Atropa - Konstanze Lauterbach inszeniert Tom Lanoyes Atriden-Klagegesang
Frau, Familie, Weltenbrand
von Michael Laages
Konstanz, 29. November 2009. Der Trojanische Krieg findet statt. Und zwar in voller Länge – von kurz vor dem Anfang bis kurz nach dem Ende. Der flämische Dramatiker Tom Lanoye, der mit "Mama Medea" den Mythos neu beschrieb und einst die Vorlage lieferte für Luk Percevals legendäre Hamburger "Schlachten!"-Inszenierung (wofür er immerhin Shakespeares komplette "Rosenkriege"-Stücke in einen Theater-Tag zwang), hat einmal mehr eine monströse Masse an Material erzählerisch gebändigt.
"Atropa", Lanoyes jüngstes Stück, uraufgeführt im Herbst vorigen Jahres und nun – nach der deutschsprachigen Erstaufführung vor Monatsfrist in Nürnberg – auch in Konstanz zu sehen, nimmt in etwas mehr als zwei Netto-Theaterstunden den weiten Bogen von Iphigenie, die (wie in deutscher Sprache auch schon Goethe und Schiller berichteten) im Hafen von Aulis vom Vater Agamemnon geopfert wird, damit gut Wetter werde für die Ausfahrt der griechischen Schiffe gegen Troja, über das letzte Massaker in Troja selbst, von dem Euripides in seinem finstren Endzeit-Text über "Die Troerinnen" erzählt (der zuletzt in Dresden zu sehen war als letzte Arbeit des vorigen Intendanten Holk Freytag) bis zum "Agamemnon"-Stoff, dem ersten Stück der "Orestie".
Gesammelte Schlachten, stark gekürzt
Und hier, im Finale, platziert der Dramatiker auch noch eine gehörige Portion Verweise darauf, wie die Geschichte der Atriden von hier aus weiter und zu Ende gehen wird. Die erste Untat, Iphigenies Opferung aus nichts als politischem Grund, wird schlussendlich gesühnt im Untergang des ganzen Stammes, der ganzen Zivilisation, die sich doch für die mächtigste hielt in ihrer Zeit.
Lanoye hat nichts weniger im Sinn als die komprimierte Katastrophe an nur einem Abend, Atriden-Europas, also: Atropas gesammelte Schlachten, stark gekürzt; obendrein hat er die politisch zugerichtet auf sehr viel Gegenwart. Denn die Griechen von damals sprechen bei ihm zuweilen überdeutlich die Sprache jener kriegerischen Weltmacht Amerika, die das alte Europa zum "Krieg gegen das Böse" einvernehmen wollte und dann – als das nicht so recht klappte – allein einfiel im Irak.
Westen gegen Osten, christliche gegen islamische Welt, aber auch Mann gegen Frau – all diese Assoziationsräume sollen, so will es der Autor, Platz finden in der alten Sage vom Krieg der Griechen gegen die Trojaner. Der hatte ja damit begonnen, dass eine schöne Frau sich durchaus ganz gerne rauben ließ vom Vertreter eines fremden Königshauses und den schmucken Paris aus Troja liebend gern gegen den schlaffen Griechen-König Menelaos eintauschte. Agamemnon wird daraufhin Kriegsherr der Griechen, auch weil er Menelaos' Bruder ist; und Agamemnons Gattin Klytemnästra ist die Schwester der schönen Helena – eine Familiengeschichte als Basis für den Weltenbrand.
Allein gegen die Frauen
Lanoyes großer Rahmen wird zuweilen auch zum Problem – zum Beispiel wollen die gedanklichen Verbindungen zwischen den Schlachtenlinien von 'Christen kontra Moslems' und 'Männer gegen Frauen' prinzipiell so gar nicht miteinander korrespondieren; der Islam ist halt nicht wirklich bekannt als große Ideologie der selbstbewussten Weiblichkeit. Aber sei's drum – das Drama der Geschlechter verschafft Lanoyes Entwurf den wirksamsten theatralischen Zugriff. Denn Agamemnon steht hier ganz allein gegen lauter Frauen: zu Hause gegen Frau und Tochter, gegen die besiegten Troerinnen bei Kriegsende und danach gegen alle zusammen. In diesem großen "Einer gegen alle" sucht und findet Konstanze Lauterbach in ihrer Inszenierung erwartungsgemäß den Kern des Katastrophen-Panoramas.
Einiges erinnert in Lauterbachs Lanoye-Szenario jetzt an eine ihrer schönsten Bremer Inszenierungen; es war die erste dort: 1994, "Sterne am Morgenhimmel" vom Perestroika-Russen Alexander Galin. Sehr körperbetont wie damals (und oft danach), energisch, explosiv und fast tänzerisch lässt sie die Frauen ins Feld ziehen im ersten Teil von "Atropa": die junge Iphigenie wirbelnd lustbetont, weil ihr der Held Achill in täuschender Absicht vom Vater zum Gatten versprochen wurde, parallel die vom neuen Leben in Troja schon schwer desillusionierte Helena, schließlich auch Klytemnästra, die innerlich rebelliert gegen Agamemnons Opfer-Plan, ihn aber nicht verhindert. Und war es nicht sie, die den Gatten anspornte, die geraubte Schwester zurück zu holen aus Troja? Frei von Schuld ist niemand.
Schlachten-Nachspiel im Hobby-Keller
Der zweite Teil, Klagesang der Troerinnen, ist fast komplett Choreographie. Während sich Hans-Martin Scholders Bühne sehr eindrucksvoll von uferähnlichem Land in darunter liegendes blut- und feuerrotes Stoff-Gewölle verwandelt hat. Schließlich, nach der Pause, ist es die an altem Leid und neuer Schmach verzweifelte Klytemnästra, die alle vom Gatten mitgebrachten Troja-Sklavinnen samt Schwester Helena tötet (sehr poetisch: mit spitzen weißen Lilien, die dann wie Leichensteine im Boden stecken); aber nicht den Gatten. Der sitzt (wie der Text zuvor schon öfters raunte) von nun an im Hobby-Keller und spielt alte Schlachten nach.
Die größte Stärke des Textes liegt in der Zusammenführung, in der quasi enzyklopädischen Verdichtung von Anfang und Ende der Schlacht; wer hier genau zuhört, hat die ganze Geschichte um Troja von nun an parat. Die parallelen Polit-Assoziationen (hin zu USA & Irak, Christus & Mohammed) kommen ein bisschen haltlos daher, und dass am Ende allen Tötens und abseits von Hektor, Achill und den anderen Helden vor allem Frauen die Opfer sind, wusste schon Euripides.
In Konstanz gelingt Konstanze Lauterbach mit dem zum Teil recht kruden Text-Geflecht ein Bilderbogen voller kämpferisch-verzweifelter Frauen; und das Konstanzer Ensemble hat neben dem Gast Susanne Böwe, ehedem in Leipzig, mit Susi With und Olga Strub, Sabrina Strehl, Monika Vivell und Jana Alexia Rödiger eine Menge von ihnen zu bieten. Zwischen ihnen kämpft sich Odo Jergitsch durch einen Abgrund an zynisch-pragmatischen Ausreden dafür, dass der Mann zum Schlächter wird. Das Stück – auch das beweist Lauterbachs Version – wird noch den Weg auf viele Bühnen nehmen: als großes Lamento der immer wieder von neuem geschundenen Frau.
Atropa – die Rache des Friedens
von Tom Lanoye
Deutsch von Rainer Kersten
Regie und Kostüme: Konstanze Lauterbach, Bühne: Hans-Martin Scholder, Musik: Achim Gieseler.
Mit: Odo Jergitsch, Jana Alexia Rödiger, Susanne Böwe, Susi Wirth, Olga Strub, Sabrina Strehl, Monika Vivell und anderen.
www.theaterkonstanz.de
Mehr zu Lanoyes Antiken-Bearbeitungen im nachtkritik-Archiv: Im Oktober 2009 besorgte Georg Schmiedleitner in Nürnberg die deutsche Erstaufführung von "Atropa". Bei Stephan Kimmig in München war Sandra Hüller "Mamma Medea" (Dezember 2007), bei Jorinde Dröse in Hamburg wurde sie von Leila Abdullah gespielt.
Kritikenrundschau
Fast immer ist Krieg Sache der Männer", schreibt Wolfgang Bager im Südkurier (1.12.) anlässlich von Konstanze Lauterbachs "Atropa". "Doch während Männer nur knapp die Hälfte der Menschheit ausmachen, ist die komplette Menschheit von seinen Auswirkungen betroffen." In Lauterbachs Inszenierung argumentierten beide Seiten "bis zum äußersten" und stark körpersprachlich. Odo Jergisch spiele "alles kraftvoll aus" und mime gleichzeitig "den jämmerlichen Versager", dessen Kriegsrhetorik dank der eingestreuten Bush- und Rumsfeld-Passagen "bedrückend aktuell und bekannt erscheint". Bühnenbildner Hans-Martin Scholder habe einen "wirkungsvollen Austragungsort für das Antikriegstribunal" geschaffen. "Neben der Wucht von Sprache, Geste und Gebärde sind es vor allem die Bilder, die diese Inszenierung in die Köpfe der Zuschauer einbrennt." Wie sich die Spieler bewegten, "ihre Anordnung auf dem Spiel- und Schlachtfeld", das mache die "ausgefeilte Regie-Leistung" Lauterbachs aus. Als Zuschauer könne man hier, "trotz einiger weniger Spannungslücken, die nachempfundene Wucht der griechischen Tragödie auf sich wirken lassen". "Eine starke Ensemble-Leistung, in der alle Darsteller bis zum Äußersten gehen"; neben Jergisch hebt Bager besonders die "überragende Susi Wirth als Helena" hervor.
Bei Lanoye/Lauterbach sei "der Wille der Götter (...) längst zur ureigenen Antriebsfeder des Menschen geworden", so Brigitte Elsner-Heller in der Thurgauer Zeitung (2.12.). "Macht und Mord" gingen hier in eins, "wobei die Männer, die als Täter vorgestellt werden, gar nicht zugegen sind. Bis auf Agamemnon, der ein schwankender Mann und Mensch ist". Die Bühnenlandschaft sei ein Meer, "die Frauenfiguren vom ersten Bild an wie Ertrunkene". Susi Wirth gebe der Helena "eine drahtige Zerbrechlichkeit, eine Widersprüchlichkeit, die sie auf der Scheidelinie zwischen privaten und öffentlichen Loyalitäten zeigt", eine der "stärksten Figuren". Die Schlacht sei laut, "das Stück durchaus textlastig, die hart konturierten Bilder der Inszenierung konkurrieren mit den Worten", dass jedoch "der größte Schmerz immer der lauteste ist, muss nicht immer stimmen". Im zweiten Teil werde die Inszenierung intensiver, da die "äußere Bewegung" nun beruhigt sei, "die innere kommt zum Tragen". Die von Lanoye beschriebene "Rache der Frauen" sei eine, "die ins eigene Fleisch schneidet" und die doch auch "Verweigerung gegenüber den Männern ist, die dennoch als Stärke verstanden werden will".
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