpolarisierung". Darunter versteht Lehmann den Umstand, dass Meinungen, die vorher gleichmäßig verteilt waren, nach einer Debatte in einer Gruppe sich auf einer Seite des Spektrums versammeln, sich also radikalisieren. Man schafft einen Konsens und einigt sich nicht zuletzt darauf, dass moderate Positionen indifferent wirken.
"Ideologiemaschinen“ nennt Lehmann solche Prozesse, in denen Gruppen ihr jeweiliges Sprachspiel absolut setzen, Kritik daran eliminieren und so einen Machtfaktor etablieren. (Der Begriff "Maschine“ verweist auf den technischen Aspekt daran.) Die im Grundgesetz garantierte Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre definiert der Autor explizit als "Freiheit von dem Zwang, eine Aussage oder Sichtweise als unbestreitbar hinnehmen und gelten lassen zu müssen.“
Systematisches Delegitimieren
Lehmann deklariert seinen Essay als "nichtpolitisch", was heißen soll, dass er nicht einseitig gegen bestimmte Gruppen, etwa linke Aktivisten argumentiert. "Ideologiemaschinen können ein linkes oder rechtes Drehmoment besitzen", schreibt er, und "Cancel Culture", also das systematische Delegitimieren unerwünschter Meinungen, wird natürlich sowohl von links wie von rechts ausgeübt.
Allerdings ist "Cancel Culture" keine Kultur, sondern deren Gegenteil. Zum Beispiel dann, wenn in der Sphäre von Kunst und Wissenschaft politische Kommunikation dominant wird. Wenn also, ganz einfach, "die Grenzen zwischen künstlerischer und politischer Kommunikation immer poröser werden und zu einer Politisierung der Kunst führen, die ihren Kunstcharakter infrage stellt". Indem er dieses Phänomen aufgreift und untersucht, ist Lehmanns Essay genuin politisch.
Risse in Denkgebäuden
Die Berliner Schaubühne gab vor einiger Zeit aus (vermeintlich) gegebenem Anlass ein Statement heraus, in dem es hieß: "Es ist unsere Aufgabe, inner- und außerhalb unseres Theaters Rassismus zu bekämpfen." Dazu bemerkt Lehmann nun: "Ist das tatsächlich die Aufgabe eines Theaters? Künstler sind Spezialisten für Sinnüberschüsse und performative Widersprüche, für Risse in Denkgebäuden und unauflösliche tragische Konflikte. Eigentlich besteht das Tagwerk der Kunst darin, den Faden unablässig wieder aufzudröseln, aus dem die Gesellschaft ihre Narrative spinnt."
Eigentlich besteht das Tagwerk der Kunst darin, den Faden unablässig wieder aufzudröseln, aus dem die Gesellschaft ihre Narrative spinnt.
Harry LehmannHier tut sich also ein Widerspruch auf: zwischen dem Postulat einer "freien Rede", das gerade in der Kunst eine hohe Priorität besitzen sollte, und der sich für unanfechtbar haltenden Dominanz spezieller Werte wie Diversität, Gleichheit, Inklusion, die je bestimmten Definitionen unterliegen.
Vieles von dem, was Lehmann anführt, stammt aus der "Anglosphere", also dem angloamerikanischen Sprachraum, aber es hat hierzulande längst Nachahmung gefunden. Etwa das meiste im Zusammenhang mit Triggerwarnungen und "safe spaces", von denen die Autoren einer Studie mit dem Titel "Das Verhätscheln der amerikanischen Psyche" glauben, dass sie die Resilienz schwächen, sich also letztlich zum Nachteil der Heranwachsenden auswirken. Das künstliche Ausblenden negativer Erfahrungen nimmt bisweilen tragikomische Züge an. An amerikanischen Eliteuniverstäten wird das Campusleben "vollumfänglich ethisch betreut".
Kunst und Konformismus
Natürlich geht es bei alldem nicht nur um hehre Ideale. Es hat sich längst gezeigt, dass amerikanische Juristen mit dem Erzwingen konformer Anschauungen Geld verdienen können (indem sie Prozesse gewinnen – die Ausbreitung der Cancel Culture in den USA ist auch eine Folge nicht klar definierter Rechte).
Aber in der Kunst ist Konformismus keine Option. Man kann um Feinheiten streiten, etwa um den Unterschied zwischen dem "Respektieren" und dem "Tolerieren" gegensätzlicher Anschauungen. Respektieren heißt achten, tolerieren ertragen. Man kann (und sollte) Anschauungen ertragen, ohne sie zu achten. Universitäten und Theater sind im besten Fall Orte, an denen Toleranz eingeübt wird, nicht das Ausschließen von Sprechakten und Sprachspielen, die vorherrschenden Überzeugungen widersprechen.
Man merkt Lehmanns Text jederzeit an, dass er sich um Fairness bemüht, dass er also Phänomene beschreibt, ohne sie grob zu diskreditieren, so ärgerlich sie oft sein mögen. Dieser Vorsatz kann dem Text hin und wieder sogar ein wenig den argumentativen Schwung rauben; vielleicht sollte man gar nicht von einem Essay sprechen, sondern von einer Studie. Statistisches Material, das die Studie unterfüttert, gibt es jedenfalls reichlich. Beispielsweise wurden seit 2014 mehr Professoren an amerikanischen Universitäten aus politischen Gründen entlassen als während der berüchtigten McCarthy-Ära (etwa 200).
Ketzer und Erbsünder
Dass es durchaus polemischer geht, zeigt das hier zitierte Beispiel eines schwarzen Linguistik-Professors an der Columbia-Universität, John McWhorter, der sich einen Spaß daraus macht, die religiösen Züge der "Erweckten" in einer kleinen Synopsis zusammenzufassen. So glauben sie etwa an die Erbsünde (die Erbsünde der Weißen besteht darin, dass sie mit einem "weißen Privileg" ins Leben starten); sie sind evangelikal, das heißt sie versuchen Andersgläubige zu bekehren; sie sind apokalyptisch: sie fiebern dem Tag entgegen, da Amerika sich seinen eigenen Rassismus eingesteht; sie verbannen Ketzer – was offensichtlich ist.
In der Summe jedoch kennen Ideologiemaschinen keinen Humor. Ob rechts oder links gestartet: Toleranz ist ihnen fremd. Und vergessen sollte man nicht: Canceln produziert Canceln.
Harry Lehmann: Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert. Carl-Auer Verlag, Heidelberg. 147 Seiten, 19 Euro.
mehr bücher
- Buch Ideologiemaschinen: Eine Bitte
- #1
- KunstundFreiheit
- Buch Ideologiemaschinen: Klarsichtigkeit
- #2
- J.N.
meldungen >
- 12. Oktober 2024 Sanierung des Theaters Krefeld soll 154 Mio. Euro kosten
- 12. Oktober 2024 Theater an der Rott: Weiterhin keine Bundesförderung
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
neueste kommentare >
-
Woyzeck, Wiesbaden Zum Glück
-
Leserkritik Alle meine Männer, Rendsburg
-
Eines langen Tages Reise, Bochum Mehr als die übliche Instantkost
-
Blue Skies, Hamburg Verharmlosend
-
Bark of Millions, Berlin Ein wissender Jubel
-
Frei, Bremen Aufwachsen bei Väterchen Stalin
-
Woyzeck, Wiesbaden Kein Boomer hat diktiert
-
Woyzeck, Wiesbaden Kindergartenbunt
-
Woyzeck, Wiesbaden Altbacken
-
Glaube, Geld, Krieg..., Berlin Einfach erzählen
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau