Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben - Esther Slevogt denkt über angestaubte Begriffe einer wichtigen Studie nach
Was für ein Potential!
von Esther Slevogt
11. Februar 2020. Die gute Nachricht: 86 Prozent der Bevölkerung stimmen weitgehend darin überein, dass die öffentliche Förderung von Theatern mit Steuergeldern auch in Zukunft in bisheriger Höhe erfolgen oder sogar noch erhöht werden soll. Die schlechte Nachricht: Nur ein Drittel der Bevölkerung denkt überhaupt je darüber nach, ins Theater zu gehen, Tendenz abnehmend. Je jünger die Leute, desto weniger fühlen sie sich von den Angeboten der Theater angesprochen.
Wie können Theater auf die sich wandelnde Kulturnachfrage reagieren?
Zu diesem Befund kommt eine Studie, die Birgit Mandel und Moritz Steinhauer vom Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim im Mai und Juni 2019 unternommen haben. Die der Studie zugrundeliegende Fragestellung war, in wieweit die Theater überhaupt noch über ausreichend Rückhalt in der Bevölkerung verfügen: ob letztlich also die Steuergelder für ihre Förderung weiterhin im aktuellen Umfang gesellschaftlich legitimiert sind. Denn die etwa 140 Theater in Deutschland gehören zu den am höchsten öffentlich geförderten Kultureinrichtungen im Land.
Die Hildesheimer Studie ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten und an der Münchner LMU koordinierten interdisziplinären Großprojekts "Krisengefüge der Künste", das sich mit Krisendiskursen in den unter Druck geratenen öffentlich geförderten Kultureinrichtungen auseinandersetzt, die sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Wertschätzung seit den Jahren der Wende zunehmend nicht mehr sicher sind. Das Institut für Kulturpolitik in Hildesheim hat im Kontext dieses Projekts die Untersuchung der Frage übernommen, wie die Theater auf den konstatierten Strukturwandel in der Kulturnachfrage reagieren und nun also erst diese Bevölkerungsbefragung präsentiert.
Nur ein Drittel der Bevölkerung ist also überhaupt an klassischen Theaterangeboten interessiert – darunter überdurchschnittlich viele Frauen, ältere Menschen, Hochgebildete und Großstadtbewohner, lautet das zentrale Ergebnis der Studie. Dass diese Leute grundsätzlich an Theater interessiert sind, heißt aber noch lange nicht, dass sie ein Theater auch besuchen. Doch wollen 86 Prozent der Bevölkerung, zu diesem Ergebnis kommt die Studie ebenfalls, dass es dieses Angebot gibt. Also auch die, die es gar nicht nutzen. Was für ein Potenzial!
Was ist mit Bildung gemeint?
Trotzdem spricht die Studie von ersten Rissen dieses positiven Theaterbildes bei den jüngeren Generationen, von einem sich abzeichnenden Rückgang des Theaterpublikums, von schrumpfenden Anspruchsgruppen im Bildungsbürgertum. Und manchmal werden auch veränderte Ansprüche der Kulturnachfrager*innen angetippt. Es gibt also Gründe genug, den Dingen mit Empirie auf den Zahn zu fühlen, Daten zu erheben, auf deren Basis sich ein Fahrplan in die Zukunft entwerfen ließe. Zum Beispiel zu fragen, ob in den Tiefen der Stadtgesellschaften (jenen sagenhaften 86 Prozent!) neben den schrumpfenden nicht noch unentdeckte Anspruchsgruppen schlummern, die vom Theater und seinem Angebot bisher gar nicht angesprochen werden, obwohl sie gebildet sind? Zu fragen, was Leute unter Kultur oder Bildung heute überhaupt verstehen, und ob das Theater in dieser Hinsicht noch ihren Anforderungen entspricht.
Doch solche Fragen stellt die Hildesheimer Studie nicht. Stattdessen hebt sie an, sich mit einem vage definierten Kulturnutzungsverhalten zu befassen. Dabei wird zwischen sogenannten klassischen Kulturangeboten, Nischen- und Subkulturangeboten, popkulturellen Veranstaltungen sowie Festen und Events unterschieden – also im Grunde ein leicht überholtes Genre- und Spartendenken zu Grunde gelegt, dessen Hybridisierung an vielen Theatern längst Gang und Gäbe ist: wo Opern- und Klassikerinszenierungen schon lange neben sub- und popkulturellen Angeboten oder Diskursveranstaltungen stehen und sich damit an ein zunehmend diversifiziertes Publikum richten, dessen Bildungs- und Erfahrungshorizont längst weit über die Grenzen des klassischen Bildungskanons hinausgewachsen ist.
Überhaupt stolpert man in dieser Studie immer wieder über angestaubte Begriffe. Doch insbesondere der ausschließlich an Formaten orientierte Theaterbegriff stört, da sich die wesentlichen Debatten im Audience Developement schon so lange stark an Inhalts- und Repräsentationsfragen orientieren. Was nützt ein Bildungskanon, wenn er nicht mehr allgemeinverbindlich ist? Was ist in diesem Kontext überhaupt mit Bildung gemeint, immerhin ein zentraler Parameter dieser Studie? Auch hier zerfällt ja die Gesellschaft, in der sich nicht nur Unteröffentlichkeiten, sondern auch Wissen und Expertentum immer weiter ausdifferenzieren und nicht notwendigerweise mehr auf einem kleinsten gemeinsamen Bildungsgrund stehen.
Da tut sich schon was!
Welche und vor allem wessen Geschichten werden auf dem Theater erzählt? Wer steht eigentlich auf der Bühne? Wird die diversifizierte Stadtgesellschaft auch vom Ensemble repräsentativ abgebildet? Das sind doch die Fragen, um die sich die wichtigen Debatten der Gegenwart drehen, und nicht, ob jemand ein, zwei oder dreimal im Jahr eine Oper oder ein Ballett sieht, ob jemand einfach-, mittel- oder hochgebildet ist. Ob jemand lieber Popkonzerte oder Stadtteilfeste besucht, grundsätzlich ein Kulturmuffel oder kulturinteressiert ist. Diese Studie legt Filter über ihr Thema, durch die nichts hindurchkommt oder aktuelle Problemstellungen sich überhaupt herausmodellieren liessen.
Erst am Ende kommt sie da an, wo sie hätte beginnen müssen: dass vielfältig in den Stadt- und Staatstheatern bereits Aktivitäten zu beobachten sind, sich für neue, diverse Publikumsgruppen zu öffnen und neue Aufgaben für die Stadtgesellschaft zu übernehmen. Hier jetzt ein paar Daten zu liefern, wie das besser gelingen könnte: das wär's gewesen, statt Plüschsessel und darin (noch) sitzende Bildungsbürger*innen zu zählen.
Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?
Zuletzt dachte Esther Slevogt über offene Fragen der Theaterüberlieferung nach.
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Man kann die Liste der Fragen beliebig fortsetzen. Zum Beispiel, ist nicht eher die Verlängerung der Seminare auf die Bühne angestaubt und missverständlich? Wissen die Leute, welche die Finanzierung der Theater begrüßen, aber nicht hingehen, überhaupt noch über was sie da reden? Und falls sie dann hingehen würden, deckte sich ihr Theaterbegriff mit dem, was sie dort vorfinden? Hat sich das Theater nicht viel zu weit von sich selbst entfernt?
Leider wird die Datengrundlage nicht mitgeliefert. Die Methodenbeschreibung läßt mich allerdings zweifeln, ob die getroffenen Aussagen wirklich so bombensicher sind. Überhaupt kommt mir der Anteil von 10% der Bevölkerung die im letzten Jahr mehr als dreimal (!) ein Theater (Oper, Operette, Ballett, Schauspiel) besucht haben will, außergewöhnlich hoch vor. Überschlägig: bei 69 Mio. Deutschen über 18 (die hier repräsentativ befragt wurden) und genau 4 Besuchen dieser 10% wären das 27,6 Mio. Besuche. Die Statistik des Deutschen Bühnenvereins (die natürlich nicht alle Theater beinhaltet, aber dafür auch andere Sparten wie Musical, Figurentheater, Konzerte) nennt insgesamt rund 20 Mio. Besuche pro Spielzeit. Für die genannten Oper, Operette, Ballett und Schauspiel kommt die DBV-Statistik auf 13,7 Mio. Besuche, Kinder- und Jugendtheater mit eingerechnet, obwohl dort, wie auch in den anderen genannten Sparten vermutlich auch einige unter 18 gezählt werden.
Diese Diskrepanz könnte man in einer wissenschaftlichen Studie schon ansprechen oder klären. Und wie gesagt, solange nur mit Prozentzahlen argumentiert, in der Methodenbeschreibung aber wolkig von Anpassungen wegen der Befragungsart gesprochen wird, auch unklar ist, wie die genauen Zuschreibungen zu Bildungsgrad, etc zustande kommen, sollte man diesen Zahlen vielleicht nicht zu große Bedeutung zumessen.
Aber das passiert natürlich, weil ein Großteil der Studie sich dann in Thesenbildung ergeht. Hmm. Da finde ich dann diese Kolumne ehrlicher, hier werden ja die wichtigen Themen komplett ohne Datengrundlage definiert, eben als Meinung. Das ist ok.
sehr interessant, was Sie schreiben, aber auch sehr große Fragen aufwerfend.
Das sind ja Abermilionen Unterschiede, zwischen 27,6 und 13,7. Oh-oh-oh.
In der Tat. Zumal ja außerdem noch von 15% der Bevölkerung (ab 18) gesprochen wird, die einmal, 16% die zwei- bis dreimal im Theater waren. Das wären überschlägig noch einmal zusätzliche 32 Mio.(!) Theaterbesuche. Insgesamt also milchmädchenberechnete fast 60 Mio. Theaterbesuche versus 20, bzw. 13,7 Mio. aus der DBV-Statistik (die allerdings auch ganz sicher nicht genau ist, aber dann doch eine ganz andere Datenbasis hat). Vielleicht habe ich mich aber auch verrechnet?
Aber immerhin wissen wir jetzt, daß 86% der Meinung sind, daß die Förderung in der jetzigen Form erhalten oder ausgebaut werden soll. Das ist doch ein gutes Ergebnis!
ja, das Ergebnis ist gut, aber diese Zahlen sind allesamt komisch und stimmen mich mißtrauisch. Wie die Wahlergebnisse früherer Regime.
Es gibt 80 Mio Deutsche, aber 160 Mio gehen jede Woche ins Theater.