Jens Balzer: Ethik der Appropriation
Könige mit fremden Diamanten
24. August 2022. Vom Indianerspiel bis zur Blues-Musik sind die Formen der kulturellen Aneignung über kulturelle und soziale Grenzen hinweg zahlreich – und immer wieder heftig umstritten. Lassen sich gute und schlechte Praktiken der Aneignung unterscheiden? Der Kulturtheoretiker Jens Balzer probiert es in seiner Studie "Ethik der Appropriation".
Von Janis El-Bira
24. August 2022. Man muss ja nicht immer vom Schlechtesten ausgehen. "Cultural appropriation" – klar, das bedeutet in den Augen vieler Ausbeutung, Diebstahl von Geschichte, Kultur und Traditionen, bedeutet Blackfacing und Dreadlocks auf den Köpfen weißer Wohlstandskinder. Aber was ist eigentlich mit dem guten alten Kindheitswunsch, Indianer zu werden? Als edler Winnetou den Bleichgesichtern im Spiel zu zeigen, was wahre Werte sind? Sich die Haut schminken, die Haare lang tragen und den Blick über eine Prärie schweifen lassen, auch wenn sie bloß die Hochheide im Sauerland ist? Tja. Darf man das noch?
Aneignen und Ausnutzen
Ums Dürfen oder Nicht-Dürfen, also die regelmäßig von großer Aufregung begleitete Behandlung des Themas anhand vermeintlicher Verbote, soll es nicht gehen, bekräftigt der Journalist und Pop-Theoretiker Jens Balzer in "Ethik der Appropriation". Auch deshalb fängt sein Essay mit dem Indianerspiel an, weil dieses, anders als das zurecht geächtete Blackfacing, irgendwie unter der Verbotsschwelle hindurchzuglitschen scheint. Indianerspielen – das ist doch intuitiv weniger problematisch als die in jeder Verästelung ihrer Tradition stets rassistische Praktik des Schwarzschminkens. Schließlich wollte schon Franz Kafka, mit dem Balzer beginnt, Indianer sein. Allerdings ohne Sporen und Zügel, ohne Pferdehals- und kopf, mithin also ohne den Kitsch, ohne die Ausbeutung und Aneignung des Fremden. Sitzt demnach wenigstens der Kafka-Indianer als idealisiertes Fantasiegeschöpf im Sattel auf dem Weg zu einer "guten" Form der Appropriation? Es bleibt kompliziert.
Also zunächst und im Sinne einer Differenzierung doch noch einmal zum Schlechten. Auch diesseits des Blackfacings, des Schlechtesten, ist die Geschichte durchzogen von unzähligen weißen Appropriationen nicht-weißer Kulturerzeugnisse. Balzer bleibt bei der Musik: Ob Benny Goodman ("King of Jazz"), Elvis Presley ("King of Rock 'n' Roll") oder Eric Clapton ("König der Blues-Gitarre"), sie alle besetzten ihre Kronen mit gestohlenen Diamanten. "Die Angehörigen einer herrschenden, ökonomisch bessergestellten Mehrheitskultur beuten kulturelle Errungenschaften einer rassistisch diskriminierten, ökonomisch schlechtergestellten Minderheitenkultur aus", lautet Balzers Formel der schlechten Appropriation. "So verwandelt sich die Aneignung in eine Enteignung, die Appropriation in eine Expropriation."
Eric Clapton vs. Public Enemy
Balzer geht es wesentlich darum, dass "schlechte" Appropriation nicht nur in jener Asymmetrie zwischen den Appropriierenden und den Ausgenutzten besteht, die jene, die zum Beispiel Eric Claptons Gitarrenspiel mit ihren Techniken inspiriert haben, in dessen Schatten verschwinden lässt. Vielmehr noch setzen die Vertreter der hegemonialen, appropriierenden Kultur sich selbst als authentisch und total: Clapton wird der Blues-Gitarrist, in dessen Spiel alles, was zur Bluesgitarre dazugehört, aufgehoben scheint.
Aber ist denn demgegenüber die Musik von Robert Johnson oder Elmore James, die – um einmal unfairerweise bei diesem Beispiel zu bleiben – Claptons Spiel nachweislich inspiriert haben, einfach vom Himmel gefallen? Natürlich nicht, und es ist einer der klügsten Züge dieser klugen, immer lesbaren Abhandlung, dass Balzer für diese Feststellung dennoch nicht auf den plumpen Relativismus jener einschwenken muss, die den "cultural appropriation"-Vorwurf mit dem Hinweis auf die grundsätzlich hybride Zusammengesetztheit jeder Kultur vom Tisch fegen möchten. Denn auch wenn gilt, dass es keine Kultur ohne Appropriation gibt, heißt das nicht, dass jede Appropriation gleich ist. Dass in sich zerrissene "Sampling der Identitäten" etwa, das Balzer für die Kunst der Hip-Hopper von Public Enemy beansprucht, verhält sich für ihn zum "Original" völlig anders als die auf Authentizität gerichtete Aneignung Schwarzer Musik durch weiße Künstler: "Der Appropriation schwarzer Musik durch weiße Menschen begegnen Public Enemy mit einer 'counter appropriation'; sie eignen sich eine von der weißen Hegemonie unsichtbar gemachte Tradition wieder an, indem sie ihre Musik mit Zitaten aus dieser Tradition durchsetzen. Ihre Stücke sind Collagen aus historischem Material, womit sie zugleich Ideen der musikalischen Geschlossenheit widersprechen."
Wider das Authentische
Ein anderes Verständnis von Subjektivität ist hier also die Gabelung, anhand derer sich "gute" von "schlechter" Appropriation scheiden ließe. "In der richtigen Form der Appropriierens", schreibt Balzer, "steckt immer auch eine Kritik des Begriffs der Authentizität." Wer "richtig" appropriiert, stellt mit der Appropriation die Geschlossenheit der eigenen Identität und Kultur grundlegend in Frage. Für diesen Gedanken verloren ist freilich, wer Balzers an Deleuze, Foucault, Butler und dem postkolonialen Theoretiker Édouard Glissant entschieden postmodern geschulter Perspektive nicht folgen möchte. Und auch wer eine eher juristisch gefärbte Deutung des Begriffs vom kulturellen Eigentum als Folie auf die "cultural appropriation"-Debatte legt, wird bei Balzer wenige hard facts finden.
Aber wer die mindestens romantische, schlimmstenfalls kolonialistische Vorstellung, jede Kultur habe eine ihr eigene Essenz, dreingibt, der landet mit Balzers angenehm unterspanntem "cultural appropriation"-Crashkurs eben weder im Anything Goes, noch beim kurzatmigen Verbotsfuror – sondern auf dem harten Boden der Einzelfallprüfungen. Die sind bekanntlich anstrengend, aber als Einzelfall wird bei Balzer im Rückgriff auf die eigene Biographie selbst das Indianerspiel tendenziell rettbar: Als "ethnic drag" eines Jungen aus westdeutscher Provinz, der mit langen Winnetou-Haaren und geschminktem Gesicht die Grenzen der eigenen geschlechtlichen Identität als porös erfuhr. Das ist, was "gute" Appropriation in aller Ambivalenz sein sollte: Eine respektvolle Spieleröffnung, ein Gesprächsanlass.
Ethik der Appropriation
von Jens Balzer
Matthes & Seitz Berlin, 87 Seiten, 10 Euro
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Ethnic-Drag wird hier auch recht salopp verwendet, aber das ist nur ein Diskussionspunkt - das mit der Fremdbezeichnung echt schade, dass das durch die Redaktion geht
Aus diesen Gründen verwenden viele auch reflektierte Fachleute den Begriff Indianer weiter, so zum Beispiel die Historikerin Heike Bungert. Sie hat 2020 ein Buch geschrieben, das heißt: "Die Indianer: Geschichte der indigenen Nationen in den USA". Auch sie hält das Wort Indianer für unproblematisch. Also bevor man aus einer Art moralischem Narzissmus heraus einen anderen Sammelbegriff wie "Native Americans" benutzt haben will, was ja noch viel ausgrenzender ist (ein Native American ist ja irgendwie was Anderes als ein American, oder?) und auch so wahrgenommen wird von vielen betroffenen Americans, sich erst einmal lockern.
Und zweitens: Beides (Indigene und Native Americans) im übrigen ebenfalls problematische Termini für zahlreiche der damit Gemeinten - das 'National Museum of the American Indian' (sic) z.B. empfiehlt in seinen von Mitgliedern der First Nations erarbeiteten Richtlinien wo immer möglich die spezifische Stammesbezeichnung zu verwenden und generelle Sammelbezeichnungen im besten Fall gänzlich zu vermeiden. Erwähnt wird dort aber ebenfalls, dass sowohl "American Indian, Indian, Native American, Indigenous, or Native" grundsätzlich und je nach Kontext akzeptable Bezeichnungen sind.
Vielleicht kann hier überarbeitet werden? Mit Transparenz, damit andere von dem LernProzess profitieren können?
vielen Dank für Ihre kritischen Anmerkungen! Tatsächlich verwendet Jens Balzer im Buch selbst das Wort "Indianer" durchgehend in dem Sinn, wie Lesender (#5) schon richtig beschrieben hat: Als Bezeichnung für eine phantastische Gestalt Bad Segeberger und damit, klar, Karl May'scher Prägung. Hier von "Indigenen" zu sprechen, erschiene mir schlicht falsch. Ich hatte gehofft, das in der Rezension implizit deutlich gemacht zu haben ("edler Winnetou", "Fantasiegeschöpf", die Sauerland-Prärie etc.). Womöglich wäre hier ein expliziter Hinweis aber besser gewesen.
Mit herzlichen Grüßen
Janis El-Bira