Die Labdakiden - eine unerbittlich allgemeingültige Politsaga von Roger Vontobel
Oh, der Mensch
von Sarah Heppekausen
Bochum, 9. Oktober 2010. Ödipus ist ein Familienmensch. Bevor er selbst auftritt, sind seine kleinen Kinder da. Die vier spielen auf dem repräsentativen Teppich vor dem Tor des Herrscherhauses. Bis ihre Mutter sie hereinholt und der Vaterkönig sich offenen Ohres seinem Volk und dessen Pestleiden zuwendet. Ödipus wird seine Frau und seine Kinder noch häufiger um sich versammeln. Dann stehen sie, adrett gekleidet, hinter ihm wie der sichere Hafen. Oder als wären sie allzeit bereit für eins der hübschen Familienporträts, die später noch im Großformat zu sehen sein werden. Vater, Mutter, Kinder – im Garten, beim Schwimmen, beim Spielen mit dem Hund.
Wer eine Familiengeschichte erzählt, muss weiter ausholen, generationenübergreifend, damit sich Zusammenhänge und Bedingtheiten nachvollziehbar erklären lassen. Roger Vontobel nimmt sich am Bochumer Schauspielhaus die Labdakiden vor, die Familiendynastie aus dem antiken Theben, vom Laios-Sohn bis Antigone. Vier Stücke der alten Griechen – Ödipus, Sieben gegen Theben, Die Phönikerinnen und Antigone – inszeniert er in knapp dreieinhalb Stunden als Tableau der Schicksalsgebeutelten und Machtverdorbenen.
Scharfes und VerletzlicheWie mit einem Teleobjektiv zoomt sich der Regisseur heran an die Gesichter einer Herrscherfamilie, die sich verstricken in (unbewusster) Schuld und bitterer Erkenntnis, in privater Moralität und politischer Verantwortlichkeit. Entwickelt hat er gestochen scharfe, intime Nahaufnahmen von Menschen in der Öffentlichkeit. Aber Vontobel spielt auch mit Unschärfe, konzentriert sich auf die Personen und Szenen, die ihn für sein Familienalbum interessieren. Andere (vor allem im Mittelteil) werden aus dem Bild geschnitten oder bleiben unterbelichtet.
Ödipus natürlich nicht. Der großartige Paul Herwig erzwingt das Blitzlicht. Ein Obama der Antike ist sein Ödipus, mitfühlend überzeugend, massenbewegend und kompromisslos. Aber zutiefst verletzlich, wenn es um seine Herkunft geht. "Wer sind dann meine Eltern?", fragt er mit plötzlich unsicher gewordener Stimme. Hingen seine Schultern schon vorher leicht gebeugt unter der Last, die ein Clanoberhaupt zu tragen hat, so knicken jetzt auch seine Beine ein. Sein Lebensgerüst fällt zusammen mit der Erkenntnis, dass er seinen Vater getötet, seine Mutter geheiratet und mit ihr Kinder wie gleichermaßen Geschwister gezeugt hat.
Allgemeines und Private
Vontobel verzahnt an diesem Abend immer wieder die öffentliche Person und die private, das Politische und das Individuelle. Die Darsteller halten Reden am Politikerpult und sprechen zur weitreichenden Verstärkung in Mikros. Oder sie ziehen sich zurück zum Drink ins Wohnzimmer. Vertrauliche Gatte-Gattin-Geständnisse und Vater-Sohn-Aussprachen wechseln sich ab mit Fernsehansprachen zum Volk oder Interviews vor laufender Kamera. So erspürt der Abend eine Allgemeingültigkeit der Texte ohne einer sprachlichen Verflachung zu verfallen. Im Gegenteil: Das Handeln ist und bleibt auch hier ein Instrument der Sprache.
Was bei Ödipus und Kreon (nicht der begeisterungswütige, aber in seiner konservativen Bedächtigkeit ebenso kompromisslose Politiker: Michael Schütz) als vielschichtige und nachvollziehbare Menschenstudie gelingt, verkürzt sich im Mittelteil allerdings zur bloßen Bebilderung des Machttriebes. Im Streit um die Herrschaft von Theben werfen sich Eteokles (Mattias Eberle) und Polyneikes (Dimitrij Schaad) kampfeslustig in lange Mäntel und große Gesten. Zerstörten die beiden Brüder vorher Ödipus' Mikro, aus dem das Echo seines Fluches dröhnte, noch mit verzweifelter Leidenschaft, gehen sie nun als Karikaturen aufeinander los. Da berührt nichts mehr, da überschattet die Bildbearbeitung ein Echtes.
Leidenschaft und Leichen
Im dritten Teil ist der Fernsehvorzeige-Herrschersitz zum Kriegsschauplatz verwüstet worden (Bühne: Claudia Rohner). Theben ist zerstört, die Brüder und Mutter Iokaste sind tot, als blutverschmierte Leichen sitzen sie dabei, während Antigone Sand schaufelt für Polyneikes' Grab. Noch einmal gibt es Raum für Leidenschaften. Lena Schwarz' Antigone richtet ihren von Menschenlast geschwächten Körper auch noch im Angesicht des Todes an ihrer eigenen Courage auf. Kreon wird vom näselnd-arroganten Vater zur bitterlich weinenden Kreatur, die hin und her rennt und den erlösenden Tod doch nicht findet. Sein Sohn hat sich längst erschossen.
Und die Handkamera ist stets dabei. Jedes noch so grausame Bild wird festgehalten. Für die nachfolgende Generation. Auch da ist der Mensch unerbittlich.
Die Labdakiden
Eine Politsaga - Ödipus, Sieben gegen Theben, Die Phönikerinnen und Antigone von Sophokles, Aischylos und Euripides, Deutsch von Peter Krumme, Durs Grünbein und Dietrich Ebener
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Nadine Grellinger, Musik: Joe Masi, Daniel Murena, Video: Immanuel Heidrich, Licht: Bernd Felder, Dramaturgie: Anna Haas, Thomas Laue, Choreinstudierung: Georg Verhülsdonk.
Mit: Paul Herwig, Michael Schütz, Katharina Linder, Manuela Alphons, Dieter Hufschmidt, Manfred Böll, Jonas Gruber, Lena Schwarz, Barbara Hirt, Dimitrij Schaad, Matthias Eberle, Philipp Weigand, Kinder: Theresa Saringer / Lilli Lingener / Rosina Saringer, Victoria Lukas / Maya Sloane / Anna Saringer, Jasper Gärtner / Kaan Maxim Sensöz, Joshua Spor / Nicolas Wartmann, Alexandros Patardidis / Ben Troost, Tristan Wulff / Moritz Zimmer.
www.schauspielhausbochum.de
Mehr Antike: Ödipus sahen wir zuletzt bei den Salzburger Festspielen in Gestalt von Klaus Maria Brandauer auf der Bühne, in Peter Steins Inszenierung Ödipus auf Kolonos. Und in dem Tod in Theben betitelten Projekt von Angela Richter, auch bei den Salzburger Festspielen heuer.
Roger Vontobel erzähle "Die Labdakiden" "mit den Mitteln unserer Zeit", meint Gudrun Norbisrath auf dem Internetportal Der Westen (10.10.): "Die uralte Geschichte mutiert zur Vorabendserie, zum Kriegsfilm". Vontobel erzähle vom Fluch der Macht "sensibel, kühl, herausfordernd, böse. Plakativ. Das Leben war schön, bis aus Machtgier Krieg wurde; er findet hier im Fernsehen statt. In einer starken Szene sehen Kreon und Teiresias als gigantisches Video ins Publikum, als säßen sie vor dem Bildschirm und verfolgten den furchtbaren Bericht des Boten in der Tagesschau. Der Krieg sind wir."
Vontobels Antikenprojekt sei "ganz schön mutig. Aber auch extrem gelungen", meint Bettina Jäger in den Ruhr Nachrichten (11.10.). Auf "der konsequent sich wandelnden Bühne von Claudia Rohner und in den modernen Kostümen von Nadine Grellinger" erlebe man "dreieinviertel mitreißende Stunden über Macht und ihre Mechanismen." Wir sähen "nur die nackte Essenz der antiken Texte - präzise interpretiert, kühl seziert und schnell inszeniert." Vor allem Paul Herwig und Katharina Linder zeigten "das Herrscherpaar als moderne Machtmenschen".
Roger Vontobel begegne der fremden Welt als Besucher, beobachtet Vasco Boehnisch in der Süddeutschen Zeitung (12.10.2010). "Seine Inszenierung der 'Labdakiden' ist eine zeitgenössische Exkursion ins alte Drama, ohne dessen antike Chorgesänge und Philosophie zu meiden. Und siehe da, es funktioniert richtig gut." Nicht nur eine packende Detektiv-, Kriegs- und Familienstory präsentiere der Regisseur, sondern auch eine politische Typologie: "Der 33-jährige Vontobel festigt den Eindruck, zurzeit der handwerklich versierteste Großstückausdeuter seiner Generation zu sein."
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Mit dieser Inszenierung ist das Bochumer Schauspiel endlich wieder dort gelandet wo es hingehört: In der ersten Reihe.
Sehr geehrter "Theaterfan",informieren Sie sich in Zukunft einfach vorher wie lange die Inszenierung geht, oder in diesem Fall, dass es sich um vier Stücke an einem Abend handelt.Dann müssen Sie sich auch nicht so viel langweilen. Die von Ihnen erwähnten Längen habe ich nicht empfunden, ich fand den Abend sehr dicht und spannend., die Schicksale der einzelnen Figuren wurden auf berührende Weise erzählt. Ich finde es toll, dass die Inszenierung die Möglichkeit bietet die gesamte Famieliensaga zu erleben. Wer da den Transfer in unsere heutige Zeit und zu einem selbst nicht schafft tut mir einfach nur leid!
Reine, plumpe und blöde Unterhaltung findet gottseidank woanders statt.
Dafür dass Sie sich "Theaterfan" nennen ist Ihr Kommentar reichlich niveaulos.
Nach dieser, wie ich finde, sehr guten Inszenierung, werde ich bald wieder ins Bochumer Schaupielhaus fahren, da ich jetzt sehr neugierig bin, wie "Medea" auf dieser Bühne gspielt wird.