Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben - Esther Slevogt fragt, wie das Theater als Hygienemodell noch funktionieren soll
Entgrenzung ist jetzt tabu
von Esther Slevogt
9. Juni 2020. Die Theater fangen leise wieder zu spielen an. Nach Wochen der Schließung und der Beschränkung aller künstlerischen Aktivitäten auf den digitalen Raum finden wieder Vorstellungen auf physischen Bühnen statt. Vor physisch anwesendem Publikum. Mit Kritiken, die darauf reagieren.
Und trotzdem wird jetzt ein Dilemma noch einmal überdeutlich, das bereits in den letzten Wochen das Schreiben (und Nichtschreiben) stark beeinflusst hat: Wie können künstlerische Arbeiten bewertet und eingeordnet werden, die nicht frei in der Wahl der Mittel sind? Deren ästhetische und formale Entscheidungen aus der Not geboren sind und nun darüber hinaus auch noch von Hygiene- und Arbeitsschutzbestimmungen diktiert werden? Von Regelungen über Sicherheitsabstände, die Folgen für Sprech- und Spielweisen haben, und auch das Publikum dem Kunstwerk in einer Weise zuordnen, die nicht auf künstlerischer Absicht, sondern auf Hygienevorschriften gegründet sind. Welche Maßstäbe können hier von der Kritik überhaupt angelegt werden?
Dilemma der Kunst, Dilemma der Kritik
Noch als die Krise immer uferloser und damit auch die Folgen für die Theaterlandschaft immer unabsehbarer wurden, hatte die Kolumnistin damit begonnen, erste enttäuschte Fragen an die so ohnmächtig agierende Szene in sich zu unterdrücken. Zum Beispiel die Frage, warum eigentlich die Kunst statt als Akteurin nur als gigantischer Pflegefall öffentlich in Erscheinung tritt.
Und wie erst sollten all die ungelenken Versuche beurteilt werden, mit denen Künstler*innen, Gruppen und Institutionen im Internet um Sichtbarkeit und Kontakt mit dem ausgesperrten Publikum kämpften? Hat das Publikum die Theater überhaupt in der gleichen Weise vermisst, wie die Künstler*innen das Publikum? Wo schließlich blieben die Stimmen, ja Demonstrationen, die eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs forderten? War das Theater wirklich so systemrelevant, wie auch an dieser Stelle zu Beginn der Krise geschrieben und auch allgemein immer lauter geschrien worden ist?
Alte Aufschrei-Sehnsüchte
Doch je fragiler und zerbrechlicher sich das ganze System in der Krise zeigte, desto massiver türmten Zweifel sich auf, ob hier nicht drängende Fragen und Kritik erst einmal zurückgestellt, ja unterdrückt werden müssten, aus Solidarität mit der schwächelnden Kunstform, die mit Kritik schließlich nicht noch schwächer gemacht werden sollte?
Der Philosoph Michel Foucault hat in dem berühmten Kapitel "Der Panoptismus" in seinem Buch Überwachen und Strafen beschrieben, wie am Ende des 17. Jahrhunderts Verordnungen zur Eindämmung von Pandemien (wie der Pest) zur Disziplinarmacht der beginnenden Moderne wurden, in dem sie die Gesellschaft und ihre (städtischen) Lebensräume formatierten.
"Vor allem ein rigoroses Parzellieren des Raumes: Schließung der Stadt und des dazugehörigen Territoriums (...) Aufteilung der Stadt in verschiedene Viertel, in denen die Gewalt jeweils einem Intendanten übertragen wird", werden diese Maßnahmen im ausgehenden 17. Jahrhundert 1975 von Foucault beschrieben (S.251f). "Müssen Leute unbedingt aus dem Haus gehen, so geschieht es nach einem Turnus, damit jedes Zusammentreffen vermieden wird. (...) Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. (...) Auf die Pest antwortet die Ordnung, die alle Verwirrungen zu entwirren hat: die Verwirrungen der Krankheit, welche sich überträgt, wenn sich die Körper mischen, und sich vervielfältigt, wenn Furcht und Tod die Verbote auslöschen."
Folgen für die Gesellschaft
Die so gründlich formatierten und von den Regeln der Vernunft beschnittenen Lebensräume, wurden – das ist zwischen den Zeilen deutlich mitzulesen – schon kurz darauf zur Grundlage nicht nur für den modernen Überwachungsstaat sondern auch für die arbeitsteilig strukturierte Gesellschaft, wie sie sich mit der Industrialisierung herauszubilden begann.
In jener Zeit, schreibt Foucault weiter, habe es eine ganze Literatur gegeben, die das Fest erträumte: "Die respektlose Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der festgelegten, anerkannten Identitäten, unter denen eine ganz andere Wahrheit der Individuen zum Vorschein kommt." (S. 254). Und es war ja wirklich so, deshalb zitiere ich das hier so ausführlich, dass danach, also im 18. Jahrhundert, das Theater damit begann, sich zum Ort schlechthin zu entwickeln, an den die von der Vernunft disziplinierte Gesellschaft ihre Sehnsüchte nach Entgrenzung und Spiel delegierte.
Sieg der Hygiene?
Was aber, wenn das Theater nun selbst zu einem Hygienemodell geworden ist? Wie soll die Gesellschaft nach einem solchen Theater denn noch Sehnsucht entwickeln? Und wie geht die Kritik mit solchem Theater um? Schweigt sie betroffen und wartet auf bessere Zeiten? Wirft sie ihre Kriterien über Bord, um das System zu schützen? Wäre aber ohne Kritik dieses System nicht erst recht verloren? Wie soll es jetzt also weitergehen?
Und noch eine andere Frage gesellt sich aus dem Hinterhalt der Selbstzensur dazu: Hat das Theater nicht schon lange vor der Krise seinen existenziellen Kern verloren, als es begann, sich in den Hinterlassenschaften (und de-industrialisierten Landschaften) der inzwischen auch schon wieder untergegangenen Welt des Fordismus (nicht nur) mental einzunisten und hier als eigener Wirtschaftszweig sein Auskommen zu suchen?
Dem aber hat die Krise nun den Boden entzogen. Droht also der Kultur, die sich in den letzten Jahren vielleicht eine Spur zu willfährig den Gesetzen der Kreativwirtschaft unterwarf, daher nun ein ähnlich großflächiges Ruinentum wie dem entindustrialisierten Ruhrgebiet oder einstigen Zentren der Automobilproduktion Marke Detroit? Fragen, die ich hier voller Sorge um diese Kunstform als Bedingung von Theaterkritik niederschreibe. Und nicht wirklich eine Antwort weiß.
Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?
Zuletzt rief Esther Slevogt den Künstler*innen und Theaterschaffenden zu: Ihr seid systemrelevant!
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Aus meiner völlig unmaßgeblichen Sicht von schon beachtlich weit her ist das so:
Nein, ganz eindeutig, das Publikum hat das Theater bei weitem nicht in dem Maße vermisst, wie das Theater das Publikum zu vermissen mittlerweile auf allen Kanälen vorgibt. Das Theater hat das Publikum schon sehr lange gar nicht mehr vermisst, denn es war im Wesentlichen sein eigenes festivalistisches Publikum und wo nicht, ist es sich in pädagogischer Geste, das Publikum nach seinem Willen zu formen und zu bilden, ergangen.
Das Publikum ist aber kein Kind. Selbst bei Kindern sollte man sich m.E. hüten, sie nach dem eigenen Willen zu formen und bei der Bildung ihre Vor-Bildung außer acht zu lassen...
Ja, das Theater hat schon lange vor der so genannten Krise seinen existenziellen Kern verloren, sich eingenistet in den de-industrialisierten und exklusivurbanen, stiftungsheischenden Landschaften und sich willfährig den Gesetzen der Kreativ-Wirtschaft unterworfen. Es ist jetzt derart um Aufmerksamkeit zappelnd ohn-mächtig, nicht weil es zu wenig relevant für das ökonomische Staatssystem ist, sondern, im Gegenteil, weil es viel zu lange zu anerkannt systemrelevant agierte. Das Theater wie es war, hat sich abgeschafft durch DAS Theater als solches, wie es immer existierte und existieren wird, solange es Menschen geben wird.
Nein, es ist nicht die Not, aus der heraus die Phantasie, die jene Not zu überwinden sucht, ehe sie überwunden ist, etwa un-künstlerische Mittel schafft. Das war und ist immer so, dass innere wie äußere Nöte Menschen in jene Bereiche der Utopie treiben, in denen die Künste, die zuvor sachte durch Anlagen und Begabungen genährt wurden, nahezu explodieren. - Unkünstlerisch ist die Unterwerfung künstlerischer Mittel unter Vor-Schriften und staatlich erlassene Regeln, die dazu auf wackligen Erkenntnissen oder mitunter dubios erscheinenden Einflussnahmen gründen.
Das bringt die Kunstkritik, namentlich die Kritik der Darstellenden Künste, die mit sich kollektivierenden Körpern arbeiten, in eine große Schwierigkeit: Sie KANN nicht am Gegenstand kritisieren, ohne nicht auch sehr genau den Sinne und Unsinn von Vorschriften zu befragen und zu erörtern; die Seriösität oder Korrumpierbarkeit von Einflussnahmen auf VorschriftserlasserInnen zu befragen.
Und zwar, weil es einen systemischen Zusammenhang gibt zwischen echter Not und Entstehung neuer Kunstmittel sowie zwischen unnötiger, künstlich erzeugter Not und Beschränkung von bekannten Kunstmitteln bzw. Behinderung neu entwickelter Kunstmittel. Ein systemischer Zusammenhang, der bei der Kunstbetrachtung, namentlich der Theaterkunst, nicht ignoriert werden kann.
Wird dieser systemische Zusammenhang ignoriert, geht natürlich auch die Kunst-Kritik zugrunde. Also die, die wir real in der Masse haben. Sie geht dann nicht zugrunde aus plötzlich entstandenem Mangel an Kunst, sondern aus Mangel an eigener komplexer Kritikfähigkeit.
Sie geht dann also zugrunde an DER Kritik, jener DENKbewegung, die wir immer hatten und immer haben werden, solange es Menschen gibt.
Das Ahnen dieser humanoiden Wahrheit erschüttert gerade die Selbstgewissheit der Medien - ALLER Medien - auf das Recht und die Macht der Präsentationshoheit.
Und das ist auch gut so.
Danke für eine wieder einmal in ihrer gleichermaßen Schlichtheit wie Brillanz ausgewogene Slevogt-Kolumne!
Nein, außer Geld und Lebensgrundlagen hat die Kunst und das Theater an der Quarantäne nichts verloren. Und gerade darum und nicht um das künstlerische geht es doch auch im Hilferuf der Kulturschaffenden. Nicht nur der großen Häuser, sondern auch all der freischaffenden Künstler*Innen, die aus finanzieller Not in noch größere finanzielle Not gestürzt sind.
Wer sich die Theaterversuche der letzten Monate wirklich anschaut und weiter geht als die 'Live'-Streams zu verschreien, die doch abertausenden Menschen einen Zugang zu einer verschlossenen Welt ermöglichen und erleichtern, ihr isoliertes Dasein zu füllen, der/die sollte doch relativ schnell merken, wie viel sich da tut. Wie schnell sich komplett neue, noch nie zuvor gesehene Versuche Theater zu betreiben öffnen. Und nein, noch nicht einmal drei Monate darf man sich an komplett neue Ufer begeben bevor den alten schon die wehleidigen Rufe zugeworfen werden. Wie allseits bekannt, hat sich das (post-(post-(post-)))moderne Theater ja auch in reiner Freiheit der Mittel und innerhalb von 7 Tagen so etabliert, wie wir es kennen. Und neues war eigentlich schon immer ziemlich blöd. Ihre Kollegin Sophie Diesselhorst hat sich da vor ein paar Tagen schon etwas mehr Mühe gegeben. (https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=18214%3Ain-bearb-am-virtuellen-lagerfeuer-wie-die-theater-in-der-corona-krise-videokonferenz-apps-als-spielwiese-entdecken&catid=101&Itemid=84&fbclid=IwAR19xovW6hKqLyIg86NrnKONOv3SzOdsQ_ZLysMutldM4XH5DMttUnI2ZFQ)
Aber dies alles mal ganz beiseite, da reden wir von der Kunst. Lassen Sie uns doch mal von der Kritik reden - natürlich darf und muss die Kritik in dieser Zeit kritisieren wie je zuvor. Es war doch der hier zitierte Foucault selber, der sich ganz explizit mit der wichtigen Rolle der Kritik auseinandergesetzt hat. Was ist das denn bitte für eine Kritik, nein, was ist das den für eine Einstellung der Kritikerin, sich zu fragen, ob sie noch kritisieren darf? Wer aus Angst mit der Kritik zu schaden vergisst zu kritisieren, hat den Sinn aus den Augen verloren. Hat das ganze Unterfangen, von vornerein als sinnlos aufgegeben und sich in die nostalgische Passivität gestürzt. Die Kritik ist doch das zweite Organ der Schaffenden, die Antithese zur These, der Spiegel vor dem Waschbecken. Soll der Spiegel sich verdecken, wenn ein Pickel im Gesicht steht?
Vielleicht hilft der Blick auf eine Ikone der deutschen Kritik. Man mag zu Marcel Reich-Ranicki stehen wie man will, aber eines kann man ihm nie vorwerfen: dass er jemals Angst hatte zu kritisieren. Er mag unhöflich und rücksichtslos gewesen sein. Aber sich ernsthaft mit seinen Verrissen auseinanderzusetzen, hat keinem/keiner einen Abschnitt getan.
Darum will ich Sie, Frau Slevogt, doch wirklich ernstlich fragen:
Was ist Kritik?
Weiter so, Esther, auch wenn es weh tut.
https://www.berlin.de/sen/kulteu/aktuelles/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.942405.php
Jetzt muss uns Herr Lederer nur noch sagen, wieviel Geld er durch
die Absagen von Theatertreffen, Modemesse und Flick-Collection eingespart hat, um die Summe mal eben mal komplett in Berlins größtes Open-Air-Theaterfest reinzuschieben. Und wenn es dann kein verregneter Sommer wird und niemand auf die Idee verfällt, den alten Dercon-Stuss fürs Tempelhofer Feld aus der Schublade zu holen, ist Berlin trotz aller Unkenrufe wieder ganz weit vorne. (Die Motzköpfe können ja stattdessen zur ART Basel fahren).