Entscheide dich!

von Dirk Pilz

Berlin, 7. November 2013. In den Berliner Sophiensaelen ist auf drei Etagen eine Ausstellung eingerichtet. Das klingt harmlos. Aber hier wird viel gewollt, sehr viel, nämlich das Ganze. Dazu später, zunächst sei die Chronistenpflicht erfüllt.

Es ist eine Werkschau, "Die Enthüllung des Realen" betitelt. Gezeigt werden Inszenierungen, die Milo Rau und sein International Institute of Political Murder (IIPM) von 2009 bis 2013 geschaffen haben. Es gibt Bühnenbilder als Modell und in Echtgröße zu sehen. Man darf vor Fernsehern sitzen, Kopfhörer tragen und Ausschnitte aus Inszenierungen betrachten, aus Die letzten Tage der Ceaușescus (2009) zum Beispiel, oder aus der Weimarer Arbeit Breiviks Erklärung (2012). Von Hate Radio (2011) ist der Glaskasten aufgebaut, in dem die ruandische Hass-Radio-Sendung durchgespielt wurde. In einem Raum kann einer Aufzeichnung der Moskauer Prozesse zugeschaut werden. Es gibt auch einen Dokumentarfilm darüber, Ausschnitte dürfen aber, anders als ursprünglich geplant, doch nicht gezeigt werden; er wird auf der kommenden Berlinale seine Premiere feiern und ab März 2014 in den Kinos laufen.

Wie wollen wir leben?

Natürlich kann diese Ausstellung nicht das Theater ersetzen, noch nicht einmal abbilden. Die Moskauer Prozesse fühlten sich für mich in Moskau nicht nur anders an, sie waren anders. Sie erzählten dort auch von einer zerrissenen Gesellschaft, von einem Russland, in dem die Frage, wozu es Kunst braucht und was sie darf, kein Thema misslauniger und zynischer Feuilletonisten ist, sondern den gesellschaftlichen Glutkern berührt. Auf einer Leinwand in Berlin wirkt die Inszenierung eher wie ein ethnographischer Bericht über eine Welt, die für westliche Bewohner bestens geeignet sein mag, sich der eigenen Rechtschaffenheit zu versichern.mlee-179März 2013: Die Moskauer Prozesse © IIPM / Maxim Lee

Überhaupt lebt die gesamte Ausstellung von diesem Oha-Effekt: Was es nicht alles an Realität zu enthüllen gibt! Und wie interessant das alles ist! Die Kunst hat es sehr schwer, nicht im gierigen Magen der Kulturindustrie zu verschwinden.

Anderseits lässt diese Werkschau etwas hervortreten, das in Milo Raus Arbeit zentral ist. Es ist das Ganze, um das es ihr geht. Und dieses Ganze bündelt sich in einer Frage, deren Antwort gleich mitgeliefert wird. Die Frage lautet: Wie wollen wir leben? Die Antwort: Nicht weiter so wie bislang. Denn weiter so heißt stracks auf den Untergang zu, nicht nur ökologisch, sondern auch bewusstseinsmäßig, mental, geistig.

Saulus oder Paulus?

Zur Ausstellungseröffnung gab es eine Podiumsdiskussion, bei der Milo Rau sagte, es gehe ihm immer darum, "Situationen zu schaffen, in denen eine Entscheidung getroffen werden muss". Entscheidungen, die es uns nicht erlauben, sich vor der Frage zu drücken, in welcher Welt wir leben wollen. "In denen etwas auf dem Spiel steht, in denen es um etwas geht." Um das Ganze, um die Welt, die Zukunft, nicht nur um mich oder das Theater oder die Kunst. Genau damit haben es seine Inszenierungen zu tun, ja. Ob man ihnen das schicke Label Reenactment verpasst, sie mehr in eine Linie mit Bert Brecht oder der Postdramatik stellt (das wurde auf dem Podium länglich diskutiert), ist unwesentlich, eher eine Sache für Begriffsklauber und Sofakissendebatteure.HATERADIO DanielSeiffert hoch x2011: Szene aus "Hate Radio" © Daniel Seiffert

Man kann dieses Pathos des Entscheidenmüssens (bitte nicht mit Pathetik verwechseln! Danke.), den theaternormalbetrieblichen Reflexen gehorchend, bedenklich finden und den darin enthaltenen Ernst als reaktionär oder konservativ oder neoexistenzialistisch oder sonst wie schmähen. Aber man verfehlt damit die Substanz der Arbeit von Milo Rau. Es geht in ihr nicht um die Durchsetzung einer Gesinnung oder Moral, schon gar nicht um die Etablierung einer bestimmten Spiel- oder Darstellungsweise, es geht nicht um Anklage oder Aufrüttelung, nicht um Konservative oder Neo-Irgendwelche, sondern um – ja, Entscheidung.

Der Vater solchen Denkens ist der neutestamentliche Paulus, ist die Alles-oder-Nichts-Logik, dass alles, wirklich alles, von der einen Entscheidung abhängt: Wo Saulus war, muss Paulus werden. "Wir können als die, die wir sind, als Menschen, die in der Welt leben, der religiösen Möglichkeit nicht entronnen sein wollen." Das ist von Karl Barth, dem Theologen, er schrieb es in seinem Paulus-Buch über den "Römerbrief".

Oder Lenin?

Man muss, um das von Milo Rau aufgerufene Pathos der Entscheidung zu begreifen, also von Religion reden. Das mag zwar einen Theaterbetrieb verblüffen, dem zur Religion in der Regel entweder nur irre Terroristen oder doofe Naivlinge einfallen. Aber Milo Raus Arbeiten zielen auf genau diesen Punkt, auf einen Glauben ohne Gott: Wir können als die, die wir sind, als Menschen, die in dieser Welt leben, der revolutionären Möglichkeit nicht entronnen sein wollen. Der Möglichkeit "einer grundsätzlich anderen Währung des Glücks und der Anerkennung".

Von dieser Möglichkeit redet ein Essay Milo Raus, der pünktlich zur Ausstellung erschienen ist; er heißt "Was tun?", zitiert also Lenin, der sich bekanntlich als gottbefreiter Erlöser versuchte (und auf seine Weise der paulinischen Logik nicht entkam). Das Buch ist über weite Strecken ein Wutausbruch, eine polemische Abrechnung mit "den Linken" und "der Postmoderne", mit dem Typ frustrierter Zyniker, der Gutmensch spielt und aus der Frage "Was tun?" ein "Was lieber nicht kaufen?" gemacht hat. Das ist über weite Strecken unterhaltsam zu lesen, weil öfter treffend und häufig schön bissig. Man wünscht sich den Text inszeniert, hingedampft von Klaus Maria Brandauer zum Beispiel, oder eingespeist in die Herbert-Fritsch-Inszenierungsmaschine. Würde hervorragend funktionieren.

Wir haben die Wahl

Aber auch hier: Milo Rau meint es ernst. Er sagt, es habe sich "auskritisiert", das "Gequassel" müsse ein Ende nehmen, vor allem das von der angeblichen Kompliziertheit der Verhältnisse,  eine der Lieblingsleerformeln unter Theatermachen wie Kritikern gleichermaßen, die meist nur eine Schutzbehauptung ist, ein Freibrief, sich mit den Verhältnissen nicht weiter zu befassen, schon gar nicht, sie ändern zu wollen. In Wahrheit sind sie furchtbar einfach. In Wahrheit, so Rau, kommt es darauf an, "noch einmal von vorn anzufangen". Um die Utopie "dem Teufelskreis von Kapitalismuskritik und unfreiwilliger Systemoptimierung" zu entwinden. Um den Kommunismus zu retten.

Also haben wir doch keine Wahl? "Nein, wir haben die Wahl. Aber eben nur genau diese." Was tun? Nicht Revision, sondern Revolution.

Das steht im Buch, das erzählt diese Ausstellung, davon handeln die Inszenierungen. Milo Raus Kunst träumt von einem "besseren Realismus", weil sie den Traum von einer anderen Welt nicht aufgegeben hat.

 

Die Enthüllung des Realen. Eine Ausstellung
von Milo Rau
Konzept und künstlerische Leitung: Milo Rau, Bühnenbild und Ausstattung: Anton Lukas, Produktion und Kuration: Eva-Maria Bertschy, Mascha Euchner-Martinez, Milena Kipfmüller, Sound- und Videodesign: Jens Baudisch, theoretische Mitarbeit: Rolf Bossart

www.sophiensaele.com

Katalog
Rolf Bossart (Hg.):
Die Enthüllung des Realen.
Milo Rau und das International Institute of Political Murder.
Verlag Theater der Zeit, Berlin 2013, 192 S., 18 Euro

 

Milo Rau
Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft.
Verlag Kein & Aber, Zürich 2013, 68 S., 7,90 Euro

 

Kritikenrundschau

"Nein, Milo Rau ist noch nicht tot, feiert keinen 75. Geburtstag und hat auch nicht den Ehren-Faust bekommen," schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (9.11.2013), die die "Werkschau" in den Sophiensälen als ebenso peinliche wie "erschreckend sorg- und anspruchslos zusammengehaune" Kraftmeierei empfindet. Zwar räumt sie ein: "Nur wenige Theater der jüngsten Zeit haben sich so in die Realität eingemischt und reale Wirkung gezeitigt, wie seine 'Reenactments'". Dieses von Rau wiederentdeckte Format der scheinbar unverfälschten "Reinszenierung" berge offenbar Sprengkraft. "Aber worin liegt sie?" In unzähligen Videos sehe man diverse Reenactmens vorbei flackern, "aber keine Kurzbeschreibung bringt Nichtinsider auf ein Mindestmaß an Sachstand. Als dann aber die angekündigte Abenddiskussion beginnt und auch keiner der 'Experten' sich ansatzweise für all die Widersprüche interessiert, die in Raus Real-Theater und Polemiken selbst auf Widerspruch warten, merkt man, wo man tatsächlich gelandet ist: im Werbeblock."

 

Kommentare  
Enthüllung des Realen, Berlin: nichts außer Theater?
Aber lenkt Rau nicht auch davon ab, dass er auch nichts tut, außer Theater.
Enthüllung des Realen, Berlin: Einspruch des Sofakissen-Moderators
Einspruch, lieber Dirk: Die heftige Zurückweisung der Postmoderne, wie sie Milo Rau im Lenin-Essay und auch im gestern vorgestellten Buch betreibt, ist zentral für sein Theaterverständnis. Um darin auch ein Stück Rhetorik erkennen zu können, muss man solche Fragen diskutieren. In dem Fall ist das also wesentlich. Wie diese Fragen gestern diskutiert wurden, überlasse ich dem Urteil der Kritiker, also zum Beispiel dir. Aber Begriffsklauberei und Sofakissendebattiererei, nennen wir es beim Namen: Glasperlenspiel wären nur dann als Vorwurf angebracht, wenn die diskutierten Begrifflichkeiten nicht selbst von Rau derart offensiv ins Spiel gebracht würden. (Info für alle, die nicht da waren: ich war der Sofakissenmoderator…)
Enthüllung des Realen, Berlin: alles schön weit weg
furchtbar einfach, das sind offensichtlich in erster linie milo raus arbeiten. in meinen ohren klingt es beunruhigend, wie es diesem menschen gelingt, diese recht banalen aufbauten mit extrem marketingbewusster großmäuligkeit als etwas zu verkaufen, das in der lage wäre, etwas vorher ungesehenes oder ungedachtes zu enthüllen. tatsächlich bekommt der besucher genau das, was er erwartet. damit ist die arbeit denkbar ungeeignet, politisch etwas zu bewegen. "es geht ums ganze", yes we can. das pathos, das sowol aus dem munde milo raus als auch aus dem artikel von dirk pilz spricht, das ist das pathos einer wahlkampagne oder eines apple-keynote-events. solche rethorik ist in erster linie dazu geeignet, den verstand zu vernebeln. schluss mit der kritik? das ist ein anliegen, das absolut konträr zu dem bertolt brechts ist. dieser vorgeblich "neue" realismus ist vermutlich desswegen in deutschland so erfolgreich, weil das politische unrecht immer bei den nachbarn, aber nie vor der eigenen haustür aufgespürt wird. russland doof? na klar, da sind sich hier alle politischen lager einig. die Ceaușescus? wer mag die schon? Breivik? eine willkommende schauerfigur für raus politisches gruselkabinet. alles schön weit weg. die inszenierungen garantieren hierzulande den absoluten konsens. das ist das gegenteil von politischen theater. grüß gott.
Enthüllung des Realen, Berlin: reines Nachstellen
ein bravo dem vorredner

und: was am reinen nachstellen politischer/realer akte ist theater?
Enthüllung des Realen, Berlin: was sich nicht begrifflich erledigen lässt
Lieber Tobi,
ich wollte gar nicht in Frage stellen, dass die Zurückweisung der "Postmoderne" für die Arbeit von Milo Rau wichtig ist; das steht ja auch unmissverständlich in dem Essay "Was tun?". Ich wollte lediglich sagen, dass die Diskussion um diesen Begriff nicht verdecken sollte, worauf der Essay und, so meine ich, auch die Inszenierungen immer wieder hinauslaufen, eben auf die Frage "was tun?", die sich nicht begrifflich erledigen lässt; insofern sind Begriffsfragen unwesentlich. Mir schien es jedenfalls bezeichnend, dass in der Podiumsdiskussion sehr viel über Formen und Begriffe geredet wurde, aber es einige Scheu gab, die Was-tun-Frage beim Wort zu nehmen, also konkret zu werden, also über den Kommunismus, den Rau im Essay ins Spiel bringt, zu reden. (Ich glaube das Wort Kommunismus fiel gar nicht.) Und mit dem Kommunismus wird es ja auch heikel.
Aber wahrscheinlich hast Du recht: Man muss die Begriffe diskutieren, man sieht es ja an dem Kommentar Nr. 3 von kirillov hier, der den Standardvorwurf bringt, dass Milo Rau nur Sachen thematisiere, die "weit weg" liegen, nur weil er auch Fälle verhandelt, die nicht vor der Haustür stattfinden. Das ist ja nicht nur sachlich falsch (siehe die "Zürcher Prozesse"), sondern verfehlt m.E. die Inszenierungen selbst, weil es nicht darum geht, Russland zum Beispiel zu belehren und zu "vernebeln", was "bei uns" zu kritisieren ist, sondern sie, die Inszenierungen, zielen auf ein Grundsätzliches, das nicht an Landesgrenzen halt macht.
Mit besten Grüßen,
Enthüllung des Realen, Berlin: zur Theorie/Praxis-Opposition
Stimmt, Dirk, das K-Wort kam nicht vor. Es ging auch nicht in erster Linie um die Polemik Was tun, sondern um die intellektuelle Festschrift Der Einbruch des Realen. Ich sehe die Opposition, die du aufmachst, einfach nicht. Jene zwischen den Begriffsklärungen und der Haltung/Situation/Moral des Rau-Theaters (eine gängige Theorie/Praxis-Opposition, die die Postmoderne, dies beiseite, doch eigentlich erledigt hat) - beide Dinge kamen zur Sprache gestern. Allerdings weder in einem kommunistischen noch einem theologischen Vokabular, das stimmt, wie gesagt. Ich vermute, Du stehst stark unter dem Eindruck der Moskauer Prozesse, die Du gesehen hast, und die wir gestern aus rechtlichen Gründen nicht ausschnittweise zeigen konnten. Für die andern Arbeiten Raus sehe ich das Moment der Entscheidung nicht als zentral an, und wenn ich ihn richtig verstanden habe: er selbst auch nicht. Oder was gibt es bei Hate Radio zu entscheiden?
Enthüllung des Realen, Berlin: Hinweis von Milo Rau
Ein Kommentar bzw. Hinweis von meiner Seite: Das Abendprogramm zu "Die Enthüllung des Realen" ist 3stufig, d. h. gestern wurden formale und im weitesten Sinn ästhetische Fragen verhandelt, heute geht es um 20.15 Uhr in "What is to be done" (eine von Manifesten von Rabih Mroué und Dmitry Vilensky gefolgte Lesung aus "Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft") sehr konkret, so denke ich, um die gute alte Was-tun-Frage - und am Samstag geht es dann in der Pogromnacht in der Schweizer Botschaft mit den "Berliner Gesprächen" realpolitisch zur Sache.
Enthüllung des Realen, Berlin: nicht fertig mit den Fragen
Aber nicht doch, lieber Tobi, kein Gegeneinander von Theorie und Praxis; das wäre nun wirklich ein schlimmes Missverständnis. Ist der anspruchsvolle (keineswegs neue, aber deshalb nicht weniger anspruchsvolle) Versuch in Milo Raus Arbeiten nicht vielmehr, beides in Beziehung zueinander zu setzen, wenn nicht zu verbinden? So dachte ich. Und erschöpft sich "Hate Radio" wirklich in Betroffenheit (wie es gestern aus dem Publikum hieß)? Geht es nicht auch (auch!, nicht nur) um die Frage, "was denn nun zu tun ist"? Ich bin jedenfalls noch nicht fertig mit diesen Fragen, noch nicht so weit, um hier überhaupt in Oppositionen ordnen zu können (oder zu wollen). Und Milo Rau hat ja schon darauf hingewiesen, dass die gestrige Diskussion lediglich eine erste Runde war und in den Folgeabenden fortgeführt wird.
Mit besten Grüßen,
Enthüllung des Realen, Berlin: stärkste Momente wenn man muss
Ich war gestern nicht bei Milo Rau sondern bei einer kleineren Veranstaltung, aber beim Stichwort "Entscheidung" möchte ich mich einklinken. Wenn man "Entscheidung" auf die Rezipientenperspektive bezieht, gab es für mich bei Hate Radio schon etwas zu entscheiden. Die Kluft zwischen sympathisch-kumpelhaften Radiomoderatoren und dem Sendungsinhalt bzw. dem Wissen um die historische Verortung dieser Sendung in einem Völkermord zwingen mich zu einer Entscheidung, gerade weil das alles unkommentiert gezeigt wird. Aus diesem Grund fand ich damals auch den Teil der persönlichen Schicksalserzählungen der ruandischen Schauspieler dramaturgisch am "schwächsten", da hier immer so eine "Empörungs-Aufklärung" (so habe ich das gestern bei der anderen Veranstaltung genannt) droht. Wenn eben nur das "Oha" kommt, dann gibt es nichts mehr zu entscheiden, dann ist schon alles klar.
Aber die stärksten Momente sind die, in denen man - trotz der gesamtgesellschaftlichen Einhelligkeit darüber, wie z.B. das Propagandaradio zu beurteilen ist - innerhalb der Theateraufführung oder Performance oder des Reenactment an diesem Abend trotzdem etwas entscheiden muss. (Und es geht nicht nur um die Entscheidung, ob man den Abend doof oder gut finden soll.)
Enthüllung des Realen, Berlin: was muss ich entscheiden?
was genau enthüllen den nun milo raus arbeiten, was bei den ausgesuchten themen nicht schon vorher in großbuchstaben an die wand gemalt ist? und inwiefern machen sie nicht an landesgrenzen halt? letzteres suggeriert, daß die auswahl der politischen schauplätze bei der analyse dieser arbeiten keine rolle spielen würde. wenn wir von politischen theater reden, dann müssen wir auch thematisieren, was es aussenpolitisch eigentlich zu bedeuten hat, wenn mit deutschen fördergeldern nach moskau gefahren wird, um dort einen kalkulierten skandal anzuzetteln. anschliessend wird dann mit dem absolut voraussehbaren einreise verbot in den deutschen medien furore gemacht. angela merkel wird sich gefreut haben.

auch matthias weigel kann nicht erklären, was der zuschauer denn nun in einer milo rau aufführung entscheiden muss. etwa für oder gegen den völkermord? für oder gegen den völkisch-nationalen massenmörder? für oder gegen den autoritären, russisch-orthodoxen klüngel?
ich verstehs nicht. erklären sie es mir!

sich entscheiden, das musste der zuschauer sich bei den arbeiten von schlingensief, wie zb "ausländer raus". von einer derartigen politischen brisanz ist milo rau jedoch lichtjahre entfernt, da es bei ihm keine wiederspüche gibt. das grundsätzliche, das große ganze, das scheinen mir nun wirklich alles allzu leere worthülsen zu sein, die, so lange es so schön nebulös bleibt, niemanden wehtun. wenn dann aber mal ganz konkret der kommunismus angesprochen wird, dann wird es plötzlich (endlich!) heikel. fehlt bei aller rührung über den angriff auf das große ganze dann doch der radikale wille zur veränderung?
Enthüllung des Realen, Berlin: Gesellschaft kann nicht abgelehnt werden
Die oben beschriebene Entscheidungs-Aufforderung ist ein spezifischer Fall von Blindheit; denn sie schließt die Möglichkeit aus, dass das, was als Gesellschaft sich realisiert hat, zu schlimmsten Befürchtungen Anlass gibt, aber nicht abgelehnt werden kann.
Enthüllung des Realen, Berlin: beherzter Goethe
Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan,
und keinen Tag soll man verpassen,
Das Mögliche soll der Entschluss,
beherzt am Schopfe fassen

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Enthüllung des Realen, Berlin: besser Kroesinger statt Rau
das pathos der entscheidung, das klingt dann doch eher nach carl schmitt als nach lenin. wer die entscheidung derart autoritär einfordert, der sollte mit gutem Beispiel vorangehen und sich als erster entscheiden und zwar dazu, wirklich mit dem "als ob" aufzuhören, also: mit dem theater. also real einzugreifen in die realität. was tun: ein attentat auf putin? breivik im gerichtssaal umlegen? oder doch lieber diejenigen benennen, die den genozid in ruanda zu verantworten haben, weil sie die ethnischen unterschiede rassistisch festgeschrieben haben: die deutschen kolonialherren. aber solche historischen zusammenhänge lernt man bei hans-werner kroesinger, nicht bei milo rau. das ist der unterschied zwischen dokumentarischen theater mit politischem anspruch und pr. gute nacht!
Enthüllung des Realen, Berlin: Würstchenverkäufer
wieso die aufregung? die letzte verbliebne entscheidung ist die kaufentscheidung, das kann man hier doch in wunderbarer offensichtlichkeit beobachten (s. kommentar 7). und natürlich ist der, der das ende des geschwätz fordert der größte schwätzer: so viel zur enthüllung des banalen. interessanter ist doch, warum theaterkritiker drauf abfahren, dass ein theatermacher (mal wieder) das ende des theaters fordert. erinnert an vegetarische würstchenverkäufer. die freuen sich natürlich, wenn jemand plötzlich gegrillte gürkchen anbietet. nur sollte man sich so was dann von ihnen nicht wieder als würstchen verkaufen lassen. das ist aber auch schon alles.
Enthüllung des Realen, Berlin: unverhohlen
Wo kommen wir da hin, wenn jetzt sogar an einer Buchpräsentation "unverhohlen" ein Buch "beworben" wird, wie die Berliner Zeitung kulturkritisch analysiert. Da sagt noch jemand, wie es wirklich ist!
Enthüllung des Realen, Berlin: Kunst ist keine Praxis
...und das darf man heute nicht mehr: kulturkritisch sein, also gegen die Verwandlung aller Kultur in Würstchen? Und gegen das barbarische "Praxis first" wie Theodor W.: "Kunst ist keine bessere Praxis als die herrschende, sondern gar keine." Aber das hier besprochene ist eben auch - keine Kunst (will sie ja anscheinend auch nicht sein). So viel zum letzten Stand der kulturindustriellen Revolution - oder wie nennt man das heute: creative industries...
Enthüllung des Realen, Berlin: Beispiel für nüchterne Kritik
hier ein beispiel dafür, was man im allgemeinen unter einer nüchternen und reflektierten kritik versteht, die genügend professionelle distanz zu künstler und werk aufrecht hält und ohne polemik auf den punkt kommt:
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/der-kuenstler-als-zeitgenosse-1.18183601
Enthüllung des Realen, Berlin: das ist kritisch
Ich finde es schade, dass weder Herr Pilz noch Herr Weigel auf kirillov reagiert haben und die Frage offen lassen, worin die eingeforderte Entscheidung bestehen soll. Ich kenne das Werk von Herrn Rau nicht, nur die Kritik von Herrn Pilz. Es wundert mich schon, wenn er derart positiv auf die Rhetorik von Rau reagiert. Kraftausdrücke wie "es habe sich auskritisiert" finde ich sehr bedenklich; dass ein Kritiker, dessen Hauptbeschäftigung eben darin besteht, so was gut findet aber noch viel mehr. Und dass Herr Pilz auch keine kritische Diskussion mehr wünscht und seinen Kollegen, der anscheinend versucht hat, seiner Profession gerecht zu werden und eben das zu machen einen "Sofakissenmoderator" oder "Begriffsklauber" nennt ist eine denkwürdige Entgleisung. Ich muss zu dem Schluß kommen, dass es hier eben nicht nur um Marketingstrategien, PR und die Verwandlung von Kultur in Waren ("Würstchen"), wie Adorno das beschrieben hat, sondern um etwas viel ernsteres. Hier sind Ressentiments im Spiel, die Adorno hellhörig gemacht hätten. Die Rhetorik des Unbedingten, die Geste der souveränen Entscheidung - all das hat er selbst miterlebt in den 20ern. Irgendwann fand diese Rhetorik auch ihr Echo in der Kultur. Das ist dann der Moment, wo es kritisch wird - im wahrsten Sinne des Wortes.
Enthüllung des Realen: das muss man unterscheiden
Werter Kritiker eines Kritikers, der anscheinend keiner mehr sein will,
ich möchte Ihnen rasch antworten, um noch mehr Missverständnisse zu verhindern, so es möglich ist.

Zunächst: Ich habe ja in meinem Text über die Veranstaltung geschrieben, was es zu entscheiden gibt, nämlich Revision oder Revolution. Ich meine, das ist unmissverständlich dem Text zu entnehmen.

Zu Ihrem Vorwurf, dass ich mich zu wenig kritisch der Arbeit von Milo Rau gegenüber verhalte. Ich betrachte es als meine "Hauptbeschäftigung" als Kritiker, eine Inszenierung, eine Ästhetik, eine Arbeit zu verstehen, zu analysieren. Das habe ich versucht. Ich habe geschildert, dass das von Milo Rau aufgerufene Pathos der Entscheidung auf einem paulinischen Denkmuster beruht; so habe ich es verstanden. Ich habe also eine Lesart der Arbeit von Milo Rau angeboten und diese sowohl auf seinen Essay "Was tun?" und die Inszenierungen bezogen. Zu dieser Lesart gehört, dass durch dieses Pathos der Entscheidung Begriffsfragen nachgeordnet erscheinen, eben eher eine Sache für "Begriffsklauber und Sofakissendebatteure" sind. So weit meine versuchte Analyse.

Mit keinem Wort habe ich geschrieben, ob ich diese Sicht von Milo Rau (auf die Welt und die Kunst) teile. Es ist nicht meine "Hauptbeschäftigung", Noten zu verteilen oder den Daumen hoch oder runter zu recken; ich wollte und will zunächst nur verstehen, was die Arbeiten von Rau ausmacht. Nicht mehr, nicht weniger.

Sie können gern behaupten, dass diese meine Lesart falsch oder flach oder irreführend ist - und eine andere anbieten, dann lässt sich darüber gehaltvoll debattieren. Aber, mit Verlaub, es ist absurd (oder bösartig), mir zu unterstellen, dass ich keine kritische Diskussion wünsche. Das entbehrt nicht nur jeder Sachlichkeit, sondern ist, Sie entschuldigen, eine haarsträubende Verwechslung der Ebenen - es heißt, den Boten für die Botschaft habhaft machen. Nicht ich sage, es habe sich "auskritisiert", sondern Milo Rau tut es. Und nur, weil ich nicht in Großbuchstaben hinschreibe "DAS IST FALSCH. ICH LEHNE DAS AB!", zu meinen, ich teilte diese Ansicht, ist haltlos. Man muss zwischen einer Lesart und einer Meinung unterscheiden können, sonst ergibt Kritik wirklich keinen Sinn. Es bringt einfach nichts, wenn man aus jedem Gesichtspunkt immer gleich einen Standpunkt macht.

Und wenn Sie schon in Kategorien wie "positiv" und "negativ" denken wollen - positiv ist für mich, dass mich die Arbeit von Milo Rau zum Denken anregt (das ist ja nicht immer der Fall im Theater). Aber wie ich hier auch schon einmal schrieb: ich bin damit noch nicht fertig.

Herzliche Grüße,
Dirk Pilz
Enthüllung des Realen: Frage der Verantwortung
Die "Entweder-Oder-Entscheidung" ist hier tatsächlich problematisch. Früher war es die Formel "Sozialismus oder Barbarei", heute ist es die Formel "Kapitalismus oder Barbarei". Es scheint fast so, als gehe die Tendenz hin zur einfachen Formel - sowohl kulturell als auch politisch betrachtet. Aber so einfach ist es eben nicht. Denn es geht zuallererst um die Frage der Verantwortung. Vor der Systemfrage steht für mich zuallererst die Frage der Verantwortung jedes einzelnen Menschen und damit auch die Verantwortung eines Künstlers aus Deutschland in Russland. Die entscheidende Frage ist hier also: Können Milo Raus Arbeiten zu dem Zweck instrumentalisiert werden, die neoliberale These zu untermauern, dass nur dort, wo Kapitalismus herrsche, freiheitliche und demokratische Strukturen überhaupt möglich seien? Wird das nicht sowohl in Deutschland (marktkonforme Demokratie) als auch auch in Russland propagiert? Und zerstört der autoritäre Kapitalismus Putins nicht ebenso die Kultur und Zivilgesellschaft, wie es früher der autoritäre Kommunismus stalinistischer Prägung getan hat? In allen Fällen ist die Staatsform aber doch nur (noch) eine leere Hülle für die Interessen einer herrschenden Machtelite bzw. des globalen Kapitals. Es geht hier weniger um Religion als vielmehr um Kapitalismus als Religion.
Enthüllung des Realen, Berlin: Rhetorik der moralischen Erpressung
Werter Herr Pilz, danke für Ihre Klarstellung. Sie haben natürlich völlig recht, das Augenmerk von den von Ihnen zitierten Aussagen weg auf Ihre eignen Ausführungen zu lenken. Der Vergleich zu Paulus ist dabei jedoch wenig dazu angetan, meine geäußerten Bedenken zu zerstreuen. Er erinnert mich unangenehm an die US-Evangelisten und die Bush-Jahre. Zeigt sich da nicht, wie eine solche Rhetorik der Herrschaftsausübung zu Diensten sein kann? Läuft es nicht auf ein "wer nicht für mich ist, ist gegen mich" hinaus? Für mich offenbart sich darin der Kern dieser Rhetorik: die (moralische) Erpressung. Ähnlich ging es mir bei der Lektüre Ihrer Kritik, die mir eben jene bedrängende Rhetorik nicht zu reflektieren, sondern noch zu verstärken schien. Erlauben Sie mir, mein Unbehagen konkret zu formulieren: dass auf die zunehmend postdemokratische Regierungspraxis mit antidemokratischen Reflexen reagiert wird. Diese möchte ich Ihnen nicht unterstellt haben. Aber mich erinnern Reden gegen das Gerede an Ressentiments gegen das Parlament als "Quasselbude" und gegen Intellektuelle und deren Kritik als "zersetzend" in der Zeit der Weimarer Republik, die schließlich zum Ende der Republik geführt haben. Daher bitte ich darum, mein Mißtrauen gegenüber einer solchen Rhetorik der Dringlichkeit, die sich dann jedoch weigert, konkret zu werden, nicht als "bösartig" zu verstehen. Hochachtungsvoll,
Ihr
Enthüllung des Realen, Berlin: paulinisches statt leninistisches Denken
Werter Kritiker,
abgesehen davon, dass die paulinische Dialektik nicht mit Begriffen wie Erpressung oder Moral, auch nicht mit solchen wie Demokratie oder Antidemokratie einzufangen ist, haben Sie natürlich recht: die Theologie des Paulus besitzt höchste politische Sprengkraft, auch damals schon, zu seinen Zeiten, das ist seinen Briefen ja zu entnehmen; die Sprengkraft liegt u.a. darin, dass er für eine Theologie eintritt, die sich in keinen Dienst stellen will, weder in einen demokratischen noch in einen antidemokratischen, sondern "nur" in den "Dienst um Chisti willen". Es lohnt sich, hierzu zum Beispiel Jacob Taubes zu lesen - er hat das sehr scharf herausgearbeitet. Es bleibt allerdings die Frage, was daraus konkret politisch folgt (diese Frage hat die gesamte Kirchengeschichte begleitet, mit sehr unterschiedlichen Antworten). Wichtig war mir bei all dem lediglich der Hinweis, dass man es meines Erachtens in der Arbeit von Milo Rau eben mit einem paulinischen (und nicht leninistischen) Denken zu tun hat.
Herzlich,
Dirk Pilz
Enthüllung des Realen, Berlin: zur paulinischen Dialektik
Frage mich, ob im Kontext dieser Diskussion die paulinische Dialektik angemessen rezipiert wird. Paulus sieht den Menschen als Sünder und als Gerechten. Befreit aus der Macht der Sünde und damit befähigt zum Guten wird er allein durch die Gnade Gottes (sola gratia). Der Mensch erscheint bei ihm mithin auf vielfache Weise verstrickt, die Situation des Menschen ist komplex; einfache Lösungen und simple Weltverbesserungsprogramme (die Milo Rau zu fordern scheint), wären für Paulus (und erst Recht für Karl Barth) Akte der Selbstermächtigung des Menschen. Das Damaskus-Erlebnis des Paulus war in erster Linie ein Widerfahrnis, keine Entscheidung. Für Paulus und Barth steht das Handeln der Menschen in dieser Welt unter einem eschatologischen Vorbehalt, d.h. das Heil wird uns als Geschenk zuteil (Promissio), wir können das Gute nicht erzwingen, sondern müssen, solange wir auf dieser Welt (und somit auch im Einflussbereich der Sünde) leben, um das Gute ringen, wir müssen diskutieren, manchmal auch quasseln, abwägen, kritisieren, von Fall zu Fall entscheiden und natürlich auch politisch relevant handeln. Das Reich Gottes durch unser eigenmächtiges Entscheiden und Handeln herbeizwingen zu wollen, ist kein paulinischer Gedanke. Die paulinische Theologie ist nicht anfällig für Weltverbesserungsideologien und insofern auch von Bush und seinen Evangelikalen auf krasse Weise missbraucht worden; sehr wohl öffnet sie aber den Blick für den Horizont, vor dem politisches Handeln im Sinne der christlichen Liebesethik geschehen kann und geschehen sollte.
Enthüllung des Realen, Berlin: Hinweis
"Wir können als die, die wir sind, als Menschen, die in der Welt leben, der religiösen Möglichkeit nicht entronnen sein wollen." (Karl Barth) Gut, aber auch ich frage mich, was machen dann die, welche die Religion nicht als letzte Antwort auf alle menschengemachten Fragen bzw. Themen sehen, weil sie zugleich die Gefahr sehen, welche darin liegt. Interessanterweise habe ich gerade gestern einen Artikel von Christian Esch zu den Romanows in der "Berliner Zeitung" gelesen, Dirk Pilz müsste ihn kennen. Wir wissen alle, dass die (russisch-orthodoxe) Religion in Russland eine viel größere Rolle gespielt hat und spielt als in Deutschland. Die Religion nun (wieder) als Allheilmittel anzusehen, und zwar in dem Sinne, wie Putin sie instrumentalisiert - wir bzw. das russische Volk MÜSSE beten, um sich gegen die westlichen Verleumdungen des Landes zu wappnen - das ist in meinen Augen eben auch problematisch. Hier noch der Link zum Artikel:

http://www.berliner-zeitung.de/kultur/ausstellung-zu-den-romanows-die-ausloeschung-der-geschichte,10809150,25011750.html
Enthüllung des Realen, Berlin: keine simple Weltverbesserung
Georg Spalatin hat, wie häufig, vollkommen recht und bringt es treffend auf den Punkt, womit man es bei Paulus zu schaffen hat. Dass es dabei eben gerade nicht (anders als bei Lenin etwa, siehe oben) um selbstermächtigende Entscheidungen geht, ist der zentrale Punkt; das steckt alles auch in dem von mir zitierten Satz Karl Barths. Man hat es mit "Entscheidungen" zu tun, die im Kraftzentrum eines Ereignisses stehen, das, ja, einem Widerfahrnis gleicht. Streng genommen, auch darin stimme ich Spalatin zu, ist die paulinische Theologie nicht anfällig für Weltverbesserungsideologien - aber sie wurde und wird immer wieder missbraucht (nicht nur von Bush oder auch Obama), von Milo Rau jedoch nicht. Hier würde ich wiedersprechen, weil seine Arbeiten eben nicht auf "simple Weltverbesserung" hinauslaufen, meine ich.
Herzlich,
Dirk Pilz
Enthüllung des Realen, Berlin: Nachfragen
@ Dirk Pilz: Kurze Frage. Warum werden hier jetzt plötzlich - wo es doch um das Russland Putins geht - Bush oder Obama ins Spiel gebracht? Kalter Krieg?

@ Georg Spalatin: Und Sie würde ich gern fragen: Ist nicht gerade der Begriff der Sünde moralisch? Und sollte es stattdessen nicht um den Begriff der Verantwortung gehen? Im (wehrlosen) Körper ist keine Sünde.
Enthüllung des Realen: lediglich Beispiele
@Inga. Da es nicht nur um Russland oder Putin geht, weder in Raus Arbeiten noch in meinem Text bzw. den Kommentaren, geht es auch nicht um "kalten Krieg". Busch, Obama sind lediglich Beispiele für Missbrauchsfälle, Putin ist auch eines.
Herzlich,
Dirk Pilz
Enthüllung des Realen, Berlin: Römerbrief mit Büchner gelesen
Soweit ich weiß, ist Sünde bei Paulus (der in seinem Denken natürlich noch im mythischen Weltbild steht) gerade keine moralische Kategorie, sondern eine Einflusssphäre von geradezu ontologischer Dimension. Ein Einflussbereich, der den Menschen versklavt, gefangen hält im Kerker des „Fleisches“. Im (von Karl Barth großartig kommentierten) Römerbrief steht: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“. In unseren Ohren klingt das natürlich einigermaßen fremd und eher unsexy, vielleicht kommt diesem Konzept von Sünde Büchners berühmt Frage: „Was ist das, das in uns lügt mordet, stiehlt ...“ nahe. Wer sich dagegen im Einflussbereich der (dem Menschen zugesprochenen, geschenkten) Gnade befindet, ist frei von den Zwängen des Ich, frei von einer der Ethik der Leistung und des Erfolgs. Und dann ist er auch frei zu verantwortlichem Handeln. In der mythischen Terminologie des Paulus ist wichtig, dass, solange das Reich Gottes nicht angebrochen ist, der Mensch immer durch die Sphäre der Sünde gefährdet bleibt. Der Anbruch des Reiches Gottes aber ist der Verfügbarkeit des Menschen entzogen; das war wohl der Fehler von Lenin, dass er das Reich Gottes herbeizwingen wollte.
Enthüllung des Realen, Berlin: Dass ich das noch erleben darf
Dass ich das noch erleben darf, dass Pilz und Spalatin hier über Paulus sprechen: herrlich. Finde den Text von Pilz auch sehr anregend und gut. Und das ist doch mal echt was: dass in einer Theaterkritik mit Paulus argumentiert wird. Aber ich fürchte, Milo Rau wird damit zu groß gemacht.
Enthüllung des Realen, Berlin: Pfaller statt Paulus
@ Georg Spalatin: Ich komme mit Ihrem (hoffentlich) privaten - also nicht in Taten umgesetzten - religiösen Diskurs nicht klar. Sie dürfen gern weiter vom "Reich Gottes" sprechen, aber wenn ich Sie richtig verstehe, müssen Sie dann auch ihr ganzes Leben lang abstinent bleiben. Bis zu Ihrem Tod. Robert Pfaller nennt das "metaphysische Askese". Zitat Pfaller: "Denn die grundlegende metaphysische Operation besteht darin, Wahrheit und Freiheit anderswo anzusiedeln als auf der Welt und im Glück." Huhu, wie gruselig. Und das ist der Punkt: Lenin wollte nicht das "Reich Gottes" herbeizwingen, sondern das "Reich der Freiheit". Was solange okay ist, wie dadurch nicht die Freiheit der/des Anderen berührt wird.
Enthüllung des Realen, Berlin: Völler statt Pfaller
@ Inga. Tatsächlich halte ich es eher mit Völler als mit Pfaller: „Du sitzt hier locker bequem auf deinem Stuhl, hast drei Weizenbier getrunken und bist schön locker.“ Bleibe also keineswegs abstinent, schon gar nicht bis zu meinem Tode, weil: nach Paulus der Mensch „gerecht wird nicht durch die Werke des Gesetzes“. Es ging mir aber gar nicht um Moral, sondern nur darum zu überlegen, in welchem Verhältnis Weltverbesserungsmodelle und Aufrufe „nochmal von vorn anzufangen“ zur paulinischen Theologie stehen könnten. Daneben denke ich aber, tatsächlich könnten ein bisschen Askese, Bescheidenheit, Konzentration und Reduktion zumindest in unserem überhitzten Theaterbetrieb nicht schaden. Damit verabschiede ich mich aus dem Diskurs: Prost.
Enthüllung des Realen, Berlin: Paulus und Lenin
@korinther:immerhin ist die arbeit von milo rau der ausgangspunkt für ein gespräch über paulus und lenin. auf dieser seite. das muss man erst mal schaffen.
Enthüllung des Realen, Berlin: offen für Kairos
@Dirk: Ich freue ich mich über die Diskussion, die die Paulus- Deutung entfacht hat. So dass ich nun Lust bekommen habe, mich auch noch daran zu beteiligen. Zunächst scheint mir im Zusammenhang mit Raus Theater der Hinweis richtig, dass die paulinische Entscheidung nicht rein voluntaristisch, sondern innerhalb einer bestimmten historischen Situation als das Ergreifen einer bestimmten, nur dort auftauchenden, quasi schicksalshaften Möglichkeit erscheint. Im theologischen Kontext nennt man diese Situation Kairos. Die Theatersituationen, die Milo Rau kreiert, sind zumindest offen für solche Kairossituationen, sie schaffen einen Vorstellungsraum dafür und das ist das, was mich daran interessiert. Der von dir bereits postulierte Unterschied zu Lenin ist insofern plausibel und vielleicht zentral, da Lenin die Schicksalsseite, die im klassischen Marxismus in Form der grossen Erzählung von den automatischen Entwicklungsgesetzen des Fortschritts noch vorhanden war, in einem voluntaristischen Gewaltakt bei Seite schafft. Andererseits gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen Paulus und Lenin und wäre es nur die eine, dass die Auseinandersetzung mit beiden in der politischen Philosophie eine grosse Renaissance erfährt. Ich erinnere hier nur an die meist wenig bekannte, in religiös-sozialistischen Kreisen immer wieder postulierte Linie Paulus-Lenin. Vom niederländischen Theologen Ton Veerkamp gibt es den wunderschönen Text „Der Apostel Paulus auf dem dritten Kongress der Kommunistischen Internationale“. Eine Faszinationskraft, die von beiden gleichermassen ausgeht, ist meines Erachtens der Umstand, dass die wirkmächtigen und ambivalenten Institutionen, für die sie stehen, die Kirche und der Sowjetstaat, beide auf einer im Prinzip grundlosen, aber wirkmächtig der kollektiven Vorstellungskraft zugeführten Behauptung stehen: Die Auferstehung Jesu und die Erstürmung des Winterpalasts. Um nochmals auf die Entscheidung zurückzukommen: Die Entscheidung bei Paulus und bei Lenin ist daher nicht eine zwischen zwei plausiblen, korrekten Lösungen eines Problems, sondern das Einnehmen und in der Folge das Beharren auf einer unmöglichen und insofern neuen Position. Der Dezisionismus dieser Prägung ist selbstverständlich gefährlich. Die relevante Frage ist aber nicht, ob wir ihn wollen oder nicht, sondern viel eher, wo und zu wessen Nutzen und Schaden er gerade seine Wirkung entfaltet. Die theoretische Zurückweisung eines linken Dezisionismus verkennt, dass die dringliche Entscheidungsmetaphysik gegenwärtig mächtig und arbeitsteilig in den Finanzzentren und in den fundamentalistischen Kampftruppen agiert.
Enthüllung des Realen, Berlin: kein Gläubiger, kein Sünder
@ Georg Spalatin: Was heisst das denn jetzt, der Mensch als Sünder und Gerechter? Da setzen Sie doch schon etwas voraus, was in meiner Wahrnehmung allererst bewiesen bzw. erprobt werden müsste. Warum bzw. inwiefern kann ich ein "Sünder" sein, wenn ich zum Beispiel mit Dietmar Dath sage, dass ich nicht an Gott glauben muss, weil ich ihn kenne. Tja. Und was meint der jetzt bloß damit? Ticker Ticker Ticker. Stumpfsex wohl nicht. Eher (sinnliche) Liebe. Oder? Und was ist ein "Gerechter"? Sind Sie denn immer gerecht zu allen? Halten Sie immer nur die andere Wange hin, wenn Ihnen Unrecht widerfährt? Und ist das eigentlich gesund für Sie? Ist es nicht viel interessanter, wenn auch Sie zugeben würden, dass gerade das Ungerechte den Menschen zum Menschen macht? Was meinen Sie eigentlich mit "dem Bösen"? Was ist "das Böse"? Und wie kann ein Mensch "das Böse, das er nicht will, tun"? Ist es nicht eher so, dass ich ein Teil von jener Kraft bin, die stets das Böse will und stets das Gute schafft? Und steckt das nicht in jedem Menschen? Als innerer Prozess gedacht? Und nicht als Manipulation von aussen? Eine letzte Frage noch: Was meinen Sie mit "Askese, Bescheidenheit, Konzentration und Reduktion in unserem überhitzten Theaterbetrieb"? Könnten Sie ein konkretes Beispiel nennen, um das zu verdeutlichen?
Enthüllung des Realen, Berlin: Neo-Leninismus
Die Verwandlung von Pilz in Paulus hat zwar Witz, aber ich finde dann doch die Verwandlung von Milo Rau in Lenin interessanter, bzw. in Slavoj Zizek, dessen vor ein paar Jahren erschienes Lenin-Büchlein er in seiner Schrift so freizügig - tja, wie soll man sagen: "reenacted" (ohne ihn je zu nennen). Nun, in Deutschland kennen das Phänomen des Neo-Leninismus ja aus der FAZ von Dietmar Dath, deswegen fände ich es auch nicht zu viel verlangt, den Bereich der Politischen Theologie wieder zu verlassen und uns der Politik zu zu wenden: dem "Kommunismus" (wie es Rau vorschlägt). Aber wenn wir schon über Religion reden müssen, dann über Kapitalismus als Religion. Der Rest ist Geschwurbel.
Enthüllung des Realen, Berlin: was für eine Sekte?
Ja, bitte! Frag mich schon die ganze Zeit, was für eine Sekte hier aktiv geworden ist: reenacting Kirchengeschichte? (gibt's ne Menge Stoff: Inquisitionssondergerichte, ketzerverfolgung usw)
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