Wenn nicht wir, wer dann? - Philipp Ruch pflegt mit seinem politischen Manifest das Genre der Erweckungsliteratur
Wollt Ihr die totale Agonie?
von Dirk Pilz
3. Dezember 2015. Im Epilog dann die entscheidenden Sätze: "Wir müssen uns entscheiden. Jeder Einzelne muss sich bekennen." Das ist die geschichtliche Situation, die dieses Buch von Philipp Ruch behauptet.
Es lebt von der Naherwartung der Apokalypse, von der Suggestion allgemeinen Niedergangs. Deshalb der hektische, aufrüttelnde Ton. Wo Katastrophen drohen, ist keine Zeit mehr für Abwägungen, gedankliche Feinheiten, begriffliche Differenzen. "Es ist unsere Aufgabe als Menschen", heißt es bei Ruch, "Geschichte zu schreiben", und diese Aufgabe stellt sich jetzt. Hier. Sofort. Denn wo die Politik versage, sei es "die heilige Pflicht von Künstlern, Dichtern und Denkern einzuspringen".
Die Schönheit des Unbefleckten
Dieses Versagen der Politik wird nicht nachgewiesen, es ist für Ruch so offensichtlich und allumfassend wie ein Naturgesetz. Unterschiede werden nicht gemacht – heiligen Pflichten sind sie fremd. Sie verlangen bedingungslosen Gehorsam, sie erteilen Befehle. Die Verantwortung für diesen Befehl trägt der Befehlsgeber, die geschichtliche Situation, nicht der Ausführende. Er kann nicht anders als folgsam sein. Der Ruf in solche Pflicht ist entsprechend absolut, es ist der Ruf zur Jüngerschaft.
Insofern ist dieses Buch in allem streng geradlinig, nirgends beliebig, nie kompromissbereit. Sein Motto lautet: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Sein Glaube gilt der moralischen Reinheit, der unbefleckten Schönheit einer Rechtgläubigkeit, der Wahrheit, die höher ist als alle Vernunft. Wollte man nach Geistesverwandten dieses Ausschließlichkeitsdenkens suchen, man müsste von Schriften der frühen Konfessionalisierung sprechen, von Calvin, von den Bilderstürmern. Sie haben gelehrt, dass die Wahrheit brutal sein kann, ihre Jüngerschaft herzlos.
"Wenn nicht wir, wer dann?" ist diese Schrift betitelt. Wenn nicht wir die Welt retten, wer dann? Eine rhetorische Frage, die Antwort kann nur lauten: niemand. Also macht sich schuldig, wer sich seiner Pflicht entzieht, wer sich nicht bekennt, wer zögert, womöglich nach anderen Wegen sucht. Das ist der Druck, den dieses Buch erzeugen will. Es kennt kein Pardon. Es teilt die Welt in Ihr und Wir, in Gefolgsleute und Abtrünnige. Es kann auch nicht anders: Wer den Visionen der Reinheit folgt, braucht das Unreine als Feind, es kann den Abweichler nicht anders als verachten.
Das Gift des Denkens
Solche Bücher gibt es viele. Sie gehören ins Genre der Erweckungsliteratur – die eigene Erleuchtung wird zum moralischen Maßstab aller erhoben. Dabei hat Ruch seiner Erweckungsgeschichte das Gewand der Ideengeschichte übergeworfen. Seine keineswegs neue These: Es gibt "toxische Ideen". Ideen, die die Menschen "vergiften", die Gesellschaften "verheeren", den Tod der Humanität bringen. Es sind die Ideen des Individualismus, der "Entzauberung des Menschen". Ruch spricht von "Mangel der Seele", von "Sozialdarwinismus", vom "Dampfkessel des Relativismus", von Nihilismus, Mitleidlosigkeit. Er predigt wider die "Selbstbezogenheit" und die "Ideologie von der Hässlichkeit des Menschen". Der moderne Mensch habe die Welt "von Wundern befreit", er "sucht in sich, statt außer sich".
Augustinus hat so geschrieben, Girolamo Savonarola so gepredigt. Sie kommen bei Ruch nicht vor, die Auseinandersetzung mit ihnen hätte Ruch Differenzierungen abverlangt, die kann er nicht gebrauchen. Er hat statische, zurechtgestutzte Feinde. Sie heißen Sigmund Freud und Thomas Hobbes. Sie sind bloße Statthalter in seinem Reinheitsreich des moralischen Rigorismus. Den Gewährsleuten ergeht es nicht anders, sie heißen Aristoteles und Rupert Neudeck.
Man lernt in diesem Buch weder über die einen noch über die anderen etwas; es verzichtet auf alle Mühen, die Ambivalenz von Ideen herauszuarbeiten, konsequenterweise verzichtet es auch auf Quellenverweise, überhaupt auf Quellenarbeit. Es werden Pappfiguren errichtet, es werden Pappfiguren umgeworfen. Die Philippika wider die Hirnforschung zum Beispiel, überhaupt die Darstellungen des naturwissenschaftlichen Denkens: weitgehend substanzlos.
Alles oder nichts
Mit Grund allerdings. Ruch sucht nicht Auseinandersetzung, er will keinen Streit der Argumente, er ficht mit rhetorischen und moralischen Mitteln für sein Menschen- und Weltbild, für einen aggressiven Humanismus. "Demokraten muss es um politische Kompromisse gehen. Aggressiven Humanisten geht es um Gerechtigkeit." Gerechtigkeit duldet keinen Widerspruch, sie braucht keine Fußnoten, kann beim Selbstzweifel nicht haltmachen. Das ist die Botschaft. "Jede Zeit hat ihre Demagogen", sagt Ruch, "aber diesmal ist vieles anders: Unsere Agonie ist total." Wie viele Behauptungen stimmt auch diese nicht. Aber sie zeigt die Denkrichtung dieses Buches: Es zielt auf das Totale, auf ein Alles-oder-Nichts.
Dieses Buch macht frösteln. Es predigt einen Humanismus ohne Barmherzigkeit, Gerechtigkeit aus schierem Prinzip, nicht aus Mitmenschlichkeit. Vor solcher Gerechtigkeit fürchte ich mich wie vor den Ideologen des Unrechts. Es gibt auch eine Technokratie des Mitleids, eine apparathafte Liebe, die im anderen nichts als ein bloßes Objekt sieht.
Ist dieses Buch damit erledigt? Es bleibt richtig, die vielen himmelschreienden Ungerechtigkeiten anzuklagen. Es bleibt notwendig, wider den Inhumanismus einer demokratischen Gesellschaft zu streiten, die, zum Beispiel, aus Geflüchteten Objekte macht. Es bleibt richtig, dass man das Denken am Handeln erkennt, die Ideen an ihren Werken. Aber es gibt auch eine Genauigkeit des Handelns. Mit diesem Buch ist sie nicht zu gewinnen. Im Namen welchen Wirs ist es eigentlich geschrieben?
Und noch etwas. Es gibt jetzt allerlei hämische, herablassende Stimmen, die mit diesem Buch auch die Aktionen des Zentrums für politische Schönheit als erledigt abheften: Der, wie er sich nennt, "Chefunterhändler der politischen Schönheit" hat ein Buch geschrieben, also können die Aktionen nicht anders sein als dieses Buch. Das halte ich für naiv, ein schnappartiges Denken. Wäre das ZpS eine Partei, müsste man sie aus den wählbaren Optionen ausschließen, ja. Es ist aber eine Plattform für Aktionen, im besten Fall für Kunst. Und die Kunst ist gottlob klüger als der Künstler. Auch die Aktionen des Zentrums für politische Schönheit sind klüger als dieses Buch seines künstlerischen Leiters.
Philipp Ruch
Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest.
Ludwig Verlag, München 2015, 207 S., 12,99 Euro
Im August 2015 veröffentlichte Philipp Ruch auf nachtkritik.de seine poetologischen Thesen: Wir haben das Theater, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen.
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Lieber Herr Pilz, ihren Artikel finde ich größtenteils unzureichend, ihre Argumente dürftig: "Dieses Buch macht frösteln (...)Gerechtigkeit aus schierem Prinzip(...) vor solcher Gerechtigkeit fürchte ich mich". Ich finde diese Argumentation, wenn man ihre spontanen Gefühlsbekundungen so nennen mag, sehr, sehr dünn aus verschiedenen Gründen:
1. Was halten sie von Sophie Scholl? Die hatte eisenharte humanistische Prinzipien, hat gar gefordert dass tausende deutsche Soldaten sterben damit das Deutsche Reich den Krieg verliert, um größeres Unrecht zu verhindern. Läuft es Ihnen da nicht auch kalt den Rücken runter?
2. Gerechtigkeit aus schierem Prinzip, nicht aus Mitmenschlichkeit - daran stören sie sich. Sie sind scheinbar ein sehr sensibler und intensiv fühlender Mensch, wenn ihre Emotionen so starken Einfluss auf ihre Rezension haben, aber reicht ihre Mitmenschlichkeit aus um mit 50.000 Hungertoten am TAG zu fühlen? Reicht sie aus um die 6. Millionen Toten des Holocausts zu betrauern? Und wenn sie das nicht tut, ist dann die Forderung nach Gerechtigkeit nicht kaltherzig, weil sie ohne Empathie für alle diese Menschen geschieht? Ihre eigene fühlende Mitmenschlichkeit kann das Ausmaß all dieser Morde und Menschenrechtsverletzungen doch gar nicht erfassen, wie also sollten wir sie anders bekämpfen können als durch PRINZIP? Ich finde diesen ihren Gedanken, sehr, sehr, sehr kurz Herr Pilz und würde mich freuen wenn Sie das einsähen, (...).
Außerdem kritisieren Sie, das Buch ziele auf das "totale Alles-oder-nichts" - ja mei, es geht nun einmal um Leben und Tod, um alles oder nichts, lieber Herr Pilz. An unseren Außengrenzen aber auch bei den recht wahrscheinlichen Völkermorden des nächsten Jahrhunderts (inspired by "2099") wird es um alles oder nichts gehen. Wenn wir dann keine starke, handlungsanleitende humanistische Überzeugung haben, halten Sie es nicht auch für wahrscheinlich dass wir diesen Völkermorden wieder tatenlos zuschauen?
Ich freue mich über Antworten
Schöne Grüße
M. Ehrlich
Ausserdem habe ich mich gefragt, wie schnell auch ich irgendwelchen "Führern" bzw. "Autoritäten" nacheifere, bevor ich beginne, selbst zu denken und aus mir selbst heraus zu fühlen und zu handeln. Humanismus hilft nämlich leider nicht, die institutionellen (Macht-)Strukturen zu ändern, im Kleinen wie im Großen, da liegt das ganze Problem. Es geht so schnell, dass wir in irgendwelchen Menschen einen Spiegel suchen, im Guten wie im Schlechten, anstatt hinter dem Spiegel nachzuschauen, ob da nicht auch noch was ist. Was Einzigartiges.
Ich würde schließlich gern wissen, was Philipp Ruch mit "heilige Pflichten" meint. Und ob demnach der aggressive Humanismus nur für Christen gilt. Was ich absurd finden würde, weil das ja wieder inhuman wäre bzw. Menschen ausschließen würde, die zum Beispiel einen Humanismus existentialistischer Art meinen. Kann ich mir also nicht vorstellen, dass das so gemeint ist. Denn: Nicht nur Christen sind "die Guten" und schon gar nicht sind sie immer nur gut oder andersrum: "Die Guten" sind nicht immer nur Menschen christlicher Konfession. Zudem die Religion ja auch gern mal für Kriege instrumentalisisert wird. In God we trust? Oh no!
Ich würde Ihnen empfehlen das Buch unbedingt zu lesen. Wenn Dirk Pilz behauptet, es handele sich um "Erweckungsliteratur", hat er natürlich insofern Recht, als dass Ruch uns erwecken will aus einem Zustand in dem wir etwa 50.000 Hungertote am Tag stillschweigend aktzeptiert haben. Dass das Buch von der Apokalypse lebt, wie Pilz behauptet und die "Verklärung des Ausnahmezustandes" stattfindet, wie Ullrich uns in der ZEIT erzählt, hat seinen Grund darin, dass wir apokalyptische Verhältnisse haben, in Syrien. Wir haben dort die Apokalypse und wir haben den Ausnahmezustand in unzähligen Entwicklungsländern Afrikas und Asiens wo Kinder verhungern und wir haben ihn an der Außengrenze der EU, in Sichtweite vom Strand werden dort durch unterlassene Hilfeleistungen ganze Familien ausgelöscht. Dass Pilz und Ullrich hier so tun als werde der Ausnahmezustand herbeigeredet, zeigt doch nur dass sie das wahre Ausmaß menschlicher Tragödie, die wir verhindern können, selbst ausblenden oder einfach noch nicht erfasst haben.
Liebe Inga, meinen Horizont hat das Buch darüber hinaus erweitert, dass es nicht nur die Möglichkeit gibt bewusst zu konsumieren. Es versucht unsere Phantasie in Bezug auf Katastrophen der Menschlichkeit zu erweitern und verändert unser Slbst- und Menschenbild. Du wirst nach der Lektüre nicht darum herum kommen, dich shcön zu fühlen. Warum beispielsweise, erklät die Bundesregierung nicht zu ihrem Ziel, die Zahl der Hungertoten am Tag in 10 Jahren auf null zu reduzieren? Das könnte sie tun und es würde etwas bewirken. Wir können als Deutsche noch viel mehr bewirken als uns eigentlich bewusst ist, das ist die "Schönheit der Demokratie". (siehe Buch)
Die Lektüre dieses Buches hat mir einen ganz neuen geistigen und Handlungshorizont erschlossen. Auch und gerade in Bezug auf das Menschenbild, das eine humanistische Politik automatisch nach sich zieht.
Bezüglich heilige Pflicht: Ich glaube Ruch meint damit, dass es für ihn zur Rolle des Intelektuellen gehört bei Missachtung der Menschenwürde einzugreifen, ansonsten disqualifiziert man sich eigentlich als ernstahfter Debattenteilnehmer, der uns etwas zu erzählen hat. Mit dem Christentum hat das an dieser Stelle nichts zu tun.
Sie sehen, ich bin überzeugt. Bin gespannt was Sie mir antworten, wenn Sie es denn lesen werden.
Schöne Grüße
M. Ehrlich
"Man lernt in diesem Buch weder über die einen noch über die anderen etwas;"
Man lernt vor allem, und das ist die Vorraussetzung für alles andere, etwas über SICH SELBST. Stimme da überhaupt nicht zu, Herr Pilz.
Starkes Stück. Das Buch ist das beste Mittel gegen die kommenden Winterdepressionen, liebe Intelektuelle.
Schönes Wochenende mit der Lektüre, bin in den nächsten 2 Stunden durch.
Profanius