Die Kinder Agamemnons - Konstanze Lauterbach gibt eine Kurzversion der antiken Splatter-Dramen in Wiesbaden
Wo rohe Menschennatur sinnlos waltet
von Shirin Sojitrawalla
Wiesbaden, 7. Oktober 2011. Auch nach diesem Abend sind die Kinder Agamemnons eigene Dramen wert und doch hat die Wiesbadener Alles-auf-einmal-Light-Version ihren Reiz. Regisseurin Konstanze Lauterbach und Dramaturgin Dagmar Borrmann, ein eingespieltes Team, haben aus der antiken Splatter-Dramenfolge ein eigenes Stück in vier Akten generiert. "Iphigenie in Aulis", "Orestes" und "Iphigenie im Land der Taurer" von Euripides sowie "Elektra" von Sophokles bildeten die Vorlagen. Den ersten und vierten Teil bestimmt Iphigenie, den zweiten Elektra und den dritten Orest. Das Ganze rinnt in zweieinhalb bildstarken Stunden vorbei.
Wuchernde Mordlust
Auf der aufgeräumt trostlosen Bühne von Karen Simon ranken spinnennetzartige Drahtgespinste empor, rieselt Sand aus dem Schnürboden als verginge hier die Lebenszeit und Eisbrocken belagern die Erde. Unwillkürlich denkt man an die wundersamen Installationen von Rebecca Horn in all ihrer zärtlich brutalen Poesie.
Hannah Hamburger hat die Figuren in schlammfarben trendige Kleider, Jacken und Hosen gesteckt. Das sieht zumeist wahnsinnig gut aus. Nur Agamemnon (Michael Günther Bard) nicht, der Feldherr trägt Bart und ein Handtuch um die breiten Schultern. Wie ein Boxer tänzelt er auf der Stelle, bereit für den nächsten Schlag: Er soll seine Tochter Iphigenie opfern, um von den Göttern freie Fahrt nach Kleinasien zu bekommen. Später wird er dafür von seiner Ehefrau (Susanne Bard) ermordet. Sohn Orest rächt diesen Mord an dem Vater, getragen vom unbändigen Hass seiner Schwester Elektra auf die Mutter. Kurz: Ehrenmorde und Rachgelüste wuchern bei den Atriden wie Schimmelpilze. Hier waltet die rohe Natur, ohne Sinn und Verstand.
Unausweichlich vollzieht sich das Schicksal dieser Sippe, wobei die Inszenierung ihr jedwedes Happy End verwehrt. Iphigenie, die gerettet wurde, kehrt nicht nach Hause zurück, sondern schlachtet sich wie ein Opfertier selbst. Das letzte Bild zeigt, wie sie blutüberströmt über dem Altar hängt. Black.
Mitgenommen
Als Zuschauer fühlt man sich regelrecht mitgenommen, auch weil die Regisseurin Konstanze Lauterbach es versteht, einen im wahrsten Sinne des Wortes mitzunehmen. Ihren Schauspielern gelingt das bedingt: Doreen Nixdorf ist als Iphigenie zunächst quietschfideles pumucklhaftes Kind, um später als aalglatter schwarzer Engel in Erscheinung zu treten. Michael von Bennigsens Orest präsentiert sich als blässlicher Milchbubi und Sybille Weiser als Elektra verbleibt in heiserem Jammerton, bringt allerdings genau jene nervtötende Spur Wahnsinn in ihre Stimme, die jeder echten Verzweiflung zu eigen ist.
Für große Momente sorgt an diesem Abend immer wieder der dreiköpfige Stutz-Chor. Warum aber die Schauspielerin Franziska Werner, in deren fein entsetzten Gesichtszügen sich das ganze Drama aus Vorsehung und Schuld spiegelt, an diesem Abend bloß im Chor singt, bleibt das Geheimnis der Regisseurin und/oder theaterinterner Besetzungsarithmetik.
Die Musik hat Achim Gieseler arrangiert, teilweise auch komponiert. Fremdartig schroffe Klänge, die von Gefahr und Untergang künden, wobei die Inszenierung überhaupt besonderen Wert auf den Sound legt. Dafür nutzt Lauterbach ebenso einfache wie sinnfällige Theatermittel. Der aus dem Schnürboden rieselnde Sand macht optisch wie akustisch Eindruck. Dasselbe gilt, wenn der Chor sich die eisgekühlten Hände reibt, bis sie schmatzen wie Waschweiber. Die Inszenierung bringt den Mythos nahe, indem sie seine zeitlose Archaik bebildert. Gleichzeitig verhehlt sie nicht, wie fremd uns das Atriden-Gebaren ist. Der aufgeklärte Theatergänger rächt sich nicht mehr mordend an Vater, Mutter, Nebenbuhlerin, sondern befriedet sich beim Therapeuten. Rein theoretisch.
Die Kinder Agamemnons
nach Euripides und Sophokles, Fassung von Konstanze Lauterbach und Dagmar Borrmann
Regie: Konstanze Lauterbach, Bühne: Karen Simon, Kostüme: Hannah Hamburger, Musik: Achim Gieseler, Dramaturgie: Dagmar Borrmann.
Mit: Michael Günther Bard, Susanne Bard, Evelyn M. Faber, Magdalena Höfner, Doreen Nixdorf, Michael von Bennigsen, Michael von Burg, Sybille Weiser, Lars Wellings, Franziska Werner, Jörg Zirnstein.
www.staatstheater-wiesbaden.de
Mehr dazu: eine andere Familiengeschichte, die des Ödipus-Clans, raffte Roger Vontobel im Oktober 2010 in Bochum zu Die Labdakiden zusammen. Ähnliches versuchte Sebastian Nübling im Januar 2011 in Zürich mit Ödipus und seine Kinder. Und vor fast genau zwei Jahen, im November 2009, widmete sich Konstanze Lauterbach schon einmal der Familiengeschichte der Artriden, damals allerdings in der modernen Version von Tom Lanoyes Atropa in Konstanz.
Kritikenrundschau
Auf der Webseite der Nassauischen Neuen Presse/ Frankfurter Neue Presse (10.10.2011) schreibt Almuth Murawski: Konstanze Lauterbach rücke das "Ausgeliefertsein und die Verstrickungen erschreckend nah an den Zuschauer", man könnte von "ästhetischer Brutalität" sprechen. Nicht zuletzt durch das Bühnenbild, das auf "die Fallstricke und die Labilität des Hauses der Atriden" anspiele und "eine verletzliche Atmosphäre" schaffe. Die Regie setze oft Symbolik ein, Sinnliches dürfe "überleben", mit "einfachen Mitteln und musikalischen Akzenten" entstünden "einprägsame Bilder". "Erschütternd" spiele Michael Günther Bard den Agamemnon. "Das Publikum schien zunächst wie gelähmt, nur langsam steigerte sich der Beifall für einen beklemmenden Theaterabend."
"Das ist so aufregend, dass man ins Erzählen kommt", fasst Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (10.10.2011) den Abend zusammen. "Es ist aber auch gut und ruhig anzusehen auf Karen Simons kühler Bühne", die mit Drahtschlingen und Schlauchschlangen durchsetzt sei." Alles läuft zügig, aber ohne Hetze, verschlankt, aber nicht entkernt." Einzelne Sätze könnten dabei wie Fanale im Raum hängen bleiben, "ohne dass ein Fingerzeig das hervorheben müsste. Es funktioniert einfach."
Weniger angetan zeigt sich Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.10.2011): "Der Parforceritt durch die Attridengeschichte hat einen hohen Preis: Nirgends bleibt Zeit für ein Innehalten, ein Entwickeln von Intensität." Fast nirgends, denn der dreiköpfige Chor entwickele die dichtesten Momente des Abends: "In ihren Kommentaren scheinen der Schauder auf und das Mitleid, die von den Atriden bis zur Menschheit führen könnten."
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