Der künstlerische Leiter des Zentrums für politische Schönheit Philipp Ruch zum Verhältnis von Theater und Wirklichkeit
Wir haben das Theater, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen
von Philipp Ruch
Berlin, 19. August 2015.
1. Zur Freiheit der Kunst
Der Begriff der Kunstfreiheit wird gerade bei Aktionskunst gerne rein legalistisch interpretiert. Die Kunst sei völlig frei. Sie kann sich aber diskreditieren. Wir haben das mit unseren Arbeiten nicht vor und die Langzeitwirkung unserer Aktionen dürfte davon künden, dass wir der Kunst eher zur Ehre gereichen und ihr zu neuem Recht verhelfen, die Gesellschaft zu verändern. Zumindest der politischen Kunst, die viele Beobachter in dieser Form nicht (mehr) für möglich gehalten haben und jetzt politischer Kunst eine Renaissance attestieren.
Die Kunst ist völlig frei. Diese Freiheit geht weit über das hinaus, was in einem legalistischen Sinne darunter gefasst wird. Menschen, die mit den Kunst- und Theaterdiskursen alltäglich befasst sind und über dieses Thema viel schöner und präziser schreiben könnten, wissen das längst. Ich will aber als ersten Denkvorstoß anbieten, dass die Kunst auch und gerade so frei sein muss, Menschenleben zu retten.
Das ist vielleicht die letzte sinnvolle Grenze, mit der es das so provokationserfahrene 20. Jahrhundert nicht aufgenommen hat. Wenn Zuschauer oder Kritiker dem Zentrum für Politische Schönheit verbieten wollen, Menschenleben zu retten, dann haben sie möglicherweise einen zu zeitgemäßen Kunstbegriff. Ich möchte einen unzeitgemäßen dagegen halten: Die Kunst ist völlig frei. Nicht nur im rechtlichen Sinne, sondern gerade im ethischen. Und das ist bekanntlich jener Abschnitt des Horizonts, aus dem politische Schönheit überhaupt herabscheint.
Die Freiheit der Kunst ist auch nicht nur so zu verstehen, dass Kunstwerke alles sagen und tun dürfen, was der Künstler für sinnvoll erachtet. Völlige Handlungsfreiheit birgt immer das Risiko, sich gerade in künstlerischen Entscheidungen zu diskreditieren. Das wirkt auf die Kunst zurück, hat aber doch weniger mit ihr als mit der Intelligenz des Kunstschaffenden zu tun. Im Rahmen der Kunstfreiheit Menschenleben zu retten, sprengt vielleicht auf sinnvolle Weise die letzte Konvention auf, die der Kunst im 20. Jahrhundert von Kunsttheoretikern, Publikum und Rezensenten auferlegt worden ist und die die Kunst stillschweigend geschluckt hat. Es ist, wie Heinrich Böll dem letzten großen Menschenrechtler Deutschlands, Rupert Neudeck, diktiert hat, unfassbar schön, einen Menschen zu retten. Diese Schönheit war und ist das Territorium der Künste.
2. Transformation von Kunst und Gesellschaft?
Wenn es um den Grundverdacht geht, dass sich das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft grundlegend gewandelt habe, bin ich kein Freund derartiger Ansichten. Ich sehe etwas ganz anderes: weite Teil der Künste, insbesondere des Theaters, haben das Erbe der politischen Aktionskunst, insbesondere nach der causa Schlingensief, durch das gegenteilige Handeln wieder beerdigt. Die Intendantin des HAU sah sich beispielsweise "gesellschaftlich" genötigt, einem Künstler im vergangenen Oktober in die laufende Aktion hineinzugreifen und diese vor den Augen der Öffentlichkeit abzubrechen – wahrlich nicht ohne ihn dazu zu verpflichten, den Abbruch als "gemeinsame Entscheidung" zu verkaufen (mehr hier). Das ist eine merkwürdige Auffassung dessen, was die Rolle eines Intendanten ist. Dass das anders geht, beweist das Theater, das 2014 zum "Theater des Jahres" gekürt wurde. Die besten Intendanten und die besten Kuratoren sind jene, die für hinreichende Bedingungen sorgen, damit Kunst entstehen, atmen und vielleicht sogar sterben oder sich diskreditieren kann. Intendanten sind nicht dazu da, der Kunst die Luft zu rauben und dem Raubtier, dass die Öffentlichkeit sein kann, nachzugeben. Die besten Kuratoren und Intendanten lassen vielleicht aber auch nur Künstler ans Werk, von denen sie sicher sind, dass sie die Kunst und damit sich selbst nicht diskreditieren.
Ich kann beim besten Willen keine Veränderung im Verhältnis von Kunst und Gesellschaft erkennen. Was wir im Fall des HAU attestieren können, ist ein Mehr an Feigheit, das Kulturschaffende beschämen muss. Berlin war einmal berühmt dafür, ganz andere Dinge auszuhalten und durchzuziehen – auch und gerade gegen den Willen der Öffentlichkeit. Das Skandalon eines Abbruchs von Kunst, nicht deren Geburt, sollte Intendanten den Stuhl kosten. Kultur hat mit Mut zu tun. Aber wenn man an die Wiener Aktionisten und ähnliche Strömungen denkt, dann ist in Sachen Heftigkeit und "gesellschaftlicher Auseinandersetzung" noch viel Potenzial nach oben. Der Erste Europäische Mauerfall etwa war in seiner konzeptuellen Anlage noch nicht einmal eine kontroverse Aktion.
3. Kunst als Schützenhelferin der Gerechtigkeit
Ich wurde darum gebeten, das Verhältnis von Recht und Kunst an einer Aktion durchzuspielen. Die "25.000 Euro Belohnung"-Aktion haben wir vor drei Jahren an der Berlin Biennale gemacht, einem Ort, dem es damals mehr an Geld, denn an Mut mangelte. Es gibt die Rechtsordnung der BRD. Die verbietet jedem von uns, auch nur eine einzige Kalaschnikow an Drittstaaten zu verkaufen. Diese Rechtsordnung enthält aber Fehler. Sie denkt selten in großen Dimensionen. Also erlaubt sie zum Beispiel den Familien Bode und von Braunbehrens, 270 Panzer neuester und präzisester Technologie, an das Regime in Saudi-Arabien zu liefern. Saudi-Arabien ist im Ranking des Economist die siebtschlimmste Diktatur der Erde.
Die Rechtsordnung, nach der es mir mit einer UG oder GbR nicht möglich wäre, legal Waffen an Diktaturen zu verkaufen, ermöglicht es den etablierten Waffenherren, eben das zu tun. Das Zentrum für Politische Schönheit hat 2012 versucht, diese Rechtslücke zu schließen und diese "Herren" – die 38 Eigentümer des Panzerkonzerns Krauss-Maffei Wegmann – ins Gefängnis zu werfen. Was ist das Recht der Kunst? Sie darf 25.000 Euro als Belohnung darauf aussetzen, Hinweise auf eine Straftat zu finden, die die Besitzer des Panzerherstellers mit Milliardenumsätzen, ins Gefängnis wirft. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Multimillionäre, gerade wenn sie am globalen Waffenhandel beteiligt sind, in Sachen Geldwäsche oder Steuerhinterziehung straffällig geworden sind.
Viele Beobachter haben diese Aktion als nicht ganz legal wahrgenommen. Aber war die Aktion widerrechtlich? Nun, manchmal sind illegale Maßnahmen notwendig, um die Menschheit zu schützen. Es ist für Widerstand eher atypisch, dass er gesetzlich abgesichert ist. Nicht erst das Beispiel Elser macht das vor. Bis heute wird Elser in der pazifistischen Bundesrepublik im kollektiven Gedächtnis eher als eine Art Karteileiche geführt. Auch der Blockbuster-Kinofilm konnte daran nicht rütteln. Das Zentrum für Politische Schönheit ist dem Selbstverständnis nach Schützenhelferin des Rechts. Man nenne es das historische Recht, Naturrecht, Recht der Menschheit, dem wir da mit Aktionen auf die Sprünge helfen. Es mag den Zeitgenossen illegal erscheinen. Aber in einer überzeitlichen Rechtsordnung sieht das vollkommen anders aus. Wir sind einzig darauf bedacht, Rechtslücken zu schließen und Widersprüche wie die neuen EU-Außenmauern zur Detonation zu bringen.
4. Die neuen Mauern: ein Verbrechen an der Menschheit
Gesetze sollten dem Schutz der Menschheit dienen und Gesellschaften besser machen. Es kommt aber vor, dass Gesetze Menschenleben gefährden und die Gesellschaft schlechter machen. Dann ist der Augenblick von "illegalen" Maßnahmen gekommen. Dann loben wir 25.000 Euro Belohnung aus. Oder wir rufen dazu auf, die Mauern um Europa herum abzureißen. Die Gesetze gegen Flüchtlinge und Einwanderung gefährden Hunderttausende Menschenleben. Menschen ertrinken auch jetzt, während Sie das hier lesen, weiter. Wir haben das nicht so genannt, aber diese neuen Mauern sind ein Verbrechen an der Menschheit. Dieses Verbrechen ist es, das sich in den Geschichtsbüchern (über uns) an uns rächen wird.
Die Notwendigkeit, gegen alle geltenden Gesetze, gegen den Widerstand des BKA, der Bundespolizei, Interpol und was weiß ich, welche europäischen Stellen sich gegen den "Ersten Europäischen Mauerfall" aufgebäumt haben, diese Mauern jetzt einzureißen, diese Notwendigkeit wird in den kommenden Jahren eher wachsen als schrumpfen. Es kommt deshalb in unserer Arbeit nicht wenig darauf an, retrospektiv zu denken.
5. Die Gesellschaft nicht in eine Selbstbefragung, sondern zu Selbsterkenntnis zwingen
Der fünfte Denkanstoß berührt das Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung selbst. Wie ein Berliner Theaterkritiker unsere Aktionen bilanzierte: "Es gibt keine einfachen Lösungen." Eine Erkenntnis, die er unseren Aktionen angemerkt haben will. Ich kann dem nur etwas vom Selbstverständnis beifügen, eine Abwandlung der berühmten Worte Nietzsches über Kunst: Wir haben das Theater, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen.
Jenseits der Rettung von Menschenleben, jenseits der überbordenden Mutlosigkeit Deutschlands, jenseits der Illegalität aller Maßnahmen, schlagen über unseren Aktionen nicht selten "hässliche" Erkenntnisse zusammen, die wir im besten Falle "provozieren" konnten: Die Ignoranz der wahren Probleme. Beim "Ersten Europäischen Mauerfall" ist dies das Diskutieren über Berliner Lokalpolitik statt europäischer Rettungspolitik. Bei Die Toten kommen ist es das Diskutieren über die Grenze der Kunst statt über die Grenzen der EU und die Empörung über die zerstörte Reichstagswiese (übersät von Gräbern) statt über die Leichenberge an den Rändern des Kontinents.
Als Theatermacher kann und muss man über die Ironie seiner Werke schmunzeln. Aber das Schauspiel spricht Bände über unsere gesellschaftliche Verfassung. Aktionskunst operiert auf einem Gebiet, das unseren sozialen Gesundheitszustand indiziert. Zukünftige Historiker werden vielleicht darin einen Spiegel für unsere Zeit finden, einen Wasserstand der intellektuellen und diskursiven (Un-)Fähigkeiten. Wir könnten uns aber auch alle selbst darin erkennen. Die Aktionen genügen sich selten darin, das Publikum wie bei Nicolas Stemann nur zu befragen. Sie setzen einen Schritt vorher an: Sie zwingen zur Selbsterkenntnis. Sind wir wirklich so human, wie wir glauben? Die totale Verunsicherung dieser Erkenntnis an der umnachteten Wirklichkeit ist es, die uns interessiert. Deshalb suchten wir beispielsweise im Namen des Bundesfamilienministeriums 55.000 Pflegefamilien, die wenigstens ein Prozent aller betroffenen syrischen Flüchtlingskinder aus der Apokalypse retten. Dafür haben wir die "Kindertransporthilfe des Bundes" geschaffen. Gegen die Hilfsaktion konnte die Bundesregierung bis heute nichts ausrichten. Die Bundesregierung wirbt bis heute um Pflegefamilien für ein Hilfsprogramm, dass sie nicht machen will. Wir nehmen noch nicht einmal ein Prozent der Kinder auf. Wer sind wir eigentlich? Es geht darum, dass Deutschland vor sich selbst erschreckt.
Aktionskunst muss sich im Zweifelsfall aber zwischen gesellschaftlicher Selbsterkenntnis und der Rettung von Menschenleben entscheiden, wie es auch Stemann vorschwebt. Ein Theatermacher, dem die Begrenztheit seines Tuns nicht einleuchtet, der sich gegen die heimliche Ironie seiner Stücke wehrt, stellt sich gegen das Theater selbst und gehörte eher in den Raum der NGOs oder des Aktivismus.
Von jenen Mauern, die wir zum 25. Jahrestag des Mauerfalls der deutschen Öffentlichkeit vielleicht als erste überhaupt präsentiert haben – die bulgarische Stacheldrahtmauer wurde im Sommer 2014 erst fertig gestellt –, von diesen Mauern führt eine direkte Linie zu den Bildern der Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa. Es reichte nicht, die Bilder dieser Särge zu sehen. Aber beides, Särge und Mauern, passt nicht zum Selbstbild, das wir von uns haben. Sie bedeuten den Zusammenbruch unseres Anspruchs auf ethischen Fortschritt. Eine Katastrophe, die mitten im Theater ausgeleuchtet gehört.
Philipp Ruch ist der künstlerische Leiter des Zentrums für politische Schönheit, das bekannt geworden ist durch sein "Theater im öffentlichen Raum" und zu Beginn der kommenden Spielzeit 2015/16 am Theater Dortmund erstmals das Theater im Theaterraum ausprobiert. Dieser Text ist die Nachbearbeitung eines Vortrags, den Ruch am 18.2.2015 im Rahmen der Veranstaltung "Phantasma und Politik #10 – Das Recht der Kunst" im HAU Berlin hielt.
Mehr lesen: In der Berliner Gazette hat Wolfgang Müller die Arbeit des Zentrums für politische Schönheit (ZPS) mit Schlingensiefs verglichen – Zusammenfassung in unserer Presseschau vom 17. August 2015. Und im Deutschlandradio erklärte der oben von Philipp Ruch erwähnte Nicolas Stemann unlängst sein Konzept der theatralen Repräsentationskritik und äußerte sich seinerseits über die Aktionskunst des ZPS, zusammengefasst hier.
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Gute Frage: "Kann man sich selber im Spiegel erschrecken?" http://www.gutefrage.net/frage/kann-man-sich-selber-im-spiegel-erschrecken
The Sinking of the Titanic ist eine Arbeit des Künstlers Gavin Bryars, die vielleicht am ehesten beschreibt, in was für einer Position der Künstler ist. In dieser Musik wird beschrieben, wie die Musiker auch nach dem Untergang der Titanic immer noch weiterspielten. Kunst ist vielleicht ein Spielen über den Tod hinaus, aber echte Menschenleben retten, tun Ärzte, Helfer, die Menschen, die die Flüchtenden dem Meer entreißen, und das sind in der Mehrzahl keine Künstler.
Ich finde hier sollte man sauber unterscheiden. Die Schönheit, ein Menschenleben gerettet zu haben , scheint im seltensten Falle auf Künstler herab. Auch ist Menschenleben retten im Kern keine politische Handlung, sondern ein menschliche. Bis heute hat die Wissenschaft nicht wirklich das Funktionieren von Altruismus erklären können, warum der eine Mensch dem Ertrinkenden seine Hand reicht und der andere nicht. Und auch in der Kunst kenne ich kein Werk, dass diesen Moment wirklich ergründen könnte.
So edel der Gedanke von Ruch ist, Leben retten zu wollen, so falsch könnte eventuell auch sein Ansatz sein. Lebensrettung kann das Thema, der Gegenstand von Kunst sein, aber wirklich retten tun meistens die Anderen, die Nicht-Künstler. Und wenn Künstler beginnen Leben zu retten, produzieren sie dabei im seltensten Falle Kunst. Das ist wohl etwas, das Philipp Ruch missversteht.
@ martin baucks: Stimmt denn das, dass Künstler ihr eigenes Leben, und das anderer gleich mit dazu, zerstören? (...)
Zwar ist er mit dem Satz: "Aktionskunst muss sich im Zweifelsfall aber zwischen gesellschaftlicher Selbsterkenntnis und der Rettung von Menschenleben entscheiden." schon sehr nah an einer Selbsterkenntnis, aber er verweigert sie sich wiederum in dem Moment, wo er den Zuschauer in eine Selbsterkenntnis, in ein Bewusstsein schmerzhaft hineinzwingen will. Er biegt den Moment der Selbsterkenntnis auf den Zuschauer um. Das macht die Figur "Ruch" für einen Schauspieler so unangenehm zu spielen, da er sich selbst herausnimmt aus dem Prozess des Bewusstwerdens und wie ein sächsischer Aristokrat am Rande steht und es genießt, wie die Objektive sich langsam auf ihn drehen, um seine falsche Zurückhaltung und Bescheidenheit abzufilmen.
Wäre Ruch eine Figur in einem Theaterstück, dass ich verfasste, würde ich versuchen die Zuschauer dazu zu bringen über ihn zu lächeln und zu schmunzeln, als einen, der meint über den Dingen zu stehen und doch so tief in ihnen verstrickt ist, dass er nicht erkennt, dass er, und was er für eine Rolle spielt.
"The collective power that is common to these spectators is not the status of members of a collective body. Nor is it a peculiar kind of interactivity. It is the power to translate in their own way what they are looking at."
Kein Regisseur, auch nicht Ruch, kann seine Zuschauer in eine bestimmte Form von Selbsterkenntnis zwingen. Denn das Wesen der Selbsterkenntnis ist ja, dass sie ganz ohne das Zutun eines anderen stattfindet. Und zwar im Kopf des Rezipienten.
Aber ganz krieg ich's immer noch nicht zusammen. Kann das einer bitte noch konkreter formulieren? Was spricht eigentlich dagegen? Das Recht?
Grundsätzlich kann Phillip Ruch machen was er will. Nur ist seine Arbeit ebenso einer Kritik ausgesetzt, wie viele Theaterarbeiten. Auch ist es schwierig bei Ruch von Zuschauern zu sprechen im üblichen Sinn. Er zwingt ja seine Betrachter durch ein Netzwerk in die Aktion mit hinein. Er ruft sie auf sich dazu zu verhalten. Und das führt häufig zu recht undifferenziertem Agieren und Darstellen, und wirft ein kindliches Licht auf all sein Tun. Wer nur außen steht und nur betrachtet, ist wahrscheinlich im Werteempfinden eines Ruchs sogleich aussortiert. Man muss eben mitbuddeln können unter seiner Aufsicht vor dem Reichstagsgebäude, sonst gehört man nicht mit zu seinem Hort. Die Dinge anders zu sehen als er, ist an sich nicht vorgesehen. Ruch will Zwang ausüben auf den Betrachter.
Jetzt muss ich aber nochmal Sie fragen, denn Sie sprachen vom Hineinzwingen, und ich fragte mich, ob das als Metapher gemeint ist oder tatsächlich körperlich. Bei dieser Aktion jedenfalls gab es für mich keinerlei Zwang. Nicht mal einen minikleinen. Ha ha ha. Die Menschen, die an dieser Aktion teilgenommen haben, haben es doch alle erstmal freiwillig getan, wenn auch manche dann leider von der Polizei angegriffen und sogar festgenommen wurden, ohne Grund. Oder gab es doch einen? Ist da irgendwer vielleicht bisschen wütend geworden? Und heisst Anarchismus nicht erstmal nur Freiheit von Machtausübung? Von jeglicher Machtausübung? Und das ohne Gewalt? Friedlich?
Ruch braucht tatsächlich keine Schauspieler, er steht da nur rum, ob nun positiv oder negativ, und wartet darauf, dass Menschen an seiner vorangekündigten(!) Aktion teilnehmen. Ist doch prima gelaufen, haben doch alle wunderbar mitgebuddelt, hat doch geklappt, das Ganze. Wo ist denn da Zwang? Sie hätten ja nicht mitmachen müssen. Haben Sie denn? Ich habe es von vornherein nicht getan, weil mir nicht klar wurde, warum es hier nicht um die Rettung Lebender, sondern um die Beerdigung Toter ging. Das kam mir persönlich zynisch vor, und gerade nicht moralisch oder ethisch. Das konnte/durfte doch jeder selbst entscheiden. Oder inwiefern nicht?
Ruch stellt seine Haltung doch als relativ alternativlos dar und so könnte man leicht meinen, er zielt auf eine von ihm vorbestimmte Selbsterkenntnis. Zumindest erkenne ich keine dialektische Haltung, die eine Gegenposition mitdenkt. In dem Sinne ist der Zwang nicht direkt, sondern sublim, den er ausübt.
Er stellt Stühle bereit, und wer sie nicht einnimmt, an denen meint er eine Geisteshaltung ablesen zu können, weil sie abwesend bleiben. Aber die Abwesenheit von Politikern bei jener Beerdigung lässt mehr als einen Rückschluss zu.
Ich kann hier ja auch mal einen digitalen Stuhl für Herrn Ruch bereit stellen, und behaupten, wenn er ihn nicht einnimmt und nicht mitdiskutiert, wäre er ein "unkommunikativer Autokrat". Das wäre ebenso unfair und unzulässig.
Somit kann man sagen, der Zwang, der von Herrn Ruch ausgeht, ist subtil, und man möchte nicht gerne von ihm lernen, wenn es überhaupt sinnvoll ist den Zuschauer in eine Lernsituation zu versetzen, wie sie meinen Frau Inga.
Ruch hat einen Feind vor Augen, den er belehren und zur Erkenntnis zwingen möchte. Es ist aber so, wie es häufig ist, gerade eben dieser Feind besucht seine Vorstellungen nicht. Und so stösst er meißtens auf Gleichgesinnte und die Auseinandersetzung löst sich in Wohlgefallen auf.
Grundsätzlich möchte ich den Aktionen des ZfpS gar nicht die Schlagkraft absprechen, jedenfalls einigen. Die Beerdigung eines (oder mehrerer?) ertrunkenen Flüchtlings auf deutschem Boden, das ist eine geniale Idee. Die Umsetzung war leider um einiges schlechter. Sie bestand schließlich nur noch in einem Medientamtam um die Figur Ruch herum, wurde künstlich aufgebauscht mit einem "Marsch der Entschlossenen", der dann doch nur wieder Symbolpolitik betrieb und "Theatergräber" vor dem deutschen Bundestag grub.
Ruch beschwert sich darüber, dass die Diskussion immer wieder an den wirklichen Problemen vorbei führe. Dabei tragen seine künstlerischen Entscheidungen daran Mitschuld. Wie hier bereits festgestellt worden ist, liegt Ruch nichts an einer selbstkritischen Auseinander mit seiner künstlerischen Arbeit. Denn seiner Meinung nach ist es ganz einfach: Wenn andere seine Kunst nicht verstehen oder kritisieren, dann sind sie einfach nicht so schlau wie er. Wer hat eigentlich die berufen, die sich berufen fühlen?
da haben sie vollkommen Recht. Wenn es dazu kommt, dass die Themen, welche Ruch vorschweben, nicht ins Zentrum der Debatte geraten, dann liegt fast einzig und allein an seinen falschen Setzungen, seinem künstlerischem Unvermögen den Focus wirklich zu richten.
Dialektik ist doch drin. Ich sehe die jedenfalls sofort, wenn man den bereits genannten youtube-Film anschaut. Denn einerseits geht es hier um das Thema Geflüchtete bzw. die Toten aus dem Mittelmeer. Die sollten beerdigt werden. Nun kommt aber die bereits genannte Frage auf, ist das vor allem Kritik an der Sympolpolitik der deutschen Regierung oder ernst gemeint? Und wenn ernst gemeint, was ist da los, wenn unzählige Menschen wie wild drauflosbuddeln? Für tote Geflüchtete? Los, schnell, noch mehr Gräber ausheben! Es werden immer mehr!? Wer da keine Ironie bzw. keinen Zynismus drin sieht, na ja. Um wen geht es hier eigentlich? Um diejenigen, die buddeln oder um Trauer und Mitgefühl mit den Toten? Am Ende wird sich noch beschwert über die Festnahme durch die Polizei und die eigenen Blessuren, aber ich erkenne auch da einen ironischen Unterton? Geflüchteten ergeht es im Umgang mit Polizisten oftmals sicher noch schlechter. Und was sind Blessuren gegen den Tod? Entschuldigung, auch ich möchte hier jetzt nicht zynisch werden, aber ich erkenne da nunmal all diese Widersprüche, keine Ahnung, ob das beabsichtigt war. Es gibt allerdings sicher Menschen, die die Geflüchteten lieber tot als lebendig sehen würden, (...) Diese Haltung ist nicht nur eine von extremen Rechten, sondern leider bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wir sollten die Geflüchteten daher lieber stark machen und mit ihnen für ein gutes Leben für alle kämpfen, anstatt ihnen Gräber zu buddeln.
Ich meine, schon allein dieser Titel "Die Toten kommen". Da möchte man doch gleich ergänzen: Und die Lebenden?!
Nehmen wir doch einmal an, Philipp Ruch ist so reflektiert wie man dies auch von ihm erwarten könnte. Dann spielt auch er nur seine Rolle in den Inszenierungen des ZfpS (und auch dieser Text wäre Teil der Inszenierung). Und diese Rolle ist natürlich die des intellektuellen Führers mit der moralischen Keule und der Vision, der der Sehnsucht der Menschen nach einem klaren moralischen Kompass entspricht und uns entbindet von der lästigen Pflicht zum selber denken. Diese Rolle treibt er nun ins Extrem, damit wir zu der Selbsterkenntnis gelangen können, diese Führung eben nicht zu brauchen! Das wäre eine wahrlich intellektuelle Leistung eines Künstlers.
Und liebe Margarete, da wird sich Ruch unendlich freuen, dass nun jemand beginnt etwas in ihn hinein zu orakeln, eine Größe, etwas Extremes, das wird ihm schmeicheln, sicherlich. Wahr ist, er funktioniert ganz gut als Projektionsfläche. Auf Grund seiner Unschärfe im Auftritt kann man alles Denkbare in ihn hinein fabulieren. Er hat die Struktur eines Stars, aber nicht eines intelektuellen Führers, der seine Entbehrlichkeit demonstriert.
Auch denke ich nicht, dass er zu einer freien Selbsterkenntnis aufruft. Er fragt im Ganzen schon vorhandene Meinungen und Bilder ab, in einer Situation, in der man fast völlig neu ansetzen müsste,historisch gesehen. Ruch arbeitet ohne einen ernst zunehmenden Überbau. Und eine Selbsterkenntnis, die zu dem Schluss kommt, wir können Flüchtlinge nur begrenzt aufnehmen. Gäste, die ihre Flüchtlingsheime auf Grund einer Koranschändung zerstören, sind sofort auszuweisen. Man muss zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Asylsuchenden unterscheiden und die zu erst genannten umgehend ausweisen. All diese Selbsterkenntnisse sind von Ruch nicht gemeint. Das heißt er steigt nicht wirklich in die Debatte ein. Die behandelt er als schon geführt und entschieden. Das ist naiv Denn diese Debatte muss erst noch erneut geführt werden. Am Ende steht vielleicht ein Einwanderungsgesetz und ein neues Asylrecht, das man auch vom nichteuropäischen Ausland aus wahrnehmen kann oder ähnliches. Das wissen wir noch nicht. Aber eines ist sicher, mit Phillip Ruch durschreiten und schreiten wir nur längst bekannte Rituale ab, die wir alle schon aus der Vergangenheit kennen.
In einem Interview mit der taz hatte Ruch behauptet, nur er als Intellektueller könne gesellschaftliche Leerstellen füllen, indem er Diskurse anstoße, die am Ende neue Tote verhindern. Und dort sprach er auch davon, dass er die Wirklichkeit inszeniere und die Politikerinnen und Strafverfolger in diesen nur die für sie zugedachten Rollen einnähmen. Also mutmaßte ich, Ruch näme dann die Rolle des Intellektuellen ein.
Schlussendlich bleibt mir nur zu sagen, dass Philipp Ruch und das ZfpS besonders gut die Aufmerksamkeit auf sich lenken können, aber das, was man dann zu sehen bekommt, ist ein Medienspektakel aber in meinen Augen keine große Kunst.
Auf die Koranschändung kam ich, weil ca. neunzig Flüchtlinge ein deutsches Flüchtlingsheim auf Grund eben einer solchen Schändung zerstörten. Es stehen sich eben nicht nur der rechte Krieger und der gute Flüchtling gegenüber, wie Frau Völcker uns weiß machen will, sondern das Spektrum derer, die an diesem Konflikt beteiligt sind , ist bei weitem umfangreicher.
(Liebe Inga, lieber Martin Baucks,
es wäre tatsächlich wünschenswert, wenn die Kommentare sich wieder konkreter in die Richtung von Philipp Ruchs Text bewegen würden.
Beste Grüße aus der Redaktion)